Bauwerk

Sonderschule
fasch&fuchs.architekten - Schwechat (A) - 2006
Sonderschule, Foto: Paul Ott

Freiraum und Blickraum

Behinderte Menschen erleben allzu oft Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Eine Sonderschule in Schwechat gibt ihnen den Raum, den sie brauchen.

8. Oktober 2006 - Karin Tschavgova
Die Schule ist nicht nur ein Lern-, sondern auch ein Lebensraum für Kinder. Sie ist ein Ort der indi viduellen Lernerfahrung und einer der Begegnung. Architekten können den Unterricht nicht beeinflussen, aber sie können Bedingungen für gutes Lernen schaffen und eine Schule so planen, dass sie ein sozialer Treffpunkt ist und Gemeinsamkeit fördern kann. Typologien des Schulbaus der Nachkriegsmoderne wie die Hallenschule, die Pavillonschule oder die in Österreich nur selten realisierte Freiluftschule stellen so lange relevante Ansätze zum Schulbau dar, solange sie nicht durch radikale typologische Neuerungen einer von Grund auf reformierten Schule des 21. Jahrhunderts ersetzt werden. In solchen Schulen fänden sich vielleicht keine konventionellen Klassenzimmer mehr.

Ein Architekt, der eine Sonderschule zu planen hat, stellt angesichts der Komplexität des Themas „Behinderung“ vermutlich ein repräsentatives Abbild der Gesellschaft dar, die der Vielzahl von unterschiedlichen körperlichen und geistigen Behinderungen unwissend und unsicher, mit Berührungsangst und Vorurteilen gegenübersteht. Sicher ist, dass diese eher seltene Bauaufgabe dem Planer mehr abverlangt als das behindertengerechte Unterbringen von Klassenräumen und therapeutischen Einrichtungen.

Hemma Fasch und Jakob Fuchs, gemeinsam „fasch&fuchs.“, haben für die Sonderschulgemeinde Schwechat, einen Verband mehrerer niederösterreichischer Gemeinden im Einzugsgebiet von Schwechat, eine Schule geplant. Sie haben sich für einen solitären, kompakten Baukörper entschieden, der sowohl von der im Norden angrenzenden niedrigen Vorstadtbebauung abrückt wie auch von der viel befahrenen Hainburgerstraße im Süden, deren Blockrandbebauung in nächster Zukunft vervollständigt werden und somit eine Abschirmung gegen den Verkehrslärm bilden soll.

Das Konzept des Wettbewerbs von 2000 war durch eine signifikante Abstufung der Südfassade mit der Schrägverglasung vorgelagerter Wintergärten und geschoßweise eingebetteten Terrassen charakterisiert. Es erwies sich als erstaunlich biegsam und konnte, neuen Erkenntnissen und Anforderungen folgend, adaptiert und ohne störende Kompromisse beibehalten werden. Eine dieser Erkenntnisse war: Behinderte können sehr empfindlich auf starke Sonneneinstrahlung reagieren. Sieben der insgesamt zehn Klassen für 70 Schüler im jetzigen Schuljahr wurden daher verlegt und sind nun nach Norden ausgerichtet. An die Südfront im Obergeschoß rückten die Direktion, das Lehrerzimmer, ein Mehrzweckraum und zwei Sonderunterrichtsräume für Werken und textiles Gestalten. Diese sind ebenso wie die im Erdgeschoß an der Südseite verbliebenen drei Unterrichtsräume, an die am Ostende eine Therapieeinheit anschließt, mit einem über Dach geparkten, weit ausladenden Sonnenschutz versehen.

Zentrum des Schulhauses ist eine von allen Seiten einsehbare, zwei Geschoß hohe Raumfigur. Sie beherbergt den Turnsaal, der in die sanft abgesenkte Ebene des Untergeschoßes gebettet wurde. Dreiseitig wird die Halle umgeben durch Geräteräume und Erschließungszonen, die nur durch Sprossenwände vom eigentlichen Turnsaal abgetrennt sind, was Tageslicht in die Nebenraumzone bringt.

Im oberen Teil, auf der Höhe des Eingangs, ist das Volumen an drei Seiten von einem Pausenfoyer umgeben und nur andeutungsweise begrenzt durch Glasflächen und textile Schutznetze. Die Absicht ist klar: Das Geschehen im Saal soll uneingeschränkt mitverfolgt werden können. Sitzstufen über die gesamte Längsseite des Pausen- und zugleich Erschließungsraums laden dazu ein. Das Vorbild für diesen durch die Situierung des Turnsaals offenen Typus von Schule ist bereits ein Architektur-Klassiker: die Schule der Ursulinen in Innsbruck von Josef Lackner.

Die Entscheidung, den Turnsaal visuell und akustisch eng mit dem schulischen Tagesablauf zu verknüpfen, war gewagt, weil weder die Lärmentwicklung noch die Reaktion der Schüler voraussehbar war. Die Architekten haben jedoch durch eine klare Zonierung unterschiedlicher Bereiche dafür gesorgt, dass eine Beeinträchtigung von Räumen mit intensiver Lerntätigkeit vermieden wird. Eine Mittelzone mit Sanitär- und Nebenräumen, die über die darüberliegende Terrasse belichtet wird, wirkt als Puffer zwischen der stark frequentierten Pausenhalle und den Klassen.

„fasch&fuchs.“ arbeiten strukturell. Alle erdberührenden Teile sind in Ortbeton ausgeführt, ebenso die Decke über dem Erdgeschoß. Die Aufbauten sind leichte Stahltragkonstruktionen, die wie bei ihrem Entwurf für das Kindermuseum in Graz durch konstruktiv wirksame Mehrschichtplatten in Holz ausgesteift sind. Decken und Wände aus Beton bleiben sichtbar. Das verleiht dem Bau eine gewisse Rauheit, doch wer genau schaut, kann erkennen, mit welcher Präzision einfachste Akustikplatten in die Ausnehmungen des Sichtbetons eingelassen sind. Wenn nichts verkleidet, nichts „beschönigt“ wird, so zeigt dies die Affinität der Architekten zum industriellen Bauen und drückt aus, was Lernen ist: Arbeit.

Atmosphärische Wärme in den Arbeitsräumen des Unterrichts wird durch die helle Holzuntersicht der Decken und Holzböden erzeugt, durch farbige Gläser zur Garderobe und durch verschiedenfarbig tapezierte Polstermöbel, mit denen die Rückzugszonen der Klassen, die in der Gruppenarbeit mit Behinderten unverzichtbar sind, möbliert wurden. Der Luxus optimierter Arbeitsbedingungen liegt in den Wintergärten und Terrassen, die jedem Raum mit Südorientierung vorgelagert sind. Entwickelt seinerzeit aus der Forderung nach Niedrigenergiestandard, sind sie nun Rückzugsort und Abwechslung und kommen dem Bewegungsdrang behinderter Kinder entgegen.

Körperlich oder geistig behinderte Menschen erleben im Alltag ständig Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Teile des öffentlichen Raums und Zugänge ins öffentliche Leben bleiben ihnen oft verwehrt. Die Schule von „fasch&fuchs.“ gibt diesen Kindern und Jugendlichen den Raum, den sie brauchen: Bewegungs- und Begegnungsraum, Blickraum, Freiraum. Nicht durch Bereitstellung von mehr Fläche gelingt dies, sondern durch geschickte Überlagerung von Raumfunktionen, durch Nutzung eines Daches, durch Aufwertung von Raum über „raumvergrößernden“ Lichteinfall, durch Sichtachsen und Durchblick in den Straßenraum. Darin liegt die besondere Qualität der Sonderschule Schwechat.

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