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TEC21 2008|14
Spielräume
TEC21 2008|14
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Brachen sinnvoll nutzen

Können Teile von Brachen oder Baustellen durch die Quartierbevölkerung genutzt werden, führt dies zu einer spannenden, wenn auch temporären Erweiterung und Bereicherung des Freiraumangebotes. Denn Brachfl ächen bieten etwas, was kein Fussballplatz, kein Spielplatz, keine Parkanlage bieten kann: die Möglichkeit zu ganz ursprünglicher Kreativität.

«The bee dreams up the flower and the flower dreams up the bee.» Aldous Huxleys Metapher veranschaulicht das Entstehen dessen, was wir gemeinhin «die Realität» nennen: das Zusammenspiel der Realitäten jedes Einzelnen. Dieses poetische Bild wird sofort bedeutend fassbarer, nimmt man dazu z. B. die Hauptbeschäftigung von Buben in ihrem Wohnumfeld: das Fussballspielen. Ein Fussballspiel entsteht nicht wegen eines Fussballplatzes. Ein Fussballspiel entsteht, wenn mindestens zwei Buben mit einem Ball zwei Steine zu einem Tor, den einen Buben zum Torwart und den anderen zum Stürmer erklären. Ebenso entstehen Ritterburgen, Puppenstuben, Indianerdörfer, Feuerstellen und Wildpfl anzengärten – eines nach dem anderen oder alles gleichzeitig. Brachliegende Flächen sind nutzungsoffene Freiräume. Fahren auf der Brache die Baumaschinen auf, schaffen sie meist wiederum Brachfl ächen: Aushubmaterial wird abgelagert, Oberboden wird vor Ort deponiert, Sand- und Kieslager werden angelegt, auf angrenzendem Grünland wird die landwirtschaftliche Nutzung aufgegeben. Im Gegensatz zu manchem Spielplatz oder Park geben Brachen nichts vor, schränken nicht ein. Die Räume auf Zeit erlauben es den verschiedensten Gruppen, ihre Interpretation des Ortes zu leben, ihn sich zwischenzeitlich anzueignen und sich damit zu identifi zieren.

Naturraum Brachfläche

Typische Brachfl ächen sind kiesige, stark besonnte, trockene Böden, auf denen auch seltene, gefährdete Pfl anzenarten wachsen. Einige dieser seltenen Arten fühlen sich natürlicherweise auf den Kiesbänken in Auenlandschaften heimisch. Heute, da die hiesigen Gewässer weitgehend gebändigt sind, ist ihr natürlicher Lebensraum grösstenteils verloren gegangen. Städtische Brachfl ächen sind für diese Arten eine temporäre Ersatzheimat geworden. Es liegt hier zwar kein Flusskies, dafür Wandkies oder Bauschutt. Nicht Hochund Niederwasser sorgen für ständige Dynamik, sondern zum Beispiel Baumaschinen, die den Boden umschichten. So werden Brach- und Ruderalfl ächen in Siedlungsgebieten zu Refugien für seltene Pfl anzenarten. Brachfl ächen tragen dazu bei, dass diese Arten erhalten bleiben und sich sogar auf nahe gelegene Brachen ausbreiten können. Der Verein Brachland hat sich zum Ziel gesetzt, solche Brachfl ächen der Bevölkerung zugänglich zu machen. Entstanden ist die Idee bei der Zwischennutzung einer ehemaligen Kiesgrube im Berner Weissensteinquartier. Das Areal war mehrere Hektaren gross und grenzte an ein Wohnquartier. Die «Grube» wurde während Jahren vom Quartier zwischengenutzt – zum Ostereiersuchen, für Bocciarunden, Schlafen im Freien, Kunstausstellungen und für Konzerte. Nach diesem Vorbild konnte der Verein Brachland seit 2005 in Bern bereits einige Zwischennutzungen von Brachen und Baustellen initiieren und begleiten.

Verein Brachland als Kommunikationsplattform

Mitten durch das stadtbernische Naherholungsgebiet Studerstein baut der Kanton derzeit den Neufeldtunnel. Bereits vor Baubeginn wurde die gerodete Waldpartie u. a. als BMX-Piste zwischengenutzt. Diese Waldschneisen-Zwischennutzung konnte bei Baubeginn nahtlos in einen Baustellenspielplatz übergeführt werden: Die 10 Meter hohen Aushubhalden stehen zu Ruhezeiten der Baustelle abends und an den Wochenenden der Quartierbevölkerung zur Verfügung. Gleich angrenzend an die Bauabschrankung konnte zudem ein «Baustellenspielplatz miniature» eingerichtet werden. Hier haben die Kinder aus dem Quartier ein Paradies aus Sand, Kies, Steinen und Holz in Beschlag genommen. Nach der Fertigstellung der Hauptbaustelle werden die Kies- und die Sandhügel wieder abgetragen, und das Gelände wird rekultiviert. Auf der Grossbaustelle Brünnen bietet eine Brachfl äche Freiraum für das Gäbelbach- Quartier und hat dabei gleichzeitig eine interkulturelle Dimension: Während im Gäbelbach- Quartier viele MigrantInnen wohnen, wird das neu entstehende Brünnen-Quartier eher Wohnraum für Wohlsituierte bieten. Das Brachlandprojekt Brünnen bietet Raum für Begegnung zwischen den bereits Ansässigen und den neuen QuartierbewohnerInnen. Wo – wie im Beispiel Brünnen – neue Siedlungen oder Stadtquartiere entstehen, ist die Begeisterung der bereits Ansässigen erfahrungsgemäss klein. Sie beklagen die verlorenen Freiraumqualitäten und die versperrte Aussicht, sie beschweren sich über Baulärm und -staub. Werden Brachen oder Baustellen zugänglich gemacht, eröffnet sich für Eigentümer oder Bauherrschaften die Möglichkeit zum aktiven Dialog mit der Nachbarschaft. Im Unterschied zu anderen kommunikativen Massnahmen binden diese Projekte wichtige Anspruchsgruppen eines Bauprojekts mit ein und bieten ihnen einen direkt erlebbaren und nachhaltig wirkenden Mehrwert.

Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit

Was die ökologische Nachhaltigkeit von Bauprojekten anbelangt, existieren bereits etablierte Systeme. So sind Partikelfi lter, Baustoffrecycling oder die Minimierung der Transportwege heute Teil jeder professionell geführten Baustelle. Die Nutzung von Brachen eröffnet dazu eine weitere Perspektive: Als Ort der Begegnung zwischen den bereits Ansässigen und den neu zuziehenden QuartierbewohnerInnen, als Ort der Bewegung und des Spiels gewährleisten sie einen aktiven Beitrag der Bauherrschaft zur gesellschaftlichen Nachhaltigkeit. Zwar ist es in manchen Fällen aus Sicherheitsgründen notwendig und sinnvoll, Brachfl ächen oder Baustellen abzuzäunen. Dennoch gibt es auf den meisten Arealen Bereiche, die der Öffentlichkeit ohne besondere Risiken zugänglich gemacht werden können. Sogenannte «Brachen-Ordnungen», die auf Hinweistafeln im Gelände stehen, vermitteln den NutzerInnen die zu beachtenden Regeln. Mit einem kleinen Aufwand können die entstehenden Risiken sogar versichert werden. Sowohl auf Seiten der NutzerInnen (z.B. Quartierverein) als auch auf Seiten der Bauherrschaft besteht die Möglichkeit, eine Betriebshaftpfl ichtversicherung abzuschliessen oder bestehende Policen auf die Brachlandnutzung auszudehnen. Mit seinem Versicherungspartner hat der Verein Brachland errechnet, dass Mehrkosten von ungefähr 150 Franken je Brachfl ächenprojekt und Jahr entstehen. Das Wissen um die zeitliche Begrenztheit einer Situation nimmt die Schwellenangst der hohen Verbindlichkeit. In einem von der Natur inspirierten Prozess muss auch wieder Neuem Platz gemacht werden. Was bleibt, sind Erfahrungen und kollektive Erinnerungen, Fäden eines Netzes, an dem die QuartierbewohnerInnen selber weiterknüpfen können.

[ Sabine Gresch, Geografin, Landschaftsplanerin bei naturaqua pbk, Bern. Martin Beutler, Kulturmanager, Inhaber der Firma für soziale Plastik. Sabine Schärrer, Architektin, Vereinigung für Beratung, Integrationshilfe und Gemeinwesenarbeit. Sabine Tschäppeler, Biologin, Stadtgärtnerei Bern, Verantwortliche für Natur und Ökologie ]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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