Bauwerk

Wohnheim Olympisches Dorf Innsbruck
ARTEC Architekten - Innsbruck (A) - 2014
Wohnheim Olympisches Dorf Innsbruck, Foto: Lukas Schaller

Schweben mit Verstand

Eine Standardaufgabe an einem außerordentlichen Ort: Mit dem Wohnheim im Olympischen Dorf in Innsbruck zeigen Artec, wie menschengerecht ein architektonisches Meisterwerk sein kann.

16. Januar 2016 - Christian Kühn
Die Stadt als Parklandschaft mit eingebetteten Hochhäusern, das war die Maxime des Städtebaus der 1960er- und 1970er-Jahre. Le Corbusier hatte die Idee schon 1922 mit dem Konzept seiner „ville contemporaine“, einer Stadt für drei Millionen Einwohner, in die Welt gesetzt. Fast jede europäische Stadt, die sich nach 1945 erweiterte, hat von dieser Idee zumindest ein Stück abbekommen. Auch in Innsbruck gibt es einen Stadtteil, der paradoxerweise Olympisches Dorf heißt, aber von Hochhäusern geprägt ist. Sein Name geht auf die Austragung der Olympischen Spiele in den Jahren 1964 und 1976 zurück. In beiden Fällen wurden jeweils rund 700 Wohnungen errichtet, Punkthochhäuser mit sternförmigem Grundriss 1964, scheibenförmige Hochhäuser 1974. In den Jahren nach den Spielen wurde jeweils in derselben Typologie weitergebaut. Inzwischen leben hier knapp 7000 Menschen, zumgrößten Teil in Hochhäusern.

Wie in vielen anderen Fällen zeigt die Idee der dicht bebauten Parklandschaft auch in Innsbruck ihre inhärenten Schwächen. Sie ist weder Landschaft noch Park, weil die Hochhäuser einen Raum mit tiefen Schatten bilden, in dem sich nur schwer Landschaftsarchitektur betreiben lässt. Es gibt zu viele dunkle Winkel und zu wenig markante Orte. Durch die Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Handel und Verkehr gehören die Straßen den Autos, und in den Erdgeschoßen gibt es zu wenig Frequenz, um Geschäfte zu erhalten.

Trotz allem gehört das Innsbrucker O-Dorf zu den besseren Beispielen dieser Art von Stadt. Seine besondere Qualität liegt in der unmittelbaren Nähe zum Flussraum des Inn, bei dessen Regulierung eine bis zu 50 Meter breite, natürlich wirkende Uferpromenade mit dichtem Baumbestand angelegt wurde. Die Grünräume zwischen den Hochhäusern sind mit dieser Promenade verbunden, die eine echte Erholungszone ohne motorisierten Verkehr bietet.

Eine Bebauung dieser Promenade ist auf den ersten Blick unvorstellbar. Dass die Stadt Innsbruck trotzdem auf diese eiserne Baulandreserve zugreifen musste, hat demografische Gründe. Knapp 28 Prozent der Einwohner im Olympischen Dorf sind älter als 65 Jahre, mehr als in jedem anderen Bezirk der Stadt. Diesen Bewohnern einen Platz in einem Wohnheim in möglichst großer Nähe zu ihrem bisherigen sozialen Umfeld bieten zu können erforderte ein Heim mit 118 Betten und 10500 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche. Ein Haus dieser Dimension an einer attraktiven Stelle zwischen die Hochhäuser zu fädeln erwies sich als unmöglich. So kam man auf einen Bauplatz an der Schnittstelle zwischen den Sternhäusern der 1960er- und einer abgetreppten Scheibe aus den 1970er-Jahren, an dem sich bereits ein niedriger Bestandsbau befand. Dieser sollte ersetzt und durch einen in die Uferpromenade hineinreichenden Neubau erweitert werden.

Bettina Götz und Richard Manahl (Artec) konnten den Wettbewerb für das Projekt mit der Erfindung eines neuen Bautyps für sich entscheiden. Sie ersetzen den eingeschoßigen, linearen Bestandsbau durch ein Gebäude im alten Umriss und situieren an dessen Ende – genau am Übergang zur Uferpromenade – ein sechs Geschoße hohes Gelenk mit Treppenhaus und Lift. An dieses Gelenk schließen die Zimmertrakte an: Ein zweigeschoßiger Trakt folgt zuerst annähernd der Richtung des alten Bestandsbaus, schwenkt dann aber nach einer Wendung um 90 Grad in den Uferverlauf des Flusses ein. Ein höherer Trakt mit fünf Geschoßen zweigt gleich am Gelenk in einem Winkel von 45 Grad ab. Beide Trakte treffen sich in einem weiteren Erschließungsgelenk, wodurch ein dreiecksförmiger Hof entsteht, zu dem hin alle Erschließungsgänge der Zimmertrakte orientiert sind. Das Besondere an diesem Hof ist, dass er keinen Boden hat: Beide Zimmertrakte schweben mindestens fünf Meter, stellenweise bis zu acht Meter über dem Niveau der Uferpromenade und werden von nur neun zarten Stützen und einem kleinen runden Baukörper getragen, wodurch der Blick unter dem Gebäude hindurch fast ungehindert erhalten bleibt. Die kongeniale Freiraumgestaltung von Auböck und Kárász, die nicht nur das unmittelbare Umfeld des Heims, sondern einen längeren Abschnitt der Uferpromenade bearbeiten durften, verstärkt diesen Effekt durch die raffinierte Organisation von Wegen und Pflanzen.

Über die genauen Winkel zu sprechen, in denen Baukörper aneinanderstoßen, ist in diesem Fall angemessen. Die präzise Linienführung gehört zur besonderen Qualität der Architektur von Artec, wobei Präzision nicht impliziert, dass jede Linie rational erklärbar wäre. Der Typus des Hauses mit schwebendem Hof korrespondiert hier mit den vielen unterschiedlichen Linien der Häuser in der Umgebung, ohne eine zu bevorzugen.

Wer ein Beispiel für Josef Franks „Akzidentismus“ sucht, kann es hier finden: Präzision ohne Raster, Beweglichkeit der Linien zur Ausnutzung von Potenzialen, die sich im Entwurf eröffnen. Dazu gehört etwa die nach Süden orientierte Terrasse über dem zweigeschoßigen Zimmertrakt – ein schwebendes Deck auf der Höhe der Baumkronen –, aber auch die Tatsache, dass es hier keine Mittelgänge gibt und damit vor jedem Zimmer viel Licht. Ist das unwirtschaftlich? Nur, wenn man Qualität in Zahlen messen möchte. Wie viele Punkte Abzug gibt es für einen dunklen, toten Gang? Und wie viele Punkte mehr für einen Ort, an den man sich gern erinnert?

Qualität in der Architektur hat ihren Preis, der sich aber im Bereich weniger Prozente bewegt, wenn mit Verstand geplant wird. Sie braucht keine Abstriche bei der Ökologie zu machen: Das Heim im O-Dorf ist trotz der schwebenden Baukörper ein Passivhaus. Das setzt eine sehr exakte Planung voraus, bei der Artec eine Ästhetik verfolgen, die sich mit Konzeptkunst vergleichen lässt. In der Fassade walzblanke und eloxierte Aluplatten abwechseln zu lassen ist eine rein formale Entscheidung, die mit derselben Konsequenz behandelt wird wie die konstruktive Lösung, die diagonalen, in der Fassade liegenden Zugbänder hinter den Glasflächen sichtbar zu lassen. (Das Tragwerkskonzept von Peter Bauer/Werkraum Wien verdient eine besondere Erwähnung.) Hier ergänzen sich künstlerische Freiheit und konstruktive Notwendigkeit zu einer besonderen ästhetischen Kategorie, dem scheinbar Zufälligen. Das nimmt in Kauf, dass nicht alles „schön“ im konventionellen Sinn wird. Aber dafür ist es umso lebendiger.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at