Bauwerk

Rolex Learning Center
SANAA - Lausanne (CH) - 2009
Rolex Learning Center, Foto: Hisao Suzuki
Rolex Learning Center, Foto: Hisao Suzuki

Wellenreiten ins Labor

Im Rolex Learning Center in Lausanne sind kräftige Wadeln gefragt. Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa vom japanischen Architekturbüro SANAA wurden diese Woche mit dem Pritzker-Preis 2010 ausgezeichnet.

3. April 2010 - Wojciech Czaja
Eine Gruppe von Studenten hopst den Hügel auf und ab. Im Ohr die üblichen weißen Stöpsel, unterm Arm den Apple, im Mund ein Ricola. Andernorts sitzen zwei grau melierte Professoren auf einem zerknautschten Sitzsack aus Styroporgranulat und blättern eifrig im Terminkalender. Hier wird telefoniert, da wird geschlafen, hoch oben im letzten Eck der Aula - auch das ist Alltag auf diesem Campus - wird mit peitschendem Zungenschlag geschmust und geknutscht.

Wenn man es mit den eigenen Augen nicht gesehen hat, dann glaubt man es kaum. Aber nein, wir befinden uns hier nicht etwa auf einem Rummelplatz der ewig Junggebliebenen, sondern mitten im neuen Rolex Learning Center der EPFL, der École Polytechnique Fédérale in Lausanne.

Der freizeitliche Geist, der diesen heiligen Hallen des Forschens und Wissens innewohnt, scheint zu beflügeln. Laut dem Shanghai Academic Ranking of World Universities liegt die EPFL - gemeinsam mit dem britischen Cambridge - auf Platz 1 der europäischen Universitäten mit Schwerpunkt Ingenieurwesen, Technologie und Computerwissenschaft.

„Wir wollten darüber nachdenken, wie ein moderner und zeitgemäßer Universitätscampus des 21. Jahrhunderts aussehen kann und ob man die traditionellen Denkschemata von Bildungseinrichtungen aufbrechen und überdenken kann“, sagt Kazuyo Sejima vom Tokioter Architekturbüro SANAA. Man kann. Und wie man kann.

Nachdem Sejima und ihr Partner Ryue Nishizawa ihr Talent in den letzten Jahren nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder unter Beweis gestellt hatten, wurde das Büro SANAA Anfang der Woche mit dem diesjährigen Pritzker-Preis für Baukultur ausgezeichnet. Mit 100.000 US-Dollar Preisgeld handelt es sich dabei um die weltweit höchst dotierte Auszeichnung für Architekten (der Standard berichtete). Das Learning Center in Lausanne, vor einem Monat fertiggestellt, ist der jüngste Wurf der beiden.

Wie ein weiches Gebilde aus Glas und Beton liegt das Gebäude in der Wiese am südlichen Rand des EPFL-Campus, nur wenige Schritte vom Genfer See entfernt. Mit Ausmaßen von 160 mal 120 Metern, ein Riesending das Ganze, würde man unter normalen Umständen wohl das Fürchten bekommen.

Das Gegenteil ist der Fall: Als säße die Muse der Wissenschaft hoch im Himmel und zöge an ein paar unsichtbaren Schnüren nach oben, macht das Haus an manchen Stellen einen Katzenbuckel, steigt um fünf Meter an und zeigt der Schwerkraft, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz, die kalte Schulter. Wem danach ist, der kann es unterwandern, kann unter dem entwurzelten Fundament feierlich hindurchflanieren.

Hügel statt Wände

Um das Gebäude mit Tageslicht zu versorgen, ist es von kleineren und größeren Atrien durchdrungen. Runder und geschmeidiger als hier kann ein Innenhof nicht sein. Übrig bleibt eine Art fliegender Teppich mit 20.000 Quadratmetern Nutzfläche - durchlöchert und zerbissen von anspruchsvollen Motten mit einem Sinn für Ästhetik.

„Wir wollten einen einzigen offenen Raum auf einer Etage schaffen“, sagt Sejima, „das ermöglicht eine ganz andere, hierarchielosere Kommunikation als etwa ein Gebäude mit voneinander getrennten Stockwerken, mit ganz normalen Gängen und Zimmern.“ Durch die Belebung der Topografie, durch das Auf- und Abwiegen der 3,50 Meter hohen Innenräume sieht man selbst aus dem Zentrum des Gebäudes auf den See hinaus. An schönen Tagen reicht der Blick bis zum schneebedeckten Alpenkamm.

„Ich finde das Learning Center schlichtweg genial, es ist beachtlich, dass ein Projekt mit einer derartigen Konsequenz realisiert werden kann“, erzählt eine angehende Neurobiologin, die gerade in der Ecke lümmelt. „Der einzige Nachteil hier drin ist, dass man ohne Navigationssystem bisweilen die Orientierung verliert.“

Geschätzt werde der Bau vor allem für seine Offenheit und Transparenz. „Man trifft ständig auf Freunde und Mitstudentinnen. Eigentlich ist man zum Lernen und Lesen hier, schon findet man sich mitten in einer hitzigen Diskussion wieder.“ Alles beabsichtigt und gewollt. „Coffee-Effect“ nennt sich das im Fachjargon der EPFL.

Bemerkenswert ist das Bauwerk auch in technischer Hinsicht. Der gesamte Innenraum - und dazu gehören Bibliothek, Buchhandlung, Lernbereich, Restaurant, Kantine, Café, Media and Science Lab, Verlagsbüros und Portier - kommt ohne Wände und ohne räumliche Trennung aus. Einzig und allein die Sanitärgruppen und anmietbaren Besprechungszimmer sind in runden Bubbles aus Glas und Gipskarton untergebracht. Doch wirklich laut wird's hier nirgendwo. Kaum hat man einen Hügel erklommen, eine Talsohle erreicht, eine Kurve gekratzt, verstummt der eben noch gehörte Lärm zu einem dumpfen Nichts.

„Mit der Akustik haben wir uns sehr lange beschäftigt“, sagt Manfred Grohmann vom Wiener Ziviltechnikerbüro Bollinger Grohmann Schneider. „Die gute Schalldämmung liegt zwar auch an den absorbierenden Oberflächen, die hier eingesetzt wurden, vor allem aber an der speziellen Gebäudegeometrie.“ An den gewölbten Böden und Decken bricht sich der Schall so oft, dass vom lautstarken Mittagessen in der Kantine 50 Meter weiter nichts mehr zu hören ist. In der Bibliothek ist es ... mucksmäuschenstill.

Ökologischste Uni Europas

„Für mich als Techniker ist das ein absolutes Once-in-a-Lifetime-Projekt“, sagt Grohmann, „so was kommt nicht wieder.“ Hunderte weitere Dinge gäbe es zu sagen: von der Betonkernaktivierung mit dem Wasser aus dem Genfer See über die riesigen Spannglieder im Boden, die die flachen Kuppelbögen aus Stahlbeton zusammenhalten, bis hin zu der überaus erfolgreichen Zusammenarbeit mit Schweizer Blinden- und Behindertenverbänden. Das ganze Haus ist von Rampen und Rollstuhlliften durchzogen und sogar mit einem Blindenleitsystem ausgestattet. Am Ende erfüllt das neue Learning Center alle Kriterien für den nationalen Minergie-Award und gilt laut Fachleuten als das umweltfreundlichste und energieeffizienteste Universitätsgebäude Europas.

Mit einem Wort: ein Traum in Weiß. Doch wie ist all das möglich? Die Baukosten von insgesamt 110 Millionen Fränkli (rund 77 Millionen Euro) teilen sich EPFL und private Investoren. Ein klassisches PPP-Modell also. „50 Millionen Franken, fast die Hälfte des Budgets, kommt von Unternehmen, die in der Schweiz ansässig oder zumindest hier tätig sind“, sagt Michael Mitchell, internationaler Pressesprecher der École. Mit an Bord sind Nestlé, Novartis, Logitech, SICPA, Bouygues Construction, Credit Suisse - und zum größten Teil natürlich der Namensgeber Rolex.

„Das Besondere an diesem Public Private Partnership ist, dass die Firmen die riesigen beigesteuerten Geldmengen nicht als Sponsoring, Spende oder reine Beteiligung auf Basis eines Contracting-Modells sehen, sondern dass sie ganz genau wissen, wie sehr sie von dem Know-how dieser Schule, von dem dichten Think-Tank, der hier herrscht, profitieren können - und natürlich umgekehrt!“

Wie man sieht, trägt die langjährige Zusammenarbeit von Universität, Forschung und Wirtschaft pralle, schmackhafte, ja wahrlich exotische Früchte. Man muss sie nur früh genug säen. In Österreich hingegen sind die PPP-Projekte, sofern sie überhaupt zustande kommen, ein absolutes Trauerspiel. Der neue Campus der WU Wien, universitäres Aushängeschild der Nation, wird ohne PPP realisiert.

In der Schweiz ticken die Uhren eben anders. „Das Rolex Learning Center entspricht unserer Vorstellung einer Universität der Zukunft“, sagt Patrick Aebischer, Präsident der ETH Lausanne, „einer Universität, die keine Schranken zwischen den Disziplinen kennt und die durch wissenschaftliche Arbeit zum Fortschritt der Gesellschaft beitragen kann.“

Das Rolex Learning Center ist von sieben Uhr in der Früh bis Mitternacht geöffnet. Sieben Tage die Woche. Für alle.

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Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

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