Bauwerk

Oberstufenschulhaus
Valerio Olgiati - Paspels (CH) - 1998

Wie ein Monolith

Valerio Olgiatis Schulhaus in Paspels

In den vergangenen Jahren erregten Schulneubauten im Kanton Graubünden mehrfach überregionale Aufmerksamkeit. In Paspels setzte Valerio Olgiati diese Reihe mit einem Meisterwerk fort. Der demonstrativen formalen Kargheit des Gebäudes steht eine ausgefeilte Grundrisslösung gegenüber, die zu überraschenden Raumsituationen führt.

5. Februar 1999 - Mathias Remmele
Im Domleschg, nicht weit von Thusis, doch abseits der Hauptroute Chur-San Bernardino, liegt, am Südwesthang des Hinterrheintals, das kleine Dorf Paspels. Dort steht, ganz oben, am Randes des Ortes, wo die Felder und Wiesen beginnen, die neue Schule. Ein Solitär, der absichtsvoll Distanz hält zum benachbarten alten Schulhauskomplex, mit dem ihn bloss ein unterirdischer Gang verbindet. Ein rechter Brocken ist dieser Neubau. Ein Monolith, ein scharfkantiger Betonquader, der unvermittelt drei Stockwerke hoch aus dem Acker ragt - sehr für sich stehend, ganz in sich ruhend. Wie ein Fremdling wirkt er freilich nicht. Bereits sein Pultdach weist, exakt der Neigung des Hanges folgend, auf Ortsverbundenheit hin. Und bald einmal weckt seine monolithische Form Assoziationen an jene trutzigen Steinbauten, die man da und dort im Bündnerland findet. Oder, noch naheliegender, an die Burgen des Domleschg, die den mächtigen, seitlich aus dem Gebäudekörper ragenden Wasserspeier inspiriert zu haben scheinen, über den das gesamte Dach entwässert wird. Auch die rauhen Sichtbetonfassaden, auf denen sich deutlich die Spuren der Schalungsbretter abzeichnen, passen in diesen Kontext. Belebt werden ihre Flächen durch teils bündige, teils leicht vertiefte Fensteröffnungen, die in dunklen, auffällig breiten Bronzerahmen stecken. Die Grösse der Fenster deutet auf die Dimension der dahinterliegenden Räume, ihre spannungsreiche, stockwerkweise gegeneinander versetzte Anordnung lässt eine innere Regelhaftigkeit vermuten. Von aussen betrachtet, bleibt diese aber ebenso undurchsichtig wie die Nutzung des Gebäudes, dessen nach Südwesten, zum Dorf hin liegende Eingangsfassade eher an die strenge Würde eines alten Palazzo als an eine Schule erinnert.

Verzogen und verdreht

Wer den mittig angeordneten, durch ein schlichtes Vordach deutlich markierten Eingang passiert, gelangt zunächst in einen eher spärlich beleuchteten, spartanisch anmutenden Flur. Flankiert von fensterlosen Sanitär-, Lager- und Versammlungsräumen, nimmt dieser die gesamte Gebäudetiefe ein und dient, mit schlichten Holzbänken möbliert, als Garderobe. Eine breite, fast unmerklich aus der Achse verschobene Treppe führt in die beiden Obergeschosse, wo der Bau erst seine wesentlichen, auf einer raffinierten Grundrisslösung beruhenden Qualitäten auszuspielen beginnt. Dem Grundriss liegt die Figur eines Quadrates zugrunde. In seinen Ecken placierte der Architekt die Räume, die es pro Stockwerk unterzubringen galt: drei Klassenzimmer sowie einen deutlich kleiner bemessenen Vorbereitungsraum für die Lehrkräfte. Durch diese Anordnung ergab sich ein annähernd kreuzförmiger, jeweils bis an die Aussenwände des Gebäudes reichender Erschliessungsraum, der sich neben den schmalen Lehrerzimmern zu einem internen Pausenbereich ausweitet.

Interessant wurde diese einfache Grundrissfigur freilich erst durch einen fein kalkulierten Kunstgriff. Olgiati nämlich verzerrte das Quadrat. Er zog und stauchte so lange an seinen Ecken, bis sie allesamt leicht vom rechten Winkel abwichen. Im Höchstfall zwar nur um - von aussen kaum wahrnehmbare - fünf Grad, doch das genügt, um das innere Raumgefüge merklich aus den Fugen geraten zu lassen. Die zuvor parallelen Seitenwände der auf den Mittelpunkt des Gebäudes ausgerichteten Stichgänge, die sich nun bald verengen, bald auseinanderstreben, dynamisieren den Raum zwischen den Klassenzimmern. Durch diese scheinbar simple, tatsächlich aber äusserst ausgefeilte Grundrissmanipulation entsteht in den Fluren der Schule eine ungewöhnliche, irritierende, ja fast geheimnisvolle Raumsituation. Die Einheitlichkeit des Materials (Boden, Wände und Decke sind aus Beton) und die Belichtung - von allen vier Gebäudeseiten fliesst, je nach Tages- und Jahreszeit wechselnd, durch grosse Fenster die Helligkeit ein - steigern die Wirkung dieser Rauminszenierung erheblich.

Doch statt den aus dem verzogenen Grundriss resultierenden Effekt in den beiden prinzipiell gleichartig aufgebauten Obergeschossen einfach nur zu wiederholen, sann Olgiati nach einer Variationsmöglichkeit. Er fand sie, indem er die Lage und Ausrichtung der Klassenzimmer und des Vorbereitungsraumes veränderte. Der Grundriss des zweiten Obergeschosses erscheint so gegenüber dem des ersten gleichsam wie verdreht. Während im Inneren des Gebäudes eine Reprise der Raum- und Lichtkonstellation mit umgekehrten Vorzeichen stattfindet, spiegelt sich die Drehbewegung an der Fassade in der stockwerkweise versetzten Fensteranordnung.

Architektonische Recherche

In einem markanten Gegensatz zur kargen, vom kühlen Beton geprägten Atmosphäre der Flure präsentieren sich die innen zur Gänze mit Lärchenholzbrettern verkleideten - oder sollte man sagen: ausgefütterten - Klassenzimmer fast so heimelig wie alte Bündnerstuben. In diesen Holzkisten wirken Wandtafel, Waschbecken, Leuchtstoffröhren und Möbel wie temporäre Applikationen, die die Geschlossenheit des Raumes so wenig wie nur irgend möglich stören sollen. Ihren Hauptreiz aber verdanken die Schulstuben ihren Öffnungen. Ein die gesamte Breitseite des Raumes einnehmendes, zu Boden und Decke im gleichen Abstand verlaufendes Fensterband ermöglicht einen ungestörten und weiten, gleichwohl gerichteten Ausblick, der auf seine Weise die Verbundenheit der Schule mit ihrer Umgebung und der Natur betont.

Wie beträchtlich sich die Impression eines Panoramablickes durch Rahmung und Fokussierung noch steigern lässt, hat zuletzt Jean Nouvel in Luzern gezeigt. In Paspels, im unteren Pausenbereich der Schule, beweist Olgiati, dass auch er diesen Effekt zu nutzen weiss. Mit fast schon physischer Intensität dringt hier das Bild des hinter dem Haus sanft ansteigenden Hanges durch ein mannshohes, breitgelagertes Fenster ins Innere.

Valerio Olgiati, der sich mit der Schule in Paspels gewissermassen in die erste Liga der Schweizer Gegenwartsarchitektur katapultierte, unternahm hier eine neue, womöglich zukunftsweisende architektonische Recherche. Angesichts eines schmalen Budgets arbeitete er - sieht man von dem «Luxus» der bronzenen Fensterrahmen einmal ab - ausschliesslich mit einfachen, der Architektur ureigensten Mitteln, mit Material, Raum und Licht. Im Mittelpunkt seines Interesses aber stand die Struktur des Gebäudes selbst, das Gefüge der Räume und die ihr innewohnende Logik. Die folgenreichen Grundrissmanipulationen, die das wichtigste Ergebnis seiner Untersuchung darstellen, rühren an die konventionelle Wahrnehmung und erschüttern herkömmliche Erwartungshaltungen. Sie sind der Auslöser für jene Irritation, die Paspels so faszinierend macht. Daneben erscheint es fast schon zweitrangig, dass Olgiati in der Schule die Qualität der wenigen eingesetzten Materialien bis zum äussersten ausreizt, dass er sich meisterlich auf das Arbeiten mit «Bildern» versteht und dabei sowohl regionale als auch internationale Anregungen zu einer in sich stimmigen und ihrerseits bildmächtigen Synthese zu verbinden weiss.

Kaum zu entkräften ist freilich der Einwand, dem Architekten sei bisweilen die ästhetische Wirkung seiner Raumschöpfung wichtiger gewesen als praktische Erwägungen und die Bedürfnisse der Nutzer. Über die Menschenfreundlichkeit der fast unentrinnbaren Betonwelt in den Fluren der Schule und ihre akustischen Zumutungen jedenfalls liesse sich trefflich streiten. Aus Paspels hört man indessen keine lauten Klagen. Selbst Skeptiker, heisst es, zollten der neuen Schule Respekt. Dass ein so innovativer und unkonventioneller Bau hier überhaupt realisiert werden konnte, spricht für das im Bündnerland praktizierte Wettbewerbswesen, für die Offenheit der Bergler und die Überzeugungskraft des Architekten.

[Vor kurzem erschien eine Publikation über die Schule: Valerio Olgiati: Paspels. Edition Dino Simonett, Zürich 1998. 64 S., Fr. 48.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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