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TEC21 2008|42-43
Literatur + Architektur
TEC21 2008|42-43
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Das Blaubarthaus

«Hier wirkt sich die Phantasie nicht nur auf die geometrischen Masse aus, sondern auch auf die Kräfte und Geschwindigkeiten; sie erweitert nicht mehr nur den Raum, sie beschleunigt sogar die Zeit.»[2] Was Gaston Bachelard in «Poetik des Raumes» 50 Jahre vor Erscheinen von Mark Z. Danielewskis Roman «Das Haus»[3] niederschrieb, eignet sich als Wegweiser durch ein Werk, das als Labyrinth von Sprachräumen, als enzyklopädisches Panoptikum und architektonische Kakofonie angelegt ist. Doch einen Schlüssel zu diesem Blaubart-Haus gibt es nicht.[4]

20. Oktober 2008 - Rahel Hartmann Schweizer
«Das Haus» gliedert sich in verschiedene Erzählstränge, die jeweils mit unterschiedlichen Typografien gekennzeichnet sind. Der Kern der Geschichte ist der Dokumentarfilm, der sogenannte Navidson Record, der das Abenteuer des Dokumentarfotografen und Pulitzer- Preis-Trägers Will Navidson[5] und seiner Familie aufzeichnet. Um die Beziehung zu seiner Frau Karen zu kitten, bezieht die Familie ein Haus in der Ash Tree Lane irgendwo in Virginia. Um sich dieses Neuanfangs zu vergewissern, zeichnet «Navy» das Leben in dem Haus mit mehreren Kameras auf. Doch die Idylle gerät schon nach kurzer Zeit im wahrsten Sinn des Wortes aus den Fugen. Denn das Haus entwickelt ein Eigenleben. Zunächst bildet sich ein Zimmer, wo vorher keines war und das sich in den äusseren Abmessungen des Hauses kaum bemerkbar macht[6], später ein Korridor, der vom Garten aus gesehen nicht existiert, im Inneren aber zunehmend – mit jedem Mal, da Navy und seine alsbald aufgebotenen «Gefährten» (Robert Holloway, Billy Reston, Jed Leeder, Wax Hook und Tom, Navidsons Bruder) es auszukundschaften versuchen – bedrohlichere Ausmasse von labyrinthischer Struktur annimmt. Flure vervielfältigen sich, eine Halle erweitert sich zu einem grenzenlosen Raum, eine Wendeltreppe, die an Gabriels Horn erinnert,[7] schraubt sich in unendliche Tiefen, sackt wie eine Ziehharmonika wieder in sich zusammen...

Beschrieben wird der «Navidson Record», der sich in mehrere bruchstückhafte Filmsequenzen gliedert (5½-Minuten-Flur, Erkundung A, Erkundung 1 bis 5, Rettung, Zerstörung des Hauses), von Zampanò, einem blinden alten Mann, der in einem völlig verdunkelten Raum sein Dasein fristet. Die Aufzeichnungen, die er bei seinem Tod in einer Truhe hinterlässt, sind durchsetzt von Interpretationen, Abhandlungen und Analysen, die das Geschehen in dem Haus und das Verhalten der Protagonisten ausloten – untermauert von über 400 Fussnoten. Zampanò zerlegt die Zeit- ebenso wie die Architekturgeschichte, die er in einer nicht enden wollenden Liste von Bauwerken abspult, die dem Vergleich mit dem Haus nicht standhalten können. Er leuchtet philosophische und psychologische Hintergründe aus. Er spielt naturwissenschaftliche Theorien gegen literarische und filmische Quellen aus (neben Emir Kusturicas hervorgehobenem «Underground» wieder eine Aufzählung beinahe ad infinitum). Er ruft die griechische Mythologie als Zeugen auf, konterkariert mit Motiven der jüdisch-christlichen Kultur oder verortet in der islamischen Tradition.

Johnny Truant, ein Herumtreiber, der sich mit einem Job in einem Tätowierstudio über Wasser hält, nimmt sich des Manuskripts an. Zampanòs Truhe wird ihm zur Büchse der Pandora. Zwischen sexuellen Ausschweifungen und Drogenrausch quält er sich durch die losen Seiten, um sie zu edieren – eine Beschäftigung, die ihn zunehmend strapaziert. Er verliert sich in der Lektüre, und je zerstörerischer sie auf ihn wirkt, desto besessener steigert er sich in sie hinein – ungeachtet dessen, dass er darob verwahrlost und vereinsamt.

Er halluziniert, verbarrikadiert sich in seinen vier Wänden, verdunkelt die Fenster. Diesen Handlungsstrang lässt Danielewski parallel zu Zampanòs Aufzeichnungen laufen – formal als ausgedehnten Fussnotentext abgesetzt. Eine weitere – wenn auch marginale – Stimmeist die der Herausgeber, die Unklarheiten kommentieren und Informationen vervollständigen. Und schliesslich gibt es einen über 150 Seiten umfassenden Anhang mit Gedichten, Zeichnungen, Collagen, Briefen (vor allem von Truants Mutter), Zitaten und einem Nachruf auf Johnnys Vater. Der Kern des Romans kreist zwar um den fiktiven, als «Navidson Record» bezeichneten Film, der die Erkundungen der labyrinthischen Wucherung des Hauses dokumentiert, doch tritt das Schicksal Navys und seiner Familie zunehmend in den Hintergrund – überlagert von Johnnys Story, durchsetzt mit Einsprengseln über Zampanò und Johnnys Eltern und gespiegelt, gebrochen, konterkariert in den wissenschaftlichen und literarischen Referenzen. Navy kommt am Ende mit einem blauen Auge davon (bzw. er verliert ein Augenlicht), doch die Beziehung zu seiner Frau hängt noch immer in der Schwebe. Zunächst sucht Danielewski die Analogie formal zu bewältigen. Das Labyrinthische der Hausexpansion zeichnet er nach, indem er – in Anlehnung an die konkrete Poesie – die Typografie als Abbild des Inhalts einsetzt: Er stellt den Text auf den Kopf, legt ihn in die Diagonale oder spiegelt ihn. Mal verengt er das Schriftbild zusehends, bis nur noch abgehackte Silben auf einer Zeile stehen, mal weitet er es so aus, dass sich der Raum einer ganzen Seite zwischen zwei Halbsätzen aufspannt; mal muss man den Text von rechts nach links lesen, mal von unten nach oben, mal in einem Zickzackkurs. Dabei expandiert und komprimiert das Schriftbild nicht nur, es beschleunigt und verlangsamt sich auch. Diese formale Analogie wirkt allerdings wie der Wink mit dem Zaunpfahl, und es scheint, als hätte Danielewski sich oder den Lesenden zu wenig zugetraut. Denn das Labyrinth, das er im Kopf der Lesenden mit seinen Hunderten von Verweisen – auf teilweise inexistente Werke[8] – anrichtet, ist weit spannender als der Plot der Geschichte. Und Danielewski beherrscht die Kunst, uns zu verführen, immer wieder zumindest einen Seitenblick auf die Anmerkungen zu riskieren. Selbst wer nur einem Bruchteil der Verweise folgt, verirrt sich heillos in dem Gebäude des Wissens, der Gefühle, der Assoziationen, der Träumereien, das der Autor auftürmt.

Insofern spiegelt sich das Haus im Kopf des Lesenden: Das Gebäude, das wir aus den Verweisen entwickeln, lässt sich ebenso wenig geometrisch, konstruktiv nachvollziehen wie Navys Haus. Es lässt sich in keine Form pressen, nicht in einen Plan bannen, nicht skizzieren, hat nicht Anfang noch Ende.Von axis mundi bis Paralleluniversum Danielewskis Haus steckt Dimensionen ab, die von archaischen Weltbildern der Axis mundi, wie der Weltenesche (Yggdrasil) der nordischen Überlieferung, dem griechischen Omphalos (Nabel) in Delphi oder der Ka’aba als islamischem Zentrum der Welt, bis zu neuesten naturwissenschaftlichen Theorien – von Einsteins Raumzeit bis zur Stringtheorie – reichen. Er evoziert Assoziationen mit mythologischen Gemäuern wie dem Urbild des Labyrinth-Topos, dem Kerker des Minotaurus. Das Monster, von dem sich Holloway, einer der Gefährten, verfolgt fühlt und das ihn schliesslich zu verschlingen scheint, lässt einen unweigerlich an den Minotaurus denken. Dass aber nicht nur menschliche Körper, sondern auch Gegenstände – Taschenlampen, ein Fahrrad, Merkzeichen, Proviant etc. – verschluckt werden, beschwört ein schwarzes Loch herauf.

Das Universum, das Danielewski aufspannt, bewegt sich zwischen christlicher Jenseitsvision wie Dante Alighieris Höllenkreisen in der «Göttlichen Komödie» und wissenschaftlicher Anschauung der Relativitätstheorie. Masse – Menschen und Gegenstände – und Licht – Taschenlampen, Fackeln oder Signalraketen – wirken sowohl auf den Raum als auch auf die Zeit ein. Die Raumzeit des Hauses ihrerseits beeinflusst wiederum die Bewegung der sich in ihr befindlichen Objekte.

M. C. Eschers seltsame Schleifen treffen auf Piranesis Gefängnisse; gekrümmte Räume auf fantastische Schlösser wie Harry Potters Hogwarts School of Witchcraft and Wizardry. Das Haus oszilliert zwischen der fünften Dimension der Kaluza-Klein-Theorie, die das Graviton mit der vierten Raumdimension auflädt, und der amerikanischen TV-Serie «Twilight Zone»: «Es gibt eine fünfte Dimension jenseits der menschlichen Erfahrung – eine Dimension, so gewaltig wie der Weltraum und so zeitlos wie die Ewigkeit. Es ist das Zwischenreich, wo Licht in Schatten übergeht, Wissenschaft auf Aberglaube trifft. Sie liegt zwischen den Fallgruben unserer Furcht und den lichten Gipfeln unseres Wissens. Dies ist die Dimension der Fantasie, das Reich der Dämmerung – die Twilight Zone.»[9] Das Haus ist Wurmloch und Paralleluniversum.[10] Es spiegelt die Klosterbibliothek in Umberto Ecos «Der Name der Rose» und die «Bibliothek von Babel» von Jorge Luis Borges.

In «Babel» entwickelte Borges die Vision einer Welt als Bibliothek aller möglichen Bücher mit so unermesslichen Dimensionen, dass das sichtbare Universum darin auf Nanomasse schrumpfen würde. Bei Danielewski nimmt das Haus Dimensionen an, die das Mehrfache des Erdumfanges ausmachen, die geologischen Schichten, die Navy später im Labor analysieren lassen wird, gehen Jahrmillionen zurück, einzelne Proben sind älter als unser Sonnensystem.

Analog zu dem Irrgarten in der Erzählung «Der Garten der Pfade, die sich verzweigen», der sich beim Durchschreiten ständig ausdehnt und immer neue Wege schafft, vervielfachen die ständig neu sich öffnenden Flure im Haus die Möglichkeiten, das Haus auszukundschaften. Mit Borges «Aleph» – obwohl kaum grösser als eine Murmel, beinhaltete das Aleph den Kosmos, ohne «Schmälerung seines Umfangs»[11] – hat das Haus gemein, dass seine äusseren Abmessungen bestehen bleiben, obwohl es ein Universum an Räumen aufnimmt.[12] Im «Sandbuch» zerrinnt dem Ich-Erzähler das «heilige Buch», das er von einem Durchreisenden erwirbt, buchstäblich zwischen den Fingern, ohne sich allerdings in Nichts aufzulösen – im Gegenteil. Das Buch hat weder Anfang noch Ende, ist unendlich. Die Paginierung ist chaotisch, eine einmal aufgeschlagene Seite lässt sich kein zweites Mal finden. Ähnlich besteht im Haus jeder Raum nur für einen kurzen Moment. Setzen die Abenteurer ihren Weg fort, können sie nicht mehr zurück, bzw. der Ort, wo sie eben noch waren, ist ein anderer geworden. Auch Danielewskis typografische Kapriolen erinnern an das «Sandbuch». Ausserdem lässt er Navy bei dessen letzter Erkundigung das «House of Leaves» im Schein des Feuers lesen, das dieser jeweils mit jeder gelesenen Seite entzündet.

Was Borges fantasiert, versucht Danielewski zu kreieren. Ist das «Sandbuch» eine Allegorie des Allwissens und ein Tropus für Hugh Everetts 1955 –1957 formulierte Viele-Welten- Theorie[13], so ist das «House of Leaves» deren «Inkarnation». Und ebenso wie sich die Räume im Haus zu einem irren Raumgeflecht auswachsen, verästeln sich Text- und Autorenverweise zu einem enzyklopädischen Dschungel, der weniger mit einem traditionellen Labyrinth zu beschreiben ist als mit der Rhizom-Struktur des Internets. Die Merkzeichen, die Navy und seine Gefährten anbringen, um die Orientierung nicht zu verlieren, sind auf dem «Rückweg» zerfetzt, nur noch in Bruchstücken vorhanden, bis sie ganz verschwinden wie die Brotkrümel, die Hänsel und Gretel auf ihrem Weg in den Wald ausstreuen. Navy & Co. navigieren durch das Haus wie der Leser durch das Buch oder wie man durch das Internet surft. Die Fussnoten im Buch funktionieren wie Breadcrumbs[14] im Internet. Sie führen einen immer tiefer in das Geflecht des Hypertexts. Man wird – wenn überhaupt – nie auf demselben Weg zurückkehren, auf dem man hineingekommen ist.

Die Warnung, die Danielewski seinem Protagonisten in den Mund legt, ist berechtigt: «Und falls Sie irgendwann einmal zufällig an diesem Haus vorbeikommen sollten, bleiben sie nicht stehen, gehen Sie auch nicht langsamer, sondern laufen Sie einfach weiter. Da ist nichts. Seien Sie vorsichtig.»[15] Wer das Blaubart-Haus aber öffnet und der Verführung nicht widerstehen kann, es immer weiter zu erkunden, nehme sich Gaston Bachelards «Poetik des Raumes» als Vergil an die Seite.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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