Bauwerk

Schweizerisches Landesmuseum - Erweiterung
Christ & Gantenbein - Zürich (CH) - 2015
Schweizerisches Landesmuseum - Erweiterung © Architron

Neues Nationalmuseum Schweiz: Ein Knick ist kein Klacks

Am Montag wurde in Zürich das Schweizerische Nationalmuseum eröffnet. Die Architekten Christ & Gantenbein spielen im spektakulären Erweiterungsbau mit der Geschichte. Da kann man sich was abschauen

6. August 2016 - Wojciech Czaja
Nackte Betonwände. Alles ist kühl und grau. Fast so, als hätte das Museum alle Farbnuancen, alles Prächtige zwischen Gelb und Violett, aufgesaugt wie ein schwarzes Loch. Doch plötzlich hängt ein Renaissancebild an der Wand, eine Votivtafel von Paul Lautensack dem Älteren. Es zeigt ein Schiff in Seenot, dramatisches Gewitter, ein Christuskind über dem Wolkenband. Die Farben leuchten kräftig und lebendig in den Raum hinein.

„Man würde vermuten, dass Beton und kunsthistorische Artefakte nicht wirklich gut zusammengehen“, sagt Heidi Amrein, Chefkuratorin im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich. „Aber das Gegenteil ist der Fall. Die massiven Betonwände mit ihren sprechenden Schatten und Spuren der Holzverschalung sind ein wunderbarer Untergrund für unsere Exponate. Eine kühle, minimalistische White Box, wie sich das manche gewünscht hätten, wäre an dieser Stelle absolut kleingeistig und popelig gewesen.“

Nur we­ni­ge Me­ter wei­ter ste­hen auf ei­nem So­ckel, hoch über den Köp­fen der Be­su­cher, der ge­flü­gel­te Mer­kur von Gi­am­bo­log­na aus dem Jahr 1600 so­wie ei­ne mehr als 500 Jah­re al­te Ma­don­na mit Kind. Über den zar­ten Kon­tu­ren der bei­den Sta­tu­et­ten of­fen­ba­ren sich Bli­cke auf Lüf­tungs­ka­nä­le, Kli­ma­ge­rä­te, Ka­bel­tas­sen, Schein­wer­fer und adams­kos­tü­mier­te Sprink­ler.

„Der Ver­lauf der Ge­schich­te ist nie et­was Li­nea­res“, sagt Ar­chi­tekt Ema­nu­el Christ. „Und Evo­lu­ti­on konn­te im­mer auch des­halb nur statt­fin­den, weil man das ge­stern Ge­mach­te zwar als Vor­bild her­ge­nom­men, da­mit aber ir­gend­wie auch ziem­lich bru­tal um­ge­gan­gen ist. Sonst hät­te sich wohl nie et­was ge­än­dert auf die­ser Welt. So ge­se­hen fü­gen wir uns ganz be­wusst und wahn­sin­nig ger­ne in die Tra­di­ti­on des ge­schicht­li­chen Ver­laufs.“

Fast 15 Jah­re hat­te die lau­ni­sche Ent­ste­hungs­ge­schich­te die­ses Hau­ses ge­dau­ert. Ver­gan­ge­nen Mon­tag schließ­lich, recht­zei­tig zum Schwei­zer Na­tio­nal­fei­er­tag, konn­te der 7000 Qua­drat­me­ter gro­ße Zu­bau von Christ & Gan­ten­bein Ar­chi­tek­ten fei­er­lich er­öff­net wer­den. 23.000 Be­su­cher folg­ten der Ein­la­dung, das ex­pres­sio­nis­ti­sche Be­ton­we­sen mit sei­nen mehr als 80 Zen­ti­me­ter di­cken Wän­den erst­mals zu be­tre­ten.

Als Bun­des­rat, Di­rek­tor, Ar­chi­tek­ten und Ku­ra­to­rin­nen im­mer wie­der von „emo­tio­na­len Mo­men­ten“ spra­chen und ein­an­der – ganz in eid­ge­nös­si­scher Ma­nier – mit Dank und Wert­schät­zung über­bo­ten, schien der Hor­ror der Ge­ne­se längst ver­ges­sen und ver­drängt. Dem 2001 aus­ge­schrie­be­nen, eu­ro­pa­wei­ten Wett­be­werb näm­lich, aus dem das da­mals noch blut­jun­ge Ba­se­ler Bü­ro Christ & Gan­ten­bein als Sie­ger her­vor­ge­gan­gen war, folg­te ein jah­re­lan­ger Kampf mit Fi­nanz­kri­se, Volks­ent­schei­den und bun­des­ge­richt­li­chen Pro­zes­sen.

Be­ton­cock­tail mit Tuff

„Ein Na­tio­nal­mu­se­um ist kein Klacks“, er­in­nert sich Ar­chi­tekt Christ. „Plötz­lich steht man mit­ten in Zü­rich, sieht sein ei­ge­nes Por­trät­fo­to auf Pla­ka­ten und merkt, dass man zum po­li­ti­schen The­ma ge­wor­den ist.“ Am En­de ließ man gar die Zür­cher Stadt­be­völ­ke­rung ent­schei­den, ob die Stadt die Kre­di­te für den ge­plan­ten Zu­bau auf­neh­men sol­le oder nicht. Die Ant­wort steht nun, un­über­seh­bar, an der Rück­sei­te des 1898 von Gus­tav Gull er­rich­te­ten Alt­baus zwi­schen Platz­spitz­park und den bei­den Flüs­sen Lim­mat und Sihl.

Wie ei­ne Trutz­burg aus Be­ton blickt das grau­brau­ne Be­ton­ge­bil­de hin­ter den dicht ge­wachs­enen Baum­grup­pen her­vor. Die Far­be der mit Was­ser­strahl ge­stock­ten Ober­flä­che er­gibt sich aus der be­son­de­ren Be­ton­mi­schung. Die Re­zep­tur orien­tiert sich an den bei­den Ma­te­ria­li­en, mit de­nen auch das Gull-Haus vor mehr als 100 Jah­ren er­baut wur­de: Kalk­stein und Tuff. Ein gan­zes Jahr lang dau­er­ten die Ex­pe­ri­men­te und Tests mit dem Tuff­stein, der noch nie zu­vor in ei­nem Be­ton­cock­tail ver­wen­det wur­de.

Doch dann, kaum ist man ein paar Schrit­te ge­gan­gen, ver­än­dert sich die Per­spek­ti­ve des eben noch schwe­ren Baus. Als hät­te das Chris­tus­kind aus dem Re­nais­san­ce­bild, hoch oben in den Wol­ken sit­zend, das Bau­werk an ei­nem durch­sich­ti­gen Fa­den nach oben ge­zo­gen, löst sich das Mu­se­um schein­bar schwe­re­los vom Bo­den. Un­ter dem zehn Me­ter ho­hen Knick er­gibt sich ein ge­deck­ter Frei­platz mit Durch­bli­cken und öf­fent­li­chen Spa­zier­we­gen.

„Die Kon­tur des Hau­ses ist ei­ne Fort­füh­rung all der Er­ker, Tür­me und wild ver­schach­tel­ten Gie­bel des his­to­ris­ti­schen Gull-Baus“, er­klärt Pro­jekt­lei­tern Mo­na Fa­rag. „Das ist zwar ei­ne sehr freie In­ter­pre­ta­ti­on, aber den­noch ent­steht so et­was wie ein Dia­log aus Alt und Neu.“ Leicht zu be­werks­tel­li­gen war die­ser Ge­sprächs­auf­bau aber nicht. Im Fun­da­ment des Hau­ses, das als räum­li­ches Trag­werk kon­zi­piert ist, ver­lau­fen hun­der­te Stahl­sei­le, die das fla­che Drei­eck zu­sam­men­zie­hen. „An­sons­ten wür­de der ge­knick­te Be­ton­bo­gen wie bei ei­ner Grät­sche in sich zu­sam­men­sa­cken.“

Ge­heizt wird mit Fern­wär­me, ge­kühlt mit dem Was­ser aus den bei­den be­nach­bar­ten Flüs­sen. Der Licht­ein­trag wird ge­ring ge­hal­ten. Bloß ein paar run­de Bul­lau­gen, die mit­tels Kern­boh­rung in die Wand hin­ein­ge­fräst wur­den, ge­ben den Be­su­che­rin­nen und Be­su­chern ab und zu Orien­tie­rung und Aus­blick in Park, oh­ne dass da­bei all­zu viel Ta­ges­licht auf die meist sehr sen­si­blen Ex­po­na­te fällt.

Ant­wort auf die Ge­schich­te

Dank den öko­lo­gi­schen und emis­si­ons­frei­en Ma­te­ria­li­en, die hier zum Ein­satz ka­men, er­reicht das Mu­se­um den Öko-Stan­dard Mi­ner­gie-P-Eco, was in Ös­ter­reich in et­wa ei­nem gu­ten Pass­iv­haus mit Kli­ma-ak­tiv-Zer­ti­fi­kat ent­spre­chen wür­de. 111 Mil­lio­nen Schwei­zer Fran­ken (rund 103 Mil­lio­nen Eu­ro) ließ man sich den Neu­bau mit Aus­stel­lungs­flä­chen, Bi­blio­thek und ge­ne­ral­sa­nier­tem, his­to­ri­schem Foy­er kos­ten.

„Doch das Wich­tigs­te ist die Funk­tio­na­li­tät die­ses Hau­ses“, sagt Chef­ku­ra­to­rin Am­rein. „Wir woll­ten ei­ne fle­xi­ble, frei be­spiel­ba­re Hal­le, und die ha­ben wir be­kom­men. Dass sie nicht so aus­schaut wie ei­ne Kis­te und wie wir uns das halt so vor­stel­len, ist der Fä­hig­keit der Ar­chi­tek­ten zu ver­dan­ken, die es ge­schafft ha­ben, die Ge­schich­te zu ver­ste­hen und da­rauf ei­ne Ant­wort zu ge­ben.“ Bis zu zwei Ton­nen schwe­re Ex­po­na­te kön­nen von der De­cke ab­ge­hängt wer­den. Im­mer wie­der blitzt ei­ne Zeich­nung oder ein Ge­mäl­de auf, das per Licht an die nack­te Be­ton­wand pro­ji­ziert wird.

Fra­ge an den Ar­chi­tek­ten: Wä­re so ein Bau auch in ei­nem an­de­ren Land mög­lich? „Nein, wahr­schein­lich nicht. Ich den­ke schon, dass wir Schwei­zer ei­ne ge­wis­se Auf­trag­ge­ber- und Be­stell­qua­li­tät ha­ben, dass wir wis­sen, was wir wol­len, und dass wir auch wis­sen, dass das, was wir wol­len, ei­nen Preis hat.“ 111 Mil­lio­nen Fran­ken sei­en zwar viel Geld, aber auf viel­leicht 100, 200, 300 Jah­re auf­ge­teilt, so Christ, viel­leicht auch wie­der nicht.

„Wis­sen Sie, wir le­ben in ei­ner Zeit und in ei­ner Ge­sell­schaft, die von kom­mer­ziel­len In­ves­to­ren be­herrscht und von ei­ner Scheiß-Weg­werf­men­ta­li­tät ge­prägt ist. Da­ge­gen wol­len wir an­kämp­fen.“ Das Re­nais­san­ce-Vo­tiv­bild mit dem Chris­tus­kind über den Wol­ken stammt aus dem Jahr 1511. Es zeigt ein Schiff in See­not, knapp vor dem Un­ter­gang des Abend­lan­des.

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