Bauwerk

Neue Synagoge Mainz
Manuel Herz Architects - Mainz (D) - 2010
Neue Synagoge Mainz, Foto: Gerhard Hagen / poolima
Neue Synagoge Mainz, Foto: Gerhard Hagen / poolima

Der Raum zwischen den Zeilen

Mainz hat eine neue Synagoge. Architekt Manuel Herz schuf sie mit Beton und Keramik - und mit der Kraft der hebräischen Schrift.

8. Januar 2011 - Wojciech Czaja
Reichskristallnacht, November 1938: Im Deutschen Reich werden 191 Synagogen niedergebrannt, 76 weitere werden verwüstet und zerstört. Unter den Trümmern am Morgen des 10. November findet sich auch die Synagoge Mainz, ein klassizistischer, pompöser Rundbau aus dem Jahr 1912.

Mehr als sieben Jahrzehnte muss Mainz ohne Synagoge auskommen. Gearbeitet und gebetet wird in den Räumlichkeiten einer gründerzeitlichen Wohnung in der Mainzer Neustadt. „Bis in die 90er-Jahre hat das recht gut funktioniert“, sagt Stella Schindler-Siegreich, Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz. „Mit dem Zuzug vieler Russen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Situation allerdings dramatisch verändert. Innerhalb weniger Jahre ist die Gemeinde in Hessen von 70 auf über 1000 Mitglieder angewachsen.“

Mainz, dessen architektonische Sehenswürdigkeiten bisher an einer Hand abzuzählen waren, hat seit letztem Jahr ein schönes Stück Baukunst mehr: die Synagoge Maor Hagolah, Licht der Diaspora. Als hätte Daniel Libeskind Pate gestanden, wandert das Gotteshaus an der Hindenburgstraße (Baukosten rund sechs Millionen Euro) auf und ab, springt vor und zurück, faltet sich schließlich zu einem mäandrierenden, expressionistischen Etwas zusammen.

Die Ähnlichkeit zu Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin, fertiggestellt zur Jahrtausendwende, ist kein Zufall. Der Wettbewerb für die Synagoge Mainz wurde 1999 ausgeschrieben, zeitgleich zum Bau des großen, silbrig glänzenden Zickzacks in der Spreemetropole. Der Dekonstruktivismus war damals hoch im Kurs.

„Die Synagoge hat nichts mit Dekonstruktivismus und schon gar nichts mit Libeskind zu tun“, sagt der Schweizer Architekt Manuel Herz. „Aber natürlich ist es kein Zufall, dass sich diese zeitgenössische Form der Architektursprache in den letzten Jahren vor allem in der jüdischen Kultur durchgesetzt hat.“ Das Judentum sei die einzige Religion im Abendland, die jahrtausendelang über keine eigene Architektur verfügte. „Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem 70 nach Christus gibt es keine traditionelle jüdische Baukultur mehr“, sagt Herz. In den Pogromnächten 1938 seien schließlich auch die jüngsten Versuche einer jüdisch-baulichen Identität zerstört worden.

„Die Produktion von Räumen hat sich im Judentum im Gegensatz zu anderen Religionen nicht in Bauwerken abgespielt, sondern in Büchern sowie in der überaus plastischen hebräischen Schrift“, erklärt der Architekt. „So war es möglich, trotz Diaspora jahrhundertelang einen ganz eigenen, spezifischen Raumbegriff aufzubauen.“ Genau diesem Schreiben ist die Form der Mainzer Synagoge zu verdanken. Wie ein abstraktes Abbild des hebräischen Segenswortes Qadushah entwickelt sich die Fassade in die Höhe, ist mal härter, mal weicher, bis sie sich an ihrem östlichen Ende zum weit überhängenden, hebräischen Buchstaben Qoph aufbäumt.

„Es geht nicht darum, das Haus lesen zu können, schließlich ist das ein Gebäude und keine Schriftrolle“, erklärt Herz. „Sehr wohl lässt sich an der Fassade aber eine gewisse Dialektik erkennen. Zwischen Passanten und Synagoge entsteht eine Art Gespräch - ganz gleich, ob man jüdischen Glaubens ist oder nicht.“

Wie Fluchtpunkte sitzen die wild geschnittenen Fenster in der Außenwand, gerahmt von Passepartouts aus grün lackierten Keramikstäben. Die Geometrie der Verkleidung ist bis zur Perfektion getrieben. Winkel und Gehrungsschnitte sind millimetergenau aufeinander abgestimmt. Der Betrachter wird so zum Opfer eines perspektivischen Täuschungsmanövers.

„Die Fassade wirkt auf den ersten Blick aufwändig, tatsächlich ist das System aber sehr einfach und redundant“, sagt Manuel Herz zum Standard. „Wir haben in der Strangpresse 17.000 Meter von diesem Keramikprofil herstellen lassen, danach mussten die Stäbe nur noch in die gewünschte Länge geschnitten werden.“ Durch die färbige Glasur schimmert die Synagoge je nach Sonnenstand mal gelbgrün, mal smaragdfarben, bis sie in der Dämmerung zu einer dramatischen, schwarzen Skulptur aus dem Cabinet des Dr. Caligari mutiert.

Durch eine schwere Tür aus Aluminiumguss - an der Außenseite ist der Schriftzug Maor Hagolah, Beit Knesset Magenza (Licht der Diaspora, Synagoge Mainz) zu lesen - gelangt man in ein rundum weißes Foyer aus zueinander schräggestellten Wand- und Dachflächen. Viele kleine Fenster.

Alles sehr dramatisch. Schade nur, dass in den Nebenräumen Boden und Türen, scheinbar in einem Moment der mentalen Erschöpfung, lavendelfarben zugekleistert wurden. Hier verkommt das eben noch beeindruckende Gebäude zu einem Kartenhaus im Kindergarten-Look. Neben Verwaltungs- und Bürotrakt, Dienstwohnung, Unterrichtsräumen sowie einem großen Veranstaltungssaal führt eine der geheimnisvollen Türen in den eigentlichen Gebetsraum. Und wieder Buchstaben: Die Wandoberflächen sind über und über mit Millionen von stilisierten hebräischen Schriftzeichen gesäumt. Ab und zu nur lichtet sich das geometrische Relief und macht Platz für einen Vers aus der Tora.

Prächtig bricht sich das Licht an den bronze- und goldfarbenen Wänden. Wie ein Trichter, der sich hungrig nach oben streckt, öffnet sich an dieser Stelle das überhängende Qoph in den Himmel. Durch ein rund 200 Quadratmeter großes Glasdach strömt das Tageslicht direkt auf die Bimah, von wo aus während der Gottesdienste aus der Tora gelesen wird.

„Die neue Synagoge ist mehr als nur ein Gotteshaus“, sagt Stella Schindler-Siegreich. „Sie ist Treffpunkt und Veranstaltungsort für alle, die an unserer Gemeinde und an der jüdischen Kultur interessiert sind.“ Der Beweis ist erbracht: Die ersten Seminare, Konferenzen und Konzerte sind bereits über die Bühne gegangen.

Ist das die neue Architektur des Judentums? Das erste Wort ist gesprochen. Der Rest wird sich mit der Zeit entziffern.

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