Bauwerk

Volks- und Hauptschule Leberberg
Henke Schreieck Architekten - Wien (A) - 1996
Volks- und Hauptschule Leberberg, Foto: Gert Walden
Volks- und Hauptschule Leberberg, Foto: Margherita Spiluttini

Das Sinnliche des Sachlichen

Die Volks- und Hauptschule von Dieter Henke und Marta Schreieck in Wien-Simmering setzt markante Standards: Attraktivität und Funktion unter einem Dach.

7. Dezember 1996 - Walter Chramosta
Warum soll das Projekt der Moderne gescheitert sein, wenn der Stil nicht haltbar ist? Adorno selbst hat doch gemeint, man könne über die Sachlichkeit hinaus, und zwar indem man ,noch sachlicher‘ sei. ,Noch sachlicher‘ sein kann nur heißen: den komplexen Sachzusammenhängen, den Verästelungen der Gedankenreihe nachzugehen, statt eine flache Disziplin durchzuhalten. ,Noch sachlicher‘ sein heißt aber auch - Adorno fordert es ausdrücklich -, dem,Konsumierenden‘ - also dem Benützer - und seinen (wenn auch ,falschen‘) Bedürfnissen zum Recht zu verhelfen, den Widerspruch zwischen Rationalität und Humanität aufzulösen."

Hermann Czech hat kürzlich bei der Präsentation seiner neu edierten Schriften die 1963 in Wien formulierte Gedankenperspektive Theodor W. Adornos lesend ins Gedächtnis gerufen, nach der der Funktionalismus als „unverlierbare historische Stufe der Architektur“ durch Versachlichung eine damals wie heute nicht selbstverständliche Entwicklungschance hat.

Die Moderne der Architektur hat als „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ bis in die siebziger Jahre eine böse Spur in den Städten und den Köpfen hinterlassen, deren Tiefe einige exaltierte Umwege zur Befreiung nötig gemacht hat. Auch wenn die formale Ebene der Postmoderne noch immer der gestalterische Standard bei indolenten Bauträgern ist, die Vordenker der Architektur befassen sich längst damit, das „Projekt der Moderne“ wiederzubeleben.

Daß dabei gerade Hermann Czech mit seiner „Selbstkritik“ die Fahne der Moderne hochhält, mag angesichts seiner Wiener Bauten, die allesamt keine stilistische, sondern eine gedankliche Nähe zur modernen Architektur erkennen lassen, überraschen.

Gerade der konkrete Fall „Schule“ in Wien, an dem sich kulturelle und soziale Strebung einer (Stadt-)Gesellschaft messen lassen, zeigt, wie selten Logik und Moral den Schulbau zum Akt der Aufklärung machen. Die Schule von Dieter Henke und Marta Schreieck am Leberberg im elften Wiener Bezirk ist der Beweis dafür, daß moderne Architektur heute nicht in einer bloßen Formkontinuität, bezogen auf Überväter wie Gropius oder Mies van der Rohe, wurzeln kann, sondern nur in einer Reformkontinuität, die von der Romantik ausgeht.

Die Moral des Baus von Henke/ Schreieck: die immanenten Logiken des Orts, des Ganztagsschulbetriebs, des kindlichen Daseins zu verstehen und zum Besseren wenden zu können.

Was äußerlich unzweifelhaft als architektonischer Höhepunkt einer zweifelhaft detaillierten Quartierkonzeption, eines in Dichte und gestalterischer Instrumentierung überzogenen Stadtteils wirkt, ist innerlich ein weit über den lokalen Wirkungskreis der Schule hinaus bedeutsamer Werkraum für moderne Menschen. Die Doppelschule in der Svetelskygasse ist ein Bildungsbau, der stillen Anschauungsunterricht in Architektur erteilt. Sie hebt sich nicht nur durch ihre Größe (13 Volksschul-, zwölf Hauptschul- und zwölf Tagesschulklassen, eine Dreifachturnhalle) von der Mehrzahl der Realisierungen im „Schulbauprogramm 2000“ ab, sondern auch durch ihren typologischen Gehalt, die architektonische Konsequenz und die städtebauliche Einbettung.

Von Stadtrat Hannes Swoboda als eines der Kernanliegen seiner Amtszeit, gleichermaßen von seinem hohen sozialen und stadtplanerischen Impetus getragen, tituliert, bleibt die qualitative Leistung des Schulbauprogramms doch deutlich hinter der quantitativen zurück. So vorbildlich es in der Festschreibung der Ganztagsbetreuung, der Integration von Behinderten, der Ausstattung der Sonderunterrichtsbereiche ist, so beliebig bleiben die gestalterischen Mindeststandards. Banale Stangenware kommt ebenso zum Einsatz wie manche baukünstlerische Pretiose, ohne daß versucht wird, einer breiteren Öffentlichkeit die Vorzüge und Nachteile der divergenten Lösungen zu erklären.

Die Frage nach dem Schultyp der Zukunft wurde bei der allzu rasch eingeleiteten Bauoffensive gar nicht erst aufgeworfen. Riskantere Visionen von einer Schule, die gleichzeitig Lernort für Kinder oder Erwachsene und stadtteilbezogenes Kulturzentrum, vielleicht sogar Teil einer viel weiter gehenden Funktionsballung mit Kommerz, Kult und Verwaltung ist, waren bisher nicht umzusetzen.

Wenn also Henke/Schreieck dem Raum- und Funktionsprogramm ein Maximum an Attraktivität abgewinnen, dann bleibt trotzdem offen, was sie erreicht hätten, wenn der Bauplatz größer und generelle Fernziele des Schulbaus deutlicher gewesen wären, ohne das Spezielle der Schulraumorganisation bis ins Detail festzuschreiben. Das Architektenduo hat für den Leberberg eine „strukturelle Hierarchie“ von Räumen entworfen, die gewährleistet, daß für die etwa 750 Schüler eindeutige Orte der Individualität und Gemeinschaft mit übersichtlichen Verknüpfungen entstehen.

Schon mit der glasgedeckten Rampe zum Eingang im ersten Obergeschoß wird klargestellt, daß es sich um ein öffentliches Bauwerk handelt, um eine zentrale Anlage, die sich anbietet, für den Bezirk über die Schulnutzung hinaus Aufgaben zu übernehmen. Emporgehend gewinnt man nicht bloß einen Überblick über die teils noch offene Stadtlandschaft, sondern auch Einblick in die Innenräume.

Das zweiseitig verglaste zentrale Bindeglied der beiden Schulen ist einerseits Pausenhalle und beherbergt die Bibliothek; andererseits vermittelt es den Einstieg in zwei Gangsysteme, die die nach Norden orientierten Bereiche für Sonderunterricht und Verwaltung erschließen. Die Blickachsen sind in den Gängen offen, sodaß sich die Erschließungswege optisch im Freien fortsetzen.

Rechtwinkelig nach Süden schließen sich vier Pavillons mit je drei Klassen und einem Integrationsraum an. Diese Räume öffnen sich zum Park und zu den Halbhöfen, fassen aber einen Erschließungsbereich ein, der mehr ist als ein Gang. Jener im Zuschnitt einer Klasse ähnliche Bewegungsraum ist gleichzeitig ein Aufenthaltsraum.

Durch die reichliche Belichtung dieser Zonen über die Fassade oder deren direkte Öffnung über Balkone in die tieferliegende Pausenhalle entstehen auch für Kinder überschaubare Rückzugsnischen. Diese Anordnung von vier Unterrichtsräumen um einen mehrfach nutzbaren Zugangsbereich ist eine typologische Innovation, die das „Schul-bauprogramm 2000“ ansonsten nicht kennt. Henke/Schreieck weisen dem Gang somit eine neue Qualität zu, fügen die angrenzenden Klassen zu einer Nachbarschaft, in der sich jeweils ein Jahrgang zusammenfinden wird.

Noch markanter ist das reformatorische Bestreben der Architekten in der von ihnen entwickelten Standardklasse, die entweder einseitig oder zweiseitig belichtet ist. Besonders letztere, über Eck zum Stadtgrün geöffnete Raumfigur kann als beste Ausprägung eines Unterrichtsraums gelten, den das Schulbauprogramm in seinen ersten fünf Jahren hervorgebracht hat.

Selbst für Kinder ist der Blick über das - nur 60 Zentimeter hohe - Parapett gut möglich. Die Außenwände sind darüber gänzlich verglast, zu einem großen Teil mit feststehenden Scheiben, die von schmalen Profilen gehalten werden. Die Belüftung ist durch einige wenige Flügel sichergestellt, die Behaglichkeit im Sommer durch einen außenliegenden Sonnenschutz.

Die Gesamtwirkung: ein Klassenraum von hoher Transparenz und Klarheit, perfekt belichtet und daher in seiner Möblierbarkeit nicht präjudiziert, allen jetzigen und zukünftigen Vermittlungsformen gewachsen. Die Einbauschränke verstärken in ihrer asketischen Machart noch die Anmutung, die sich so mancher Architekt von seinem Wohn- oder Arbeitsraum wünschen würde.

Henke/Schreiecks Definition eines Klassenraums, wie auch der vorgelagerten Zugangszone, verschiebt die bisherigen Maßstäbe des Schulbaus ein wenig, aber merklich nach oben. Die disziplinierte Materialität der Schule, von den Eigenfarben der Baustoffe getragen und von wenigen Farbakzenten betont, unterstützt den zeitlosen Ausdruck zusätzlich.

Auf dem durch den Ganztagsbetrieb angezettelten Weg vom monofunktionalen Schulbau zum mehrfach nutzbaren Tageswohnhaus für Kinder und zum Ertüchtigungsort für Erwachsene ist man durch dieses Konzept ein Stück weitergekommen. Die Frage, wie weit eine Architektur ihrer Zeit vorauseilen kann, um noch genutzt werden zu können, stellt sich kurz nach der Inbetriebnahme nicht mehr. Kinder und Lehrer haben die Optionen dieses Baus verstanden und interpretieren ihn bereits mehr oder weniger respektvoll.

Ob die Stadtpolitik und die kommunale Beamtenschaft bereit sind, die Errungenschaften des Baus von Henke/Schreieck als solche wahrzunehmen und darauf aufbauende Innovationen für einen Ort zuzulassen, der Kinder länger beherbergt, als ein Arbeitstag dauert, bleibt aber noch abzuwarten.

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