Bauwerk

Merkerareal „Gelbes Viereck“ Baden
Zulauf & Schmidlin - Baden (CH) - 2009

Gelber Torso

Es ist die letzte Nische der Stadt Baden, in der Kulturschaffende, Künstler, Architekten, Grafiker und Handwerker eine Bleibe haben: das Gelbe Viereck, das ehemalige Fabrikationsareal der Firma Merker AG. Die Architekten Zulauf & Schmidlin haben ihm eine Renovation angedeihen lassen, die in seltener Konsequenz die Spuren der Vergangenheit bewahrt.

Der nun vor dem Abschluss stehenden Renovation des «Gelben Vierecks» ging ein zähes Ringen um die Produktionshallen voraus, in denen während 120 Jahren Waschmaschinen, Geschirrspülautomaten und Einbauküchen produziert wurden (siehe Kasten S. 18). Die materiellen Argumentationsgrundlagen für ihren Erhalt lieferte der Kunst- und Architekturhistoriker Claudio Affolter mit seinem Gutachten: «Trotz Umnutzung von 1994 ist das Merker’sche Ambiente heute noch spürbar, weil die Grundsubstanz erhalten blieb und sich die architektonischen Eingriffe auf das Notwendige beschränkten. Entstanden ist ein lebendiges Ensemble, in dem Bildung, Begegnung, Kultur und Arbeit eine vorbildliche Symbiose formen.»[1] Affolter brachte die Klostertypologie des Gevierts mit sozialutopischen Entwürfen von Robert Owen und Charles Fourier in Verbindung, die sich in der Familistère in Guise (F) von Jean-Baptiste Godin (um 1860) oder den Fiat-Werken in Turin von Giacomo Matté-Trucco (nach 1916) niederschlugen. Der Firmengründer Friedrich Merker selber orientierte sich an Naheliegenderem: Anlagen in Zug und Winterthur. Dort hatte sich 1854 die Maschinenfabrik Rieter in einem ehemaligen Dominikanerkloster niedergelassen. Und wie eine Rückkoppelung ist der Entwicklungsplan von Roger Diener 1994 mit mehreren Hofgebäuden im ABB-Areal bestückt: «Ist es Zufall, dass Diener für ein Hofgebäude an der Wiesenstrasse genau die Masse des Gevierts Merker übernahm?»[2]

Zulauf & Schmidlin, die sich ihrerseits immer für den Erhalt starkgemacht hatten, erhielten von Senior Walter Merker und Erben den Auftrag unter der Bedingung, dass die Mietzinse deutlich unter den durchschnittlichen Preisen für Gewerbeliegenschaften zu stehen kämen. Diese betragen in Baden für Rohbaustandard zwischen 220 und 250 Fr./m2. Erreicht haben die Planer nun einen solchen von zwischen 150 und 170 Fr./m2 – in ausgebautem Zustand, wohlgemerkt. Dies widerspiegelt sich im Mietermix: Architekten, Grafikerinnen, Künstler, Musikerinnen, Designer, Gesundheitspraxen, Fotografen, Ingenieurinnen, Journalisten, Schriftenmaler, Catering-Service, das Internationale Festival für Animationsfilm Fantoche, das Figura Theaterfestival Baden, eine private Tagesschule, Mobility Carsharing, ein Baunternehmen, das Theater im Kornhaus (ThiK) und das Jugendkulturlokal «Merkker».[3] Die sanfte Sanierung umfasste vor allem die Haustechnik und die Isolation des Daches. Auf eine Aussenisolation wurde zugunsten der architektonischen Integrität verzichtet. Diese bemass sich für die Architekten an der typologischen Klärung, an der Inwertsetzung des Bestehenden, ohne es zur Schau zu stellen, und am Akzeptieren mancher Eingriffe – selbst wenn sie einst zum Nachteil der architektonischen Qualität erfolgten.

Typologische Klärung widerfuhr dem Bau durch den Abbruch der in den Hof gestellten Schreinerei und Lagerhalle (1909). Diese verstellte die Fassaden von West- und Ostflügel – mithin der ältesten Gebäudeteile. Sie beeinträchtigte auch den mit drei Geschossen ursprünglich den Osttrakt überragenden, giebelständischen Mittelbau mit dem Rundbogenportal, der, asymmetrisch positioniert, den neunachsigen Büroflügel vom sechzehnachsigen Werkstattfl ügeltrennte. Ausserdem hatte der zweigeschossige, flache Betonskelettbau mit Backsteinausfachungen (29 × 17 m) diverse Umbauten und Erweiterungen erfahren, die Claudio Affolter von einer inventariellen (siehe S. 8) Einstufungsempfehlung der Lagerhalle absehen liessen. Nämliches gilt zwar auch für die einstige Spedition, die ebenfalls einen Teil des Hofs besetzte. Allerdings weist der zweigeschossige Sichtbacksteinbau mehr originaleSubstanz auf – trotz der Entfernung der ursprünglichen Glasgiebeldächer und dem Zumauern von Fensteröffnungen. Da sich der Bau anbot, als Restaurant (EG) und Veranstaltungsraum (OG) genutzt zu werden, entschieden die Planer, diese Räume hier unterzubringen. Die ausgewogene Proportionierung – drei Achsen breit, vier Achsen lang – haben die Architekten wieder ins Lot gebracht, indem sie den Holzschuppen auf der Westseite entfernten. Sie bewahrten die Tragstruktur der Stahlstützen und der Unterzüge aus Doppel-T-Trägern sowie den Betonboden und die Holzdecke. Mit einem schwarzen Anstrich machen sie ihn aber zur «black box», zu einer Geheimschatulle, zu einer Art Zauberkasten für verschiedenste kulturelle Ereignisse, der weiterhin unter dem Namen «Spedition» firmiert. Nicht zu retten war das Emailwerk (40 × 32.5 m) auf der Rückseite des Westflügels. Die späteren Umgestaltungen und die in die Jahre gekommene Bausubstanz bedeuteten den Garaus für das Werk mit dem beeindruckenden, flach geneigten Giebeldach und den sechs Shedverglasungen. Obwohl weder das Portierhaus noch die Alte Stanzerei einer Einstufung würdig sind, stehen beide noch. Die von Bridler und Völki 1908/09 errichtete Portierloge mit Pyramidendach, deren Obergeschoss auf der Nordseite vorkragt und von vier ornamentierten Säulen gestützt wird, führt zwar eine Art Inseldasein zwischen Strasse und Fabrikareal, bildet aber dennoch eine Art synkopischen Auftakt des Geländes oder den Atemzugvor dem Einsatz eines Musikstücks. Die Alte Stanzerei, in der die Stadt ursprünglich das «Merkker» unterbringen wollte, betreiben die Architekten als mietbaren Kulturraum. Im Geviert selber haben die Architekten sozusagen die inneren Werte gestärkt. Es ist wieder von der Hofseite her erschlossen. Um den sozialen Austausch fliessen zu lassen, haben sie einen «inneren Umgang» geschaffen, d. h., es ist möglich, nahezu barrierefrei alle vier Flügel zu passieren. Im Westflügel wurden Künstlerateliers eingerichtet, die mit Mietkosten von 130 Fr./m2 preislich noch etwas tiefer liegen sollen als die übrigen Flächen und von den andern Mietern subventioniert werden. Der Bauherr möchte eines davon jeweils temporär einem auswärtigen Gast zur Verfügung stellen.

Die sich überlagernden Zeitschichten des Gelben Vierecks haben die Architekten ebenso lesbar gemacht, wie sie die Spuren der Fabrikation sichtbar belassen haben – und mithin damit einen Umgang wie ihre Vorgänger gepflegt. Diese liessen etwa beim Einzug der Beton decken als Ersatz der Holzkonstruktion in den unteren Geschossen die Stahlanker im Mauerwerk stecken – sei es als Sicherungen der Wände während der Bauarbeiten, sei es aus ökonomischen Gründen. So zeugen die Anker bis heute sowohl von der ursprünglichen Zweigeschossigkeit als auch von der einstigen Holzkonstruktion. Zulauf & Schmidlin haben ihrerseits Wunden, die der Zahn der Zeit geschlagen hat, nicht behandelt. Wo der ursprüngliche Kalkzementputz bröckelte, weil er einmal mit Dispersion gestrichen wurde, sodass dem mineralischen Untergrund der Sauserstoff entzogen wurde, sind diese Abplatzungen gegenwärtig. Die alten Steinholzböden wurden auch da belassen, wo sie Flickwerk sind. Nachdem die Lifte vom Sicherheitsexperten genehmigt wurden, konnten die Architekten auf deren technische Aufrüstung verzichten. Auch setzten sie sich mit dem Wunsch durch, wieder Holz- und nicht Holz-Metall-Fenster einzusetzen und sie mit den ursprünglichen Sprossen zu versehen. Von der einst ästhetisch zurückhaltend inszenierten Hierarchie zwischen Patrons und Arbeitern zeugen zwei verschiedene Treppenhäuser (Abb. 4, 6), und das Mobiliar im Verwaltungstrakt – alte Holztüren und Schrankwände – dokumentiert einen bescheidenen Luxus.

Wenn es auch nicht so sehr eine konzeptionelle als vielmehr eine fi nanzielle Entscheidung war, die Altlasten im Boden zu lassen, so sind sie gut mit Asphalt versiegelt. Und der Künstler Beat Zoderer wird auf dem geteerten, von einem 10 cm hohen Stahlband gerahmten Geviert einen Kunstteppich schaffen. Analog zu seiner Intervention 1995 beim Kunsthaus Aarau (siehe Titelbild) wird er mit Strassenmarkierungen ein Gewebe schaffen – oszillierend zwischen öffentlichem (Strassen-)Raum und Innenraumteppich …

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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