Bauwerk

Tanz- und Musikschule in Versailles
Joly & Loiret - Versailles (F) - 2016

Mittlerfunktion

Tanz- und Musikschule in Versailles (F)

Mit crème-weißen Klinkern, eigenwilliger Dachform und wohlüberlegter Fassadenaufteilung bringt der Schul­erweiterungsbau eine seiner Bedeutung angemessene Note ins Spiel, ohne den Kontext zu überstrahlen. Die gleichermaßen edle wie auch vertraut wirkende Hülle verweist bereits auf die neutral gestalteten Innenräume, die störungsfreies Üben gewährleisten.

1. März 2017 - Achim Geissinger
Der Name »Versailles« lässt durchaus ein wenig mehr Glamour erwarten. Doch starke 20 Minuten Fußmarsch vom Schloss entfernt, nachdem die zentrale Avenue de Paris einen leichten Knick gemacht hat, fallen die Palais schon deutlich niedriger aus, von Nachkriegsbauten durchsetzt nähert sich die Straßenansicht dem französischen Durchschnitt, zeigt sich die Haltestelle der Vorortbahn so ungepflegt wie überall in der Île-de-France.

Von der Avenue aus künden allenfalls einzelne Kinderzeichnungen in den Fenstern von der Grundschule Lully-Vauban und dem angeschlossenen Kindergarten. Das Ensemble liegt versteckt hinter austauschbaren Wohnbau­fassaden und bildet mit drei Höfen eine eigene abgeschlossene Welt für sich.

Wer die richtige Wagendurchfahrt zu wählen weiß, findet sich in einer disparaten Situation wieder: linkerhand schreit die gezackte, vertikale Loggienlandschaft einer postmodernen Wohnungsbaurückseite erfolgreich gegen das in den 60ern orthogonal gerasterte Schulgelände an. Weiter hinten kauern kleine, verbaute Einfamilienhäuschen, schämen sich ihrer eigenen Geringfügigkeit und hoffen, vom Fraß der Blockrandbebauung verschont zu bleiben.

In diesem Umfeld zu vermitteln, ist keine leichte Aufgabe und kann mit einem Zuviel an eigener Duftnote schnell scheitern. Den im Wettbewerb siegreichen Architekten Joly & Loiret gelingt es mit ihrem weiß verklinkerten Erweiterungsbau tatsächlich, die Balance zu halten zwischen Anpassung, Ausgleich und auch einer ausreichend auffälligen Erscheinung, die seiner Sondernutzung gerecht wird.

Zwischen Welten

Frankreich hat es gut, denn allerorten, auch tief in der Provinz, werden Kulturzentren ausgebaut oder gar neu eingerichtet. Der Gemeindeverband Communauté d’agglomération de Versailles Grand Parc leistet sich ein musisches Bildungsangebot nach Art einer Volkshochschule, das er über vier Standorte verteilt anbietet. Mit dem neuen Standbein auf dem Schulgelände schlägt die klamme Kommune mehrere Fliegen mit einer Klappe: Sie kann den Schülern direkt vor Ort erweiterten Musik- und auch Tanzunterricht anbieten, der Zugang zum Hauptgebäude ließ sich mitsamt der Pförtnerloge neu ordnen und die Schulmensa hat entscheidende Quadratmeter hinzugewonnen.

Die gesamte Gebäudeerweiterung ist durchweht vom Pragmatismus der ­Architekten, die ihre Architektur stark vom Nutzen her denken und in unzähligen Einzelentscheidungen zu vielen guten Lösungen kamen.

So ist die eigenwillige Kubatur weniger Ausdruck eines unabhängigen Formwillens als vielmehr dem Wunsch geschuldet, den beiden Tanzsälen im OG genügend Weite zu verleihen. Die exzentrische Anordnung der Oberlichter in den Pyramidenstümpfen, die das Dach bilden, geben den Tänzern ebenso Orientierung im Raum wie die unregelmäßigen Fensteröffnungen und die ­Lage der Spiegelwand. Der Kamineffekt unterstützt die (mechanische) Entlüftung.

Zudem ließ sich so ein Hochpunkt generieren, der dem Neubau – mangels Straßenraum, in den er hineinwirken könnte – gleich hinter der Durchfahrt einige, seinem öffentlichen Charakter angemessene, Dominanz verschafft.
Mit den Klinkerwänden gelingt die Anbindung an die mineralisch geprägte Umgebung. Zugleich schaffen Vertrautheit des Materials und menschlicher Maßstab einen ins Anheimelnde spielenden Eindruck, welcher in Holzfensterrahmen sogleich eine Erweiterung erfährt.

Die weißen Klinker ausfindig zu machen, bedurfte einiger Recherche. Freilich sind sie nicht blendend weiß, sondern ergeben in der Gesamtheit einen gebrochenen Crème-Ton, der sich wiederum fein in den Umgebungsfarbklang mit vielerlei Gelb- und Rottönen einfügt. Insofern muss man die Fotografen ­einerseits der kongenialen Wiedergabe der Entwurfsgedanken wegen loben, andererseits aber der Lüge zeihen, denn auch bei ­winterlich bedecktem Himmel erscheint keines der Gebäude ringsum als so weiß wie im Bild – bei willentlicher Betrachtung …, denn die Psyche deutet die Physik durchaus um: zum Eindruck »weiß«.

Raumgefühl

Zum Entwurfskonzept gehört der strenge Gegensatz zwischen den Nicht­farben außen und in den Übungsräumen gegenüber den warmen Tönen der Erschließungszone. Die beiden Flure und das verbindende Treppenhaus sind eine Offenbarung in Sachen Aufenthaltsqualität: Holzoberflächen, gewachste Lehmwände, akzentuierende Beleuchtung und eine Vielzahl von Sitzgelegenheiten, wahlweise im Fensterrahmen, entlang der Wände oder in der Arbeitsnische würden jedem Wellnesshotel Ehre machen.

Ganz erheblich zur Wirkung trägt die Deckengestaltung der Künstlerin Marie Maillard bei. Sie hat sich schon bei der Zusammenarbeit mit Jean Nouvel ­Meriten erworben und nimmt mit Farben und Formen assoziativ Bezug auf Kräfte in der Natur, die Sonne (Ludwig XIV.), Bewegung und musikalischen Atem. Das wohnliche Ambiente soll sich mäßigend auf das umtriebige Gemüt der Schüler auswirken, bevor sie in die Unterrichtsräume wechseln. Der ­Rezensent jedenfalls wollte nur ungern wieder aufstehen.

Wie stark schließlich der Kontrast zu den neutral und funktional gestalteten Umkleidebereichen und zu den Übungsräumen! Reinweiß gestrichen kommen diese Räume fast ganz zum Verschwinden und treten gänzlich vor dem zurück, was drinnen passiert. Sie bieten eine neutrale Folie, vor der sich die künstlerische Arbeit entfalten kann – die Konzentration liegt ganz auf den Agierenden und ihrem Tun. Die Fenster der Musikzimmer im EG liegen so hoch, dass noch ein Bezug zum Außenraum gewahrt bleibt, ohne dass aber durch Bewegung auf dem Hof Ablenkung entsteht. Die Schrägstellung der Trennwände im Grundriss ergibt leichte Störungen, die ein Regal- oder Schubfachgefühl auf subtile Weise verhindern. Zudem gibt es unterschiedlich tiefe Abstellflächen in und unter Schränken für allerlei Gerätschaften und ­Instrumente. Grafisch angeordnete Lichtbänder in der Decke sorgen für ein wenig Dynamik.

Pragmatisch nach den Anforderungen gesetzte Öffnungen für Durchgänge, in die Wand eingelassene Schränke und Technik wirken leider sehr willkürlich und blieben ohne gestalterische Anbindung. Man wünscht sich ein paar wenige durchgängige Linien, ordnende Elemente – aber wer zahlt bei durchschnittlich knappem Budget für Zierleisten oder unterschiedliche Putz­strukturen?

Höchst pragmatisch gingen die Architekten auch bei der Konstruktion vor. Das UG entstand der »lauten« Musikräume wegen massiv in Beton. Die ­Räume sind akustisch vollständig entkoppelt, quasi als Haus im Haus. Da die Baustelle den Schulbetrieb möglichst wenig beeinträchtigen sollte und über die Durchfahrt nur sehr schlecht angeliefert werden konnte, wurde das OG als Holzständerkonstruktion ausgeführt – was den Architekten entgegenkam, da sie sich den natürlichen Materialien, z. B. aus nachhaltiger Forstwirtschaft, ohnehin näher fühlen und zu deren Anwendung auch forschend tätig sind.

Mit den ausführenden Firmen hatte man weniger Glück: Die Ziegelwand zum Hof musste dreimal gemauert werden, bis man sich für deren Erscheinungsbild nicht mehr schämen musste. Auch die Schreiner dachten, sie kämen mit dem halben Aufwand davon, und müssen immer noch nacharbeiten. Sicherheitshalber und um einen ruppigen Beiklang einzumischen, wurden die Holzeinbauten, Tür- und Fensterrahmen gleich von vornherein in simplen, robusten Formen ohne Gehrung entworfen. Für Schweizer Handwerk wäre vieles davon schmachvoll. In Frankreich darf man aber bereits von einem Maximum sprechen. Ohnehin erhebt sich die Frage, ob gute Architektur nur als solche gelten darf, wenn sie perfekt ausgeführt ist. So eng gesehen müsste man vieles aus den Geschichtsbüchern streichen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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