Veranstaltung

Das ganze Leben
Ausstellung
Das ganze Leben
15. Januar 2010 bis 30. März 2010
Wiener Planungswerkstatt
Friedrich-Schmidt-Platz 9
A-1010 Wien


Veranstalter:in: Wiener Planungswerkstatt, Stadt Wien
Eröffnung: Donnerstag, 14. Januar 2010, 17:00 Uhr

Revolution im letzten Zimmer

Geriatriezentren sind Häuser, in denen meist gestorben wird. Das neue Wiener Geriatriekonzept macht diesen Umstand erheblich würdevoller.

16. Januar 2010 - Wojciech Czaja
Monika Mustermann ist 95 Jahre alt, bettlägerig und so dement, dass sie kaum noch ihr Zimmer erkennt. Geschweige denn die Tochter. Vom Enkerl gar nicht erst zu sprechen. Doch heute ist ein schöner Tag, und die alte Monika liegt draußen auf dem Balkon, spielt mit den Sonnenstrahlen und hört den Vögeln beim Zwitschern zu.

Ab September 2010 wird diese Vision Realität sein. Dann nämlich wird in Wien-Leopoldstadt ein Geriatriezentrum eröffnet, das in der stationären Altenpflege völlig neue Maßstäbe setzt. Es ist eines von insgesamt neun Projekten, die im Rahmen des neuen Geriatriekonzepts entstanden sind und die der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) bis 2015 realisieren will. Einen Vorgeschmack darauf bietet die am Donnerstag eröffnete Ausstellung Das ganze Leben in der Wiener Planungswerkstatt.

„Die geriatrischen Anstalten, wie wir sie heute in Wien vorfinden, waren vor hundert Jahren zweifelsohne modern und innovativ“, sagt Michaela Mischek-Lainer, Projektentwicklerin und Konsulentin des KAV, zum Standard, „doch die Zeiten ändern sich, und mit ihnen zwangsweise auch die Architektur.“ Gemeinsam mit einer ganzen Horde an Fachleuten aus dem Pflege- und Medizinwesen, aus dem Architektur- und Wirtschaftsbereich schmiedete sie ein Raum- und Funktionsprogramm sowie eine Reihe von Qualitätskriterien, die beim Bau neuer Geriatriezentren der Stadt Wien ab sofort verbindlich sind.

„Alter, Krankheit und Tod sind ein Tabu. Doch warum drücken wir uns um das Thema herum, wo es doch anlässlich der demografischen Entwicklungen aktueller ist als je zuvor? Fakt ist: Geriatriezentren sind Häuser, in denen gestorben wird. Daher müssen wir weg von der Krankenhausmaschine und hin zu einem Wohn- und Pflegeheim, in dem aus der Sicht der Patienten nicht die Medizin, sondern die Lebensqualität im Vordergrund steht.“

Der Anforderungskatalog der KAV-Arbeitsgruppe ist streng und kennt kein Pardon. Demnach sollen bis 2015 alle bestehenden geriatrischen Anstalten rigoros umgebaut beziehungsweise für immer geschlossen werden. Durch den Bau neuer Geriatriezentren soll die Anzahl der Pflegeplätze von derzeit 9000 auf rund 10.000 gesteigert werden. Statt riesiger Altenghettos mit weit mehr als tausend Pflegeplätzen soll es in Zukunft nur noch Einrichtungen mit 240 bis maximal 350 Betten geben.

Jedem Zimmer seine Loggia

Neben der Dezentralisierung und der Verkleinerung der Standorte liegt ein weiterer Fokus auf der Gestaltung der Häuser selbst. Nur ein Beispiel: Gemäß dem neuen Konzept verfügt jedes einzelne Schlafzimmer ab sofort über eine eigene, üppig dimensionierte Loggia, auf der sogar ein sperriges und mit allerlei Hightech ausgestattetes Pflegebett Platz hat. Durch das Hinausrollen an die frische Luft soll sichergestellt werden, dass in Zukunft selbst jene Patienten Windböe und Sonnenstrahlen abbekommen, die aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit in der Regel nicht einmal mehr ihre Zimmer verlassen. Und das oft bis zu ihrem Tod. Tatsache.

Maßnahmen wie diese wirken sich freilich nicht nur auf den Komfort der Bewohner aus, sondern auch auf die Baukosten. Die neuen Geriatriezentren der Generation 2010 bis 2015 werden mit 3000 Euro pro Quadratmeter deutlich teurer sein als die alten, bisher gebauten Wohn- und Pflegeheime. „Angesichts der Tatsache, dass wir uns dank der hochwertigen Geriatriezentren in Zukunft womöglich das eine oder andere Spitalsbett sparen, halte ich eine Verteuerung der Baukosten um ein paar Prozent für absolut vertretbar“, sagt Mischek-Lainer.

Zum Vergleich: Pro Jahr gibt die Stadt Wien für ambulante und stationäre Pflege rund 700 Millionen Euro aus. Die Neubauoffensive des Wiener Geriatriekonzepts erscheint dagegen wie ein Sonderangebot aus dem Supermarkt. Mit einem Gesamtbudget von 350 Millionen Euro - das ist die Hälfte der jährlichen Betriebserhaltungskosten des Wiener Pflegesystems - kriegt man neun nigelnagelneue Wohn- und Pflegehäuser. Und was für welche!

„Mich erinnert das Wiener Geriatriekonzept an das Schulbauprogramm 2000“, sagt Helmut Wimmer, Architekt des Geriatriezentrums Leopoldstadt, „auch damals sind in kürzester Zeit ein paar innovative und zukunftsweisende Bauten entstanden.“ Das von ihm geplante, fröhlich bepinselte 300-Betten-Haus, das kurz vor der Fertigstellung steht, holt die alten und teilweise dementen Bewohner dort ab, wo sie in ihrem Lebensalltag bis zuletzt gestanden haben: im Schoße ihrer Gewohnheit.

„Wer in ein Geriatriezentrum übersiedelt, wird aus seinem Wohnumfeld mehr oder weniger brutal herausgerissen. Als Architekt muss man alles Erdenkliche tun, um diesen Schock so gelinde wie möglich zu halten.“ Die einzelnen Zimmer stecken wie bunte Wohnkartons im Hausregal. Dazwischen liegen Gänge, Plätze sowie Ruhezonen mit Bankerl und Blumenbeet. „Soweit dies möglich ist, stelle ich mir das Innenleben des Hauses wie eine Stadt im Miniaturformat vor. Die Leute sollen nicht im Zimmer 222 wohnen, sondern beispielsweise im knallgelben Sonnenhaus da oben am Eck.“

Das Zurückgreifen auf gewohnte Vergangenheitsbilder ist eine Taktik, die in den meisten neuen Pflegeheimen unübersehbar zum Tragen kommt. Im Geriatriezentrum Baumgarten, einem Projekt von Ganahl Ifsits und Silbermayr Welzl Architekten, wird es zweigeschoßige Volieren geben, in denen sich Buchfinken die Lieder aus dem Leibe zwitschern werden. Im Geriatriezentrum Innerfavoriten von Hermann & Valentiny werden die Wände zum Teil mit einem klassischen, omahaften Farbwalzmuster versehen sein - so richtig mit Schnörkelblume und Holunderzweig. Und im Wohn- und Pflegehaus Simmering wird Architekt Josef Weichenberger nach allen Mitteln der baulichen Kunst die Stadt neu interpretieren - mitsamt Straßenbahnhaltestellen, ÖBB-Fahrplankästen, Wiener Kaffeehaustischen und Streichelzoo.

Wie plant man für Demente?

Klingt kindisch und banal? Warten wir ab. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war noch niemals eine Leserin, ein Leser dieser Seite von Demenz betroffen. So gesehen ist es eine Freude, dass sich das neue Geriatriekonzept nicht mit Oberflächlichkeiten zeitgenössischer Baustilkunde beschäftigt, sondern stattdessen auf die spezifischen Bedürfnisse hochbetagter und schwerkranker Menschen eingeht.

Wie schreibt die US-amerikanische Alterswissenschafterin Naomi Feil in ihren 10 Grundsätzen der Validation? „Wenn das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, versuchen ältere Erwachsene, ihr Leben wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, indem sie auf frühere Erinnerungen zurückgreifen. Wenn die Sehstärke nachlässt, sehen sie mit dem inneren Auge. Wenn ihr Gehör nachlässt, hören sie Klänge aus der Vergangenheit.“

Dann sind Buchfinken auf dem Balkon, dann sind Sonnenstrahlen am Bauch wichtiger als fesche, flächenbündige Fassadendetails.

Ausstellung:
„Das ganze Leben. Neue Pflegewohnhäuser für Wien“, Wiener Planungswerkstatt, Friedrich-Schmidt-Platz 9. Montag bis Freitag 9-16 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr. Zu sehen bis 30 März 2010.

Buchtipp:
Franziska Leeb, „wohnen, pflegen, leben. Neue Wiener Wohn- und Pflegehäuser“, € 40 / 160 Seiten, erschienen im Bohmann-Verlag, 2009. Nach einem grafischen und haptischen Konzept von Gabriele Lenz.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at