Bauwerk

Werkbundsiedlung Wiesenfeld
Kazunari Sakamoto - München (D) - 2009

Eine Werkbundsiedlung von Kazunari Sakamoto für München

5. Mai 2006 - Roman Hollenstein
Die Moderne hat in den letzten 100 Jahren zwar viele architektonische Meisterwerke hervorgebracht, doch auf dem Gebiet des Städtebaus ist sie gescheitert. Das wirkt sich in gemilderter Form bis heute aus, wie allein schon ein Blick auf die von allzu grossen Neubauvolumen und sterilen Parkanlagen geprägten Umgestaltungen ehemaliger Industrieviertel in Zürichs Norden oder Westen zeigt. Doch nun soll alles besser werden. Will doch die bayrische Sektion des 1907 zur Förderung der Baukultur gegründeten Deutschen Werkbunds mit Blick auf das Hundertjahrjubiläum in München als zukunftsweisendes Wohnmodell die Werkbundsiedlung «Wiesenfeld» realisieren. Diese soll nicht wie 1929 der legendäre «Weissenhof» in Stuttgart und danach die Anlagen in Breslau, Prag, Wien und Zürich auf das familiäre Dasein am Stadtrand, sondern auf ein dem heutigen Lebensstil entsprechendes urbanes Wohnen ausgerichtet sein.

Renaissance des Wohnungsbaus

Auf den vom Münchner Architekten Hannes Rössler, dem Vorsitzenden des Werkbunds Bayern, initiierten und im Juni 2005 ausgeschriebenen Wettbewerb antworteten gut 400 Interessenten aus aller Welt, was eindrücklich beweist, dass der immer wieder stiefmütterlich behandelte Wohnungsbau heute erneut auf Interesse stösst. In einer Vorauswahl reduzierte man den Teilnehmerkreis auf 35 Architekten. Diese sollten neue Perspektiven für ein nachhaltiges, bezüglich Sozial- und Altersstruktur dynamisch durchmischtes Quartier des 21. Jahrhunderts auf dem fünf Hektaren grossen Areal der Schwabinger Luitpold-Kaserne aufzeigen. Im Februar 2006 wurden dann 12 Entwürfe ausgezeichnet, darunter diejenigen von Christian Kerez aus Zürich und Kees Christiaanse aus Rotterdam.

Den ersten Platz aber teilten sich drei andere Projekte: Ausgehend von den teilweise überholten lokalen Vorschriften bezüglich Bauhöhe, Abstandsgrüns und Schattenwurfs, schlug das junge Münchner Büro 03 (Garkisch, Schmid, Wimmer) pragmatische, aus der Stadtstruktur abgeleitete Zeilenbauten vor. Diese vermitteln zwar bezüglich Form und Grundrisses zwischen den Kasernenbauten, einem städtischen Lagerhallenareal und einer kleinen Gartenstadt, gemahnen jedoch stark an die monotonen Siedlungen des Modernismus. Allmann Stattler Wappner, ebenfalls aus München, konzipierten hingegen eine bald geometrisch abgewinkelte, bald schleifenartig ondulierte Grossform mit wechselnden Geschosshöhen, die der Begrenzung des rechteckigen Areals folgt und im Innern eine parkartige Fläche freilässt. Mit seiner Girlande unterschiedlicher Baukörper könnte das entfernt an einen Forschungs- oder Verwaltungs-Campus der sechziger Jahre erinnernde Projekt zwar gut den Anforderungen des sozialen und freitragenden Wohnungsbaus genügen und die geforderten Wohnungstypen für Familien, Singles, Alte und Studenten aufnehmen, aber einen zukunftsträchtigen Entwurf stellt es nicht dar.

Diesen erkannte die Jury im überarbeiteten Projekt von Kazunari Sakamoto, das sie Anfang April denn auch zur Ausführung empfahl. Es schlägt 41 frei innerhalb eines orthogonalen Rasters über das Areal verteilte Einzelhäuser mit Grundflächen von 9 × 12 bis 12 × 15 Metern sowie drei Höhen von 4, 8 und 11 Geschossen vor. Die Häuser mit insgesamt 400 Wohnungen bilden ein allseits durchlässiges, jedoch nicht völlig transparentes Konglomerat, aus dessen Rhythmus mehr noch als der Doppelkubus des Studentenhauses die zentrale Kindertagesstätte ausbricht. Deren wohl von Hertzberger und van Eyck beeinflusste strukturalistische Konfiguration, die der Juror Heinz Tesar treffend ein «sprachliches Missverständnis» nannte, dürfte denn auch Gegenstand der Weiterbearbeitung sein. Da möglichst alle 12 in der ersten Runde prämierten Büros nach den Vorgaben des 63-jährigen Japaners mit dem Bau einzelner Häuser betraut werden sollen, ist nun ein «professoraler Workshop» unter Sakamotos Leitung vorgesehen. Damit soll gewährleistet werden, dass das «visionäre Potenzial» des Entwurfs im Laufe der voraussichtlich im Frühjahr 2007 beginnenden Ausführung nicht durch die beteiligten Bauträger und Architekten verwässert wird.

Worin aber besteht das Aussergewöhnliche von Sakamotos Projekt? Eine entfernt vergleichbare Einzelhausanlage existiert bereits im olympischen Dorf von Turin, einer ökologischen Modellsiedlung, die auf ein urbanistisches Konzept des Münchners Otto Steidle zurückgeht und unter anderem mit Bauten von Diener und Krischanitz aufwarten kann (NZZ 30. 1. 06). Sakamoto geht jedoch weiter und schlägt drei unterschiedlich hohe Typen von Baukörpern mit zwei oder drei Klein- oder Familienwohnungen pro Etage vor. Sie stehen auf Erdgeschosshöhe eng zusammen, gewähren aber dank ummauerten Privatgärten Intimität, ohne dass dadurch der öffentliche Durchlass stark behindert würde.

Tanzende Einzelhäuser

Mit dieser für europäische Verhältnisse ungewöhnlichen Verdichtung bezieht sich Sakamoto wohl auf die Grossstadt-Dörfer der zentralen Tokioter Wohnviertel, wo kleine Einzelhäuser Schulter an Schulter stehen. In München werden sie in einen grösseren Massstab übertragen, etwas auseinander gerückt und von Bäumen umspielt, deren Kronen als Sichtschutz zwischen den Wohnungen dienen sollen. Darüber jedoch dürfen sich die acht elfgeschossigen Türme in einem Abstand von 30 bis 80 Metern den Luftraum und die Sicht auf Innenstadt und Alpen teilen.

Dem Auftrag entsprechend sieht Sakamotos heiter-bewegtes Projekt ein reines Wohnquartier über einer grossflächigen Tiefgarage vor, doch könnten in den Erdgeschossen entlang der beiden internen Erschliessungsstrassen durchaus Cafés, Geschäfte oder Ateliers für etwas Leben sorgen. Für die Wohnqualität wird es zudem entscheidend sein, dass die grossen Fenster und Balkone nicht ästhetischen oder rechnerischen Überlegungen geopfert werden. Wirtschaftlichkeit verspricht ja allein schon die Beschränkung auf drei Haustypen, die eine Reduzierung der Mittel ermöglichen, aber die beteiligten Architekten auch dazu zwingen, sich beim Planen strikt an Sakamotos Kubaturen zu halten. Im Idealfall könnte also bis zum Frühjahr 2010 in München eine städtebauliche Trauminsel entstehen. Eine Trauminsel, auf der die humanistischen Prinzipien des Werkbunds in einer zeitgemässen, gleichermassen von Individualität und Dichte geprägten Wohnkultur neuen Ausdruck finden und so dem Siedlungsbau wieder eine Vorreiterrolle zuerkennen würden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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