Bauwerk

Tonhalle Maag
Spillmann Echsle Architekten - Zürich (CH) - 2017
Tonhalle Maag, Foto: Hannes Henz
Tonhalle Maag, Foto: Hannes Henz

Ein neuer Dreiklang für Zürich

Die «Tonhalle Maag» im Industriequartier ist eine Chance für das Kulturleben der Stadt.

Der Saal

wdh. Nun also auch Zürich. Endlich braucht die selbsternannte Kultur- und Musikstadt an der Limmat nicht mehr abseitszustehen, wenn es um das vielerorts heiss diskutierte Thema «neue Konzertsäle» geht. Wie hat man bisher neidvoll auf Hamburg geblickt, das sich mit der Elbphilharmonie einen weltweit ausstrahlenden Leuchtturm errichtet hat. Oder auch auf die eidgenössische Konkurrenz in Lugano, wo mit dem LAC ein deutlich kleineres, aber für das Musikleben im Kanton nicht minder wichtiges Konzertsaal-Projekt verwirklicht wurde.

Gar nicht zu reden von den vielen weiteren Städten in Europa, darunter Paris, Helsinki und Reykjavík, Stettin, Breslau und Bochum, die sich jüngst allesamt mit ausgesprochen prestigeträchtigen Konzerthäusern geschmückt haben. Doch von heute an kann Zürich mitreden: Auch hier hat man einen neuen Saal bekommen – zwar zunächst nur auf drei Jahre. Aber das wird man sehen. Die «Tonhalle Maag», wie die Tonhalle-Gesellschaft die neue Interimsspielstätte ihres Orchesters in sinniger Analogie nennt, erhebt sich mitten im Industriequartier an der Hardbrücke.

Sie ist in vieler Hinsicht ein origineller Gegenentwurf zur 1895 eröffneten Tonhalle am See, die bis 2020 umfassend saniert wird. Obwohl sich beide Säle in Aufbau und Grundriss ähneln, könnte der Kontrast kaum grösser sein: Keine Spur vom überbordenden, künftig sogar wieder vergoldeten Figurenschmuck im Altbau – der neue Saal setzt, passend zum postindustriellen Charme des umgebenden Quartiers, ganz auf Schlichtheit in hellem Holz.

Dagegen hat man in der offiziell für elf Millionen Franken umgebauten ehemaligen Industriehalle auf dem Maag-Areal keine Kosten und Mühen gescheut, was den wichtigsten Punkt eines jeden Konzertsaals betrifft: Für die Akustik hat man mit Karlheinz Müller den wichtigsten europäischen Konkurrenten zum Elbphilharmonie-Akustiker Yasuhisa Toyota engagiert. Müller und sein Team sorgen nun schon seit Wochen mit allerlei Tricks und kleinen baulichen Anpassungen dafür, dass der Klang der neuen Tonhalle bereits bei den vier Konzerten zur Eröffnung (27. bis 30. September) so rund und plastisch wird, wie es die architektonischen Gegebenheiten eben zulassen. Damit Brett Deans neues Bratschenkonzert und das Feierstück par excellence, Beethovens 9. Sinfonie mit der Ode «An die Freude», auf Anhieb angemessen festlich tönen.

Das Quartier

ant. Auf den Umzug der Orchester aus der Tonhalle am See in einen neuen Konzertsaal beim Prime Tower kann man eigentlich nur mit einem grossen Glas Champagner anstossen. Wir haben zwar versäumt, zu fragen, ob dieser an der Theke im Foyer unter den schönen, runden, alten Heizstrahlern ausgeschenkt wird. Aber in dieser Halle, in der bis in die neunziger Jahre Getriebe, Pumpen und Zahnräder hergestellt wurden und bis vor wenigen Jahren noch wild getanzt wurde, wäre es auch in Ordnung, ein Bier aus der Flasche zu trinken.

Nein, die Gegend rund um die Hardbrücke ist nicht mehr das, was sie einmal war. Die Schrebergärtner sind weg und die Künstler ebenso, und das Gewerbe darf hier keinen Lärm mehr machen, weil es jetzt Anwohner gibt, die sich darüber beschweren. Aber ein klein wenig von dem Grossstadt-Charme hat das Quartier trotzdem behalten.

Unweit des Eingangs der nun so genannten «Tonhalle Maag» steht manchmal eines dieser Lunch-Mobile, vor denen man sich immer ein bisschen fühlt wie in New York – in der Mittagspause quatscht man mit dem Hotdog-Verkäufer. Auch wird sich diese Strassenplauderstimmung im Foyer und bis vor die Türen des Konzertsaals fortsetzen.

Der Saal wurde von den Architekten Spillmann Echsle hinter die Foyerhalle perfekt in eine zweite Fabrikhalle hineingesetzt, so dass man vor einem «Raum im Raum» auf den Einlass wartet. Hier darf man den Musikern «guten Tag» sagen – wenn sie die Bühne erreichen wollen, nehmen sie denselben Weg wie das Publikum, das links zum Parkett möchte. Schön ist auch das Stahlgerüst der Wände, es begrüsst einen wie auf einer Baustelle, die für das Richtfest geputzt wurde. Es gibt kaum Anstrich und kein zusätzliches Dekor. Der Industrieort steht zu sich selbst. Und das ist genau richtig so.

Im Konzertsaal selbst fühlt man sich deshalb, jedenfalls wenn das Licht hell brennt, kurz wie in einer finnischen Sauna, weil alles mit Fichte verkleidet ist. Egal wohin das Auge blickt, es trifft auf helles Holz. Leider hängt auch die Galerie direkt über den Köpfen der auf dem Parkett am Rand Placierten, das könnte etwas bedrückend wirken. Dafür wird einen aber niemals, wie zuweilen auf den oberen Sitzreihen in der Sauna, die Hitze-Platzangst ereilen.

Der Konzertsaal, der Form nach eine «Schuhschachtel», wie die Architekten sagen, misst fast 1000 Quadratmeter und öffnet sich vom Parkett aus nach oben in die Länge, auf Balkon und Empore fühlt man sich deshalb besonders wohl. Insgesamt können 1224 Personen auf samtbezogenen Stühlen Platz nehmen, die alle Beinfreiheit garantieren.

Die Lüftungsanlage wurde in den Keller verwiesen und pustet leise frische Luft durch Tausende kleine Löcher im Fussboden, so dass niemand schwitzen (oder frieren) muss. Für eine Spielstätte auf Zeit sind alle diese Bausteine die besten Voraussetzungen, damit man sich auf alles einlassen kann, was temporäre Mietverträge so mit sich bringen: Man darf ein neues Leben beginnen. Wenn es einem gefällt, besetzt man das Haus, wenn man gehen muss, ist man bereits ein anderer.

Der Mensch

vö. An der Hand meiner Mutter steige ich die Treppe hinauf, meine Lackschuhe scheinen im weichen Treppenläufer förmlich zu versinken. Ich bin die Prinzessin an der Seite einer Hofdame in bodenlangem Kleid; auch das goldene Ohrgehänge und die hochhackigen Schuhe trägt meine Mutter nur in der Tonhalle. Sobald wir oben angekommen sind, umfängt uns der Parfumduft des eleganten Publikums, das vor den Flügeltüren des Konzertsaals plaudert.

Meine Mutter ist mit Abstand die Schönste, jahrelang halte ich an dieser Einschätzung fest. Sie grüsst da und dort, das Stammpublikum scheint eine einzige grosse Familie zu sein. Dann bimmelt ein Glöcklein, der grosse Moment ist gekommen: Wir tauchen ein in den glänzenden Prunk des Konzertsaals, von dessen bemaltem Gewölbe sich ein riesiger Kronleuchter ins Parkett hinunter senkt.

Das auf die Bühne strömende Orchester ist Teil eines Märchens, dessen Klang perfektioniert das Bild – doch irgendwann geht sein Glanz verloren. Natürlich hat dies auch mit einer Wahrnehmungsverschiebung zu tun: Je älter ich werde, desto zentraler wird die Musik. Dass unser Konzerttempel Patina ansetzt, ist deshalb nicht weiter dramatisch – zumal es stets heisst, er sei akustisch einer der besten der Welt. Mit zunehmendem Alter wird aber auch meine Mutter kritisch.

Eines Tages spricht sie Klartext: «Die Tonhalle ist muffig, die einmalige Akustik ein Mythos. Für die ganz grossen Orchesterbesetzungen ist dieser Saal komplett ungeeignet.» Ihre Ohren hat sie im Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) geschult. Im KKL entdeckt sie auch die befreiende Wirkung moderner Konzerthaus-Architektur. Inzwischen ist meine Mutter hochbetagt. Sie trägt gerne leichte Kleider, verzichtet auf Accessoires – ausser auf ihren Stock, ohne den sie sich nicht mehr auf die Strasse getraut. Dass vor der alten Tonhalle keine Strassenbahn und kein Bus hält, findet sie noch schlimmer als den heruntergekommenen Saal, dem sie seit seiner vorübergehenden Schliessung keine Träne nachweint.

Trotzdem hätte sie fast das Abonnement gekündigt: «Ich schaffe es nicht ins Industriequartier», sagte sie. Doch dann stützte sie sich auf meinen Arm – und liess sich die neue Spielstätte beim Prime Tower vorführen. Sie ist begeistert. Da ist zunächst die gute Erreichbarkeit: Ihre S-Bahn aus dem Knonauer Amt fährt direkt an den Bahnhof Hardbrücke. Gleich um die Ecke befindet sich die Tonhalle Maag, ebenfalls in Fussdistanz gibt es Parkhäuser, und Taxis dürfen direkt vor dem Eingang halten.

Dankbar ist sie, dass sie nicht mehr auf dem Balkon, sondern im Parkett sitzen wird – und so ihren Platz ohne Stufen erreichen kann. Vor allem aber gefällt ihr die radikale Schlichtheit des Konzertsaals ausnehmend gut. Nach all dem, was sie über die Arbeit des renommierten Konzertsaal-Akustikers Karlheinz Müller gelesen hat, erstaunt sie David Zinmans Einschätzung nicht: Die Akustik erinnere ihn eher an das KKL als an die alte Tonhalle, erklärte der Ehrendirigent des Tonhalle-Orchesters nach einem Testlauf.

Meine Mutter gehört zu den 80 Prozent Abonnentinnen und Abonnenten, die aufbrechen wollen. Bereits jetzt ist für sie klar: «Auch wenn ich in drei Jahren noch auf den Beinen bin, möchte ich nicht mehr in die alte Tonhalle zurückkehren.» Sie hofft schon heute auf ein Providurium für alte und neue Musik.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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