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TEC21 2008|06
Denkmäler sanieren
TEC21 2008|06
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Kolonie im Wandel

Weil Komfort- und Raumansprüche sich ändern, haben Wohnbauten einen hohen Bedarf an kontinuierlicher baulicher Anpassung. Am Beispiel der Wohnkolonie «Industrie 1» der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP), deren Wohnungsangebot nach bald 100-jährigem Bestehen von Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten erneuert wurde, lassen sich einige grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld Denkmalpfl ege versus zeitgemässe Nutzungsanforderungen formulieren.

4. Februar 2008 - Beat Aeberhard
Der Befund war nicht ungewöhnlich: Nach knapp einem Jahrhundert Betrieb genügte die Wohnkolonie «Industrie 1» den veränderten Raum- und Komfortansprüchen nicht mehr und erwies sich als sanierungsbedürftig. Die Bauherrschaft sah sich indessen mit einer nicht alltäglichen Situation konfrontiert: Die Liegenschaft ist im kommunalen Inventar für schützenswerte Bauten eingetragen. Zur Auswahl stand somit die kurzfristige Behebung spezifi scher Mängel an Fenstern und im Küchen- und Sanitärbereich oder eine Erwägung längerfristiger Strategien. Die Planung eines Ersatzneubaus – wie der Abriss alter, vorwiegend günstiger, aber eben unzeitgemässer Wohnungen zu Gunsten eines Neubaus mit deutlich grösseren, moderneren und teureren Wohnungen euphemistisch umschrieben wird – stellte aus denkmalpfl egerischen Gründen keine Option dar. Doch nicht nur der unumstrittene Denkmalwert rettete die Siedlung vor dem Abbruch. Die zunehmend schwierig werdende Vermietung der durchwegs kleinen Wohnungen führte zur Überlegung, wie der Wohnwert gesteigert werden könnte, um insbesondere vermehrt Familien anzuziehen. Die Bausubs - tanz war grösstenteils in gutem Zustand und strukturell besonders geeignet, durch Zusammenlegung kleinerer Einheiten ein diversifi ziertes Angebot an grosszügigen Wohnungstypen zu gewinnen. Als weitere vordringliche Pfl ichtgebote gelten der Einbau von Aufzügen, der interne Schallschutz sowie das Bereitstellen privater Aussenräume. Die Verantwortlichen der Siedlung beschlossen daher, eine umfangreiche Sanierung in Angriff zu nehmen.Die Kolonie «Industrie 1» der BEP befi ndet sich im Zürcher Kreis 5 an der Röntgenstrasse.

Erbaut wurde die quartiertypische Blockrandbebauung zwischen 1913 und 1915. Die Architekten Eduard Hess und Peter Giumini errichteten das markante Volumen im moderaten Reformstil der Zeit auf dem Trassee der einstigen Nordostbahn. Die fünfstöckige Zeile, deren leichte Krümmung sich in acht Häuser gliedert und zum Röntgenplatz hin eine Frontseite ausbildet, stellte seinerzeit einen Massstabssprung innerhalb der Struktur des Arbeiterquartiers dar. Die Genossenschaft war sich bewusst, dass die Sanierung grösstmögliche Sorgfalt erfordert. Sie schrieb deshalb 2003 einen Studienauftrag aus. Die Jury mit Beteiligung der städtischen Denkmalpfl ege erkor den Vorschlag von Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten zur Ausführung.

Räumliche Neuinterpretation

Die Architekten organisierten die Grundrisse neu. Die Wohnfl ächen erfuhren eine substanzielle Vergrösserung, indem die nicht tragenden Brandmauern teilweise entfernt und zwei Kleinwohnungen aus jeweils benachbarten Häusern zu einer grossen vereint wurden. Viele der neuen Wohnungen erschliessen sich nun von zwei Treppenhäusern. In einer geschickten Neuinterpretation zonierten die Architekten die Wohnungen in einen öffentlichen Wohnund einen intimeren Zimmerbereich. Ersterer fi ndet sich hofseitig: Durch die Entfernung der Korridorwand und der Brandmauer präsentiert er sich als grosszügig kombinierter Wohnund Essraum mit integrierter Küche. In der ursprünglichen Zellenstruktur zur verkehrsberuhigten Röntgenstrasse befi nden sich nun sämtliche Schlafräume.

Atmosphärisch, handwerklich und auch räumlich zeichnen sich die Wohnungen durch eine hohe emotionale Komponente aus, wie sie gerade in Neubauten oft fehlt. In der stimmungsvollen Innenraumgestaltung behaupten sich sorgsam restaurierte Teile wie das Holzwerk in einer neuen Grundrisskonfi guration. Zur spannungsreichen Dialektik von Alt und Neu ge hören die Verwendung von zeitgenössischen Materialien – wie Eichenparkett in den Wohnbereichen, farbige Linoleumböden in den Zimmern und Steinzeugbeläge in den Nasszellen – so wie die massgeschneiderten Schreinerarbeiten für die Küchen, Bäder und Einbauschränke. Die hinsichtlich Farben und Oberfl ächen im Sinne der Entstehungszeit wiederhergestellten Treppenhäuser lassen den Kraftakt nicht erahnen, der nötig war, um die unterschiedlichenAnforderungen der Feuerpolizei und der Denkmalpfl ege sowie die Vorschriften für behindertengerechtes Bauen in Einklang zu bringen. Eine grosse Herausforderung stellte der interne Schallschutz dar. Das Einbringen von zusätzlicher Masse auf die alten Ton-Hourdisdecken war wegen deren beschränkter Tragfähigkeit nur nach Einbau einer innovativen Verstärkung möglich (vgl. nächsten Artikel). Dass die Architekten die Fenstersprossen, die seit den 1960er-Jahren fehlten, auf Verlangen der Denkmalpfl ege rekonstruieren mussten, ist schwer nachvollziehbar. Offensichtlich wird damit der trügerisch schöne Schein einer Bildwirkung beschworen, der kaum als eigentlicher Träger des Denkmalwerts des Gebäudes fungiert. Exemplarisch drängt solches Handeln die Frage auf, inwieweit sich das denkmalpfl egerische Alltagsgeschäft eigentlich der Restauration widmet oder sich allmählich zur Rekonstruktion hin verschiebt. Umso ärgerlicher ist die Verordnung, als – um das Putzen zu erleichtern – auf eine Minimalversion mit lediglich aussen aufgeklebten Sprossen zurückgegriffen werden musste. Ganz zum Nachteil der Bewohnerschaft, deren Aussicht nun von der Rückseite plumper Klebesprossen beeinträchtigt wird.

Aufwertung des kollektiven Raums

Während die Denkmalpfl ege strassenseitig auf der vollständigen Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes beharrte, konnten hofseitig einige spannende Eingriffe umgesetzt werden. Der bislang vernachlässigte Hinterhof mutierte gemäss dem architektonischen Konzept zum verstärkt die Öffentlichkeit einbeziehenden Zentrum der Anlage. Über einen neuen Durchstich zum Röntgenplatz wird dieser besser ins städtische Gewebe eingebunden. Der neuen Ausrichtung der Wohnungen entsprechend, orientieren sich sämtliche privaten Aussenräume zum nachmittags besonnten Hof. Eine Mehrzahl der Wohnungen verfügt über generöse Terrassen. Vier «Terrassenbäume» aus Beton, deren Äste als Kragplatten alternierend in die eine oder andere Richtung wachsen, akzentuieren als freistehende plastische Struktur die historische Hoffassade, ohne diese jedoch zu berühren (vgl. nächsten Artikel). Um die Dachlandschaft zu schonen, erhielten die Wohnungen im Mansardengeschoss ihr eigenes Stück Dachterrasse. Die historischen, früher zum Wäschetrocknen benutzten Terrassen wurden in einzelne, strandkorbartige Kompartimente gegliedert und den einzelnen Wohneinheiten zugeteilt. In den beengten Platzverhältnissen richtete man grosszügige Loggien ein, während man an den Zeilenenden die Wohnräume mit französischen Balkonen versah. Die vier verschiedenen privaten Aussenraumtypen verleihen dem vorher wenig attraktiven Hinterhof neues Leben.

Die im siegreichen Studienbeitrag vorgesehene vollständige Absenkung des Hofes scheiterte an der Bewilligung der Baubehörden. Dies tut der Qualität aber keinen Abbruch, denn der Kompromiss einer partiellen Absenkung lediglich im Bereich des Gemeinschaftsraums schafft eine Zonierung des Hofs in unterschiedliche Bereiche, deren Charakter durch Geometrie, Materialisierung und Bepfl anzung inszeniert wird. Integrale Bestandteile der Gestal - tung bilden eine Seccomalerei der Zürcher Künstlerin Cristina Fessler auf der blinden Mauer eines eingeschossigen Hofgebäudes und eine grossräumige Skulptur mit dem sinnfälligen Namen «Seiltänzer». Gestaltet wurde diese hoffassende Installation vom Bildhauer und Landschaftsgestalter Jürg Altherr, der bereits beim Wettbewerbsverfahren Partner des Planungsteams war (Statik der Installation: vgl. nächsten Artikel).

Intelligenter Diskurs

Die Transformation bestehender Substanz ist inzwischen eine alltägliche Bauaufgabe. Leicht erwachsen Konfl ikte bei Bauten von historischem Gewicht, bei denen sich die Denkmalpfl ege einschaltet. Nicht selten divergiert ihre Rolle als Anwältin des geschichtlichen Bewusstseins von den Interessen und Vorstellungen der Nutzer, die ihren Blick auf das Potenzial des Gegenwärtigen ausrichten. Die Architekten müssen mit jedem Detail den Spagat zwischen den Wünschen der Nutzer und der Sicherung der Originalsubstanz bewältigen. Ob der «Schönheit des Wahren» oder der «Wahrheit des Gebrauchs» der Vorzug zu geben ist,steht stellvertretend für die Kontroverse Denkmalpfl ege versus zeitgemässe Nutzungsanforderungen. Doch die beiden Parameter sind durchaus in Einklang zu bringen. Gerade aus der Reibung am Bestand lässt sich eine architektonische Komplexität gewinnen, wie sie auf der grünen Wiese nicht zu erzeugen wäre.

Der so einschneidende wie behutsame Eingriff von Pfister Schiess Tropeano vermittelt ein - drücklich, wie im Umgang mit historischer Substanz Selbstbewusstsein, aber auch Gelassenheit sowie differenzierte und zugleich versöhnliche Betrachtungsweisen weiterführen. Selbstredend wirkte sich die Erfüllung sämtlicher Aufl agen auf die Kosten der Restaurierung aus. 3500 Franken hat die Genossenschaft pro Quadratmeter in die Wohnkolonie «Industrie 1» investiert, rund 2800 Franken wären bei einem günstigen Neubau aufzuwenden gewesen. Eine 4.5-Zimmer-Wohnung mit 104 m² schlägt mit 1780 Franken zu Buche, ein angesichts des hohen Ausbaustandards und der attraktiven Lage nach wie vor äusserst moderater Mietzins. Sämtliche Wohnungen fanden denn auch problemlos Absatz. Heute wohnen in der Siedlung – aus den ursprünglich 80 Einheiten wurden 50 – mehr Leute als vor der Sanierung. Davon sind mehr als ein Drittel Kinder und Jugendliche.

Schlummernde Chancen

Glücklicherweise hält nichts ewig. Selbst an den steinernen Pyramiden nagt der Zahn der Zeit. Auf die Nutzung bezogen, lässt sich eine besonders ausgeprägte Flüchtigkeit konstatieren. Leider hilft diese Erkenntnis nicht immer, eine entkrampfte Vorgehensweise für die Pfl ege von gebauter Substanz zu formulieren, egal ob denkmalwürdig oder nicht. Gerade in einer Zeit, in der das Schielen nach medialer Aufmerksamkeit Werte wie Dauerhaftigkeit, Kontinuität und Langsamkeit in den Hintergrund zu drängen droht, stellt sich die Frage nach der bestandesgerechten Handlungsweise. Gefordert sind alle Beteiligten, denn nur in zwar mühseliger, aber konstruktiver Zusammenarbeit lassen sich zeitgemässe Nutzungsanforderungen mit einem Altbau versöhnen, wie das vorliegende Beispiel anschaulich illustriert. Die Chance, durch vereinte, katalytisch aufeinander wirkende Kräfte weiterzukommen als im Alleingang, lohnt sich durchaus zu packen. Am Weiterbauen können alle wachsen.

[ Beat Aeberhard, dipl. Architekt ETH ]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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