Bauwerk

SBB Bahnhof Basel - Passerelle
Cruz y Ortiz, Giraudi & Wettstein - Basel (CH) - 2003

Wege über die Geleise

Neue Passerellen der Bahnhöfe von Basel und Bern

Mit der von Sandra Giraudi und Felix Wettstein aus Lugano gemeinsam mit dem Sevillaner Architekturbüro von Antonio Cruz und Antonio Ortiz entworfenen Passerelle hat die Umgestaltung des Bahnhofs SBB in Basel ihren vorläufigen Abschluss gefunden. Über ein ähnliches Projekt in Bern soll noch im Herbst entschieden werden.

3. Oktober 2003 - Hubertus Adam
Die Bahnhofsanlagen grosser Städte Europas, aber auch Japans und Nordamerikas, unterliegen seit einigen Jahren aufwendigen Umgestaltungen. Zum einen geht es darum, die planerisch zumeist noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Baulichkeiten den zeitgenössischen Anforderungen des Eisenbahnverkehrs anzupassen. Zum anderen lassen sich, und das gilt für Bahnhöfe ebenso wie für Flughäfen oder Stadien, kostenintensive Grossbauvorhaben mit eigenen Mitteln der Betreiber nicht mehr realisieren. Die Lösung besteht darin, die früher primär infrastrukturell ausgerichteten Liegenschaften durch Geschäftsflächen anzureichern, um die Umgestaltungsmassnahmen oder Neubauten zu finanzieren. Nicht immer überzeugt die Allianz von Verkehr und Konsum, doch ist zu konzedieren, dass der Bauaufgabe Bahnhof nach Jahren der Vernachlässigung wieder Bedeutung beigemessen wird. Einige historische Bauten konnten in ihren wesentlichen Teilen denkmalgerecht wiederhergestellt werden, und daneben sind - etwa mit der Waterloo Station von Nicholas Grimshaw in London, dem Bahnhof Atocha in Madrid von Rafael Moneo oder dem Santa-Justa-Bahnhof in Sevilla von Antonio Cruz und Antonio Ortiz - beispielhafte Neubauten entstanden. Trotz den vor einigen Jahren errichteten Neubauten in Zürich Stadelhofen oder in Luzern fehlt bisher in der Schweiz, welche die adäquate Integration in das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz versäumt hat, ein wirklich grosser Wurf. So wird der Hauptbahnhof Zürich seit Jahrzehnten entsprechend den jeweiligen Planungsdirektiven umgebaut, ohne dass das grundsätzliche Dilemma des verkehrshemmenden Sackbahnhofs grundsätzlich gelöst worden wäre. Und der Durchgangsbahnhof Bern wirkt durch grossflächige Überbauung wie eine riesige U-Bahn-Station, in der die Orientierung schwierig werden kann, auch wenn die jetzt durch ausgedehnte Einkaufsbereiche kommerziell verwerteten Anlagen grossspurig zur «RailCity» erhoben wurden.


Ein architektonischer Zwitter

Eine der seltsamsten Konstruktionen stellt seit je der Bahnhof SBB in Basel dar. Er geht zurück auf planerische Festlegungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Seinerzeit konnte sich die Schweizerische Centralbahn-Gesellschaft mit der Idee durchsetzen, anstelle eines von der Stadt favorisierten Kopfbahnhofs nahe dem Altstadtkern einen Durchgangsbahnhof im Süden zu errichten, der die Schweizer Linien mit jener ins Elsass und nach Frankreich verbinden sollte. Mochte diese Option in gewisser Hinsicht weitsichtig sein, so war damit die Abtrennung des Gundeldingerquartiers südlich der Geleise-Trassees von der Stadt Basel im Norden verbunden. Erst die Absenkung des Geleisefelds infolge des Bahnhofsneubaus 1902-07 machte eine kreuzungsfreie Überbrückung der Schienen möglich.

Konzeptionell ist der Bahnhof ein Kuriosum: Zum einen simuliert das zwischen Eklektizismus und Jugendstilanklängen oszillierende Empfangsgebäude mit seiner von einem grossen Fenster durchbrochenen Fassade zum Centralbahnplatz hin einen Kopfbahnhof, obwohl die Gleise quer zur angedeuteten Hauptachse verlaufen. Zum anderen funktioniert die Anlage betriebstechnisch mit ihrer Trennung in einen grossen schweizerischen und einen kleinen französischen Teil bis heute gleichsam als doppelter Kopfbahnhof. Unbefriedigend war seit Beginn die Erschliessung der Gleise: Von der Halle aus wurden die Passagiere in eine Unterführung geschleust, von der aus die Perrons über Rampen zugänglich waren.


Passerelle als Schlussstein

Gemäss einem später «Euroville» titulierten Masterplan unterliegt das Gesamtareal des Bahnhofs SBB seit 1980 der Transformation. Nun ist mit der oberirdischen Passerelle, welche den früheren Zugangstunnel ablöst und eine attraktive Fussgängerverbindung zum Gundeli schafft, der vorläufige Schlussstein in ein langwieriges Umgestaltungsprojekt gesetzt. Einige Bauvorhaben folgen noch, darunter die Fertigstellung des Jacob- Burckhardt-Hauses von Jakob Steib und des Geschäftshauses Elsässertor von Herzog & de Meuron. In Zukunft wäre ausserdem auch die Verlagerung der französischen Gleise in den Passerellenbereich möglich.

Als Resultat eines unter sieben konkurrierenden Teams 1996 veranstalteten Gutachterverfahrens war der Gemeinschaftsentwurf von Sandra Giraudi und Felix Wettstein aus Lugano und Antonio Cruz und Antonio Ortiz aus Sevilla zur Ausführung bestimmt worden. Das Projekt überzeugte die Jury nicht nur wegen seiner Funktionalität, sondern auch aufgrund seiner markanten Form: Die Stahl-Glas-Konstruktion der Passerelle zeigt eine expressiv gefaltete Dachlandschaft, die im Norden an die bestehende erste Perronhalle andockt und im Süden an der Güterstrasse mit Aplomb in einem Kopfbau gipfelt, der zukünftig von Bauten, deren Entwurf ebenfalls von Herzog & de Meuron stammt, flankiert werden soll. Giraudi und Wettstein sowie Cruz & Ortiz ist es mit ihrem in gleichberechtigter Partnerschaft ausgearbeiteten Entwurf gelungen, eine eigenständige Formensprache zu entwickeln, die bildhaft als eine auf die nahe Jurakette verweisende Gebirgslandschaft in Erscheinung tritt und sich doch aufgrund ihrer Materialisierung und Konstruktion auf die Bahnhofshallen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bezieht. Im Norden schneiden die drei bestehenden kürzeren Hallen der Perrondächer in die Ostseite der Passerelle ein, Alt und Neu sind kontrastierend zusammengeführt. Die Hauptabgänge orientieren sich in diesem Bereich Richtung Osten, also zu den vorhandenen Hallen hin, während sie bei den südlichen Perrons nach Westen ausgerichtet sind. Auch wenn die Passerelle als gerade durchlaufende Achse konzipiert ist, ergibt sich durch diesen Orientierungswechsel eine Differenzierung, die sich auch in der Formung der Dachlandschaft abzeichnet: Das Hauptdach der Passerelle wird in seiner Längserstreckung durch niedrigere Verdachungen an den Seiten belebt.

Gemeinsam mit den durch die Santa-Justa-Station im Bahnhofsbau erfahrenen Cruz & Ortiz haben Giraudi und Wettstein, welche durch den filigranen Glasturm des Laboratorio auf dem Luganeser Universitätscampus bekannt wurden, ein einprägsames Zeichen für die Neugestaltung des Bahnhofs SBB geschaffen, das jedoch vor allem aus der Ferne wirkt. Im Inneren werden die räumlichen Qualitäten für die Reisenden nicht recht erfahrbar: Attraktiv ist zweifellos die nunmehr leer geräumte historische Empfangshalle, doch die Maximierung von Geschäftsflächen hat in der über Rolltreppen und Rampen zugänglichen Passerelle dazu geführt, dass der Blick auf die Gleise durch die Glaskuben der Geschäfte beeinträchtigt, wenn nicht gar verhindert wird. Die Abgänge und Rolltreppen dazwischen sind vergleichsweise schmal ausgefallen, führen etwas verschämt in die Tiefe; letztlich schottet sich die Passerelle vom Eisenbahnverkehr ab. Besonders unbefriedigend ist der Südkopf der Anlage: Als Point de vue der Passerellenachse fungiert eine mit Leuchtschriften überbordend ausgestattete Raumkaskade aus Medienmarkt, Schuh- und Sportgeschäft, während der Abgang zum Gundeli seitlich über eine Rampe erfolgt. Optisch wirkt deshalb die Passerelle nicht wie eine durchgehende Passage, sondern wie eine Sackgasse.


Lehren für Bern?

Wie eine Verbindung der Ebenen, aber auch von Bahnhof und städtischem Umraum aussehen kann, zeigt das vom Berner Architektenteam smarch (Beat Mathys und Ursula Stücheli) im Auftrag der SBB erarbeitete Projekt einer Passerelle, die als markante Geste der dunklen Untergrundhalle des Hauptbahnhofs Bern auf der Seite der Schanzenpost vorgelagert werden soll. Den Architekten, die unlängst mit der grandiosen Halle des Regionalbahnhofs Worb ein funktional wie ästhetisch ebenso überzeugendes Gebäude errichten konnten, gelingt es, durch die ondulierend geformten Dächer Stadtebene und Bahnsteigniveau visuell und funktional zu vernetzen und damit einer Trennung entgegenzuwirken; die Form der Bahnsteige und der sie umspielenden Dachlandschaften reagiert auf das endlose Geflecht der Schienen mit dreidimensionaler Präsenz. Somit entsteht eine durch die Bewegung der Reisenden ausgefüllte elegante Struktur, welche als architektonischer Transmissionsriemen die Verknüpfung von Strassen- und Schienenverkehr symbolisch überhöht. Im Herbst steht die Entscheidung an, ob die Auftraggeber für das kommerziell ausgerichtete Konkurrenzprojekt votieren - oder für die architektonisch grosszügige Geste von smarch.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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