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TEC21 2008|45
Ökologie und Baukultur
TEC21 2008|45
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«angemessen eingreifen»

3. November 2008 - Claudia Carle, Ruedi Weidmann
Mehrfach haben Parlamente Baubehörden aufgefordert, nachhaltiges Bauen energischer zu fördern und Projekte für energetische Sanierungen und Solaranlagen häufi ger zu bewilligen. Doch bestehende Bauten sind eine kulturelle Ressource, die so nachhaltig bewirtschaft et werden sollte wie Energie. Mit seiner Fachstelle für nachhaltiges Bauen gehört das Stadtzürcher Amt für Hochbauten zu den Pionieren des ökologischen Bauens in der Schweiz. Viele seiner Projekte verbinden Energieeffi zienz und einen schonenden Umgang mit der Bausubstanz. TEC21 hat Vertreterinnen und Vertreter des Amts sowie die Leitung der städtischen Denkmalpflege und eine private Architektin gebeten, das Dilemma und Lösungswege anhand zweier Umbauprojekte zu erörtern.

TEC21: Energetische Sanierungen bestehender Bauten tragen viel zum Klimaschutz bei. Diese Erkenntnis hat sich endlich durchgesetzt. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass unser baukulturelles Erbe allmählich unter einer dicken Isolationsschicht und unter Solarpanels verschwindet. Die Denkmalpflege scheint zunehmend unter Druck zu geraten, hier mehr Spielraum zu gewähren. Wie erleben Sie die Entwicklung?
Peter Ess: Es geht letztlich um eine gesellschaftliche Frage: Wollen wir uns leisten, in Schönheit unterzugehen, oder wollen wir versuchen, das Energiethema in den Griff zu bekommen, zum Beispiel die schönen Dächer vergessen und in einem verzweifelten Befreiungsschlag überall Solaranlagen installieren – das sind die radikalen Standpunkte, die sich gegenüberstehen. Das Gewicht liegt momentan noch relativ stark auf der formalästhetischen Seite der Architektur. Wenn aber der politische Druck wächst, könnte er noch weiter in Richtung grosszügige Handhabung energetischer Massnahmen gehen. Marburg beispielsweise hat den Schieber ganz auf die andere Seite geschoben: Dort muss jetzt auf alle geeigneten Dächer eine Solaranlage kommen.

Die Stadtzürcher Baubehörden engagieren sich seit Langem für Nachhaltigkeit. In letzter Zeit ist das Thema Nachhaltigkeit aber auf der politischen Agenda so weit nach oben gerückt, dass die Politik angefangen hat, uns zu überholen: Sie ist zu einer sorgfältigen Güterabwägung gar nicht mehr bereit, sondern verlangt von uns, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Bei Neubauten ist es einfach: Man kann die Anforderungen defi nieren und das Gebäude darauf hin entwickeln. Aber zwei Drittel unserer Bauaufgaben betreffen die Erneuerung bestehender Substanz. Hier kann man auch den grössten Effekt hinsichtlich Nachhaltigkeit erzielen. Doch braucht es hier eine Güterabwägung. Die Grundhaltung des Amts für Hochbauten dazu stammt von 1997, sie umfasst drei Punkte: – Mit einer Summe kleiner Eingriffe können baukünstlerisch wertvolle Gebäude Zug um Zug ruiniert werden. – Bei jedem Eingriff in bestehende Substanz sind daher gleichermassen die Herkunft und der Zeitgeist wie auch die Zukunftsperspektive der Baute zu klären. – Entscheide über Eingriffe erfolgen in Abwägung der Nutzungsanforderungen, der denkmalpflegerischen, architektonisch-städtebaulichen und ökologischen Anliegen sowie der Angemessenheit der Kosten.

Die politische Diskussion wird immer in Kurven verlaufen. Die Verwaltung hingegen muss auf Konstanz und Sorgfalt achten und diese Themen unabhängig von Schwankungen im politischen Tagesgeschäft in ein Gleichgewicht bringen. Hier müssen wir eine gewisse Behäbigkeit pflegen und auf dem Weg der Güterabwägung weitergehen. Dabei muss man davon ausgehen, dass nicht jeder sein Partikularinteresse maximieren kann. Zusammen müssen wir die Schnittmenge für eine vernünftige Lösung suchen.

Harte Zahlen gegen weiche Faktoren

Jan Capol: Die Entwicklung in Sachen Umweltschutz, dass Gebäude auf eine 2000-Watt- Gesellschaft ausgerichtet werden, fi nde ich uneingeschränkt positiv. Wir verstehen Denkmalpflege auch als eine Art Umweltschutz und ziehen mit der Fachstelle Nachhaltiges Bauen am gleichen Strick. Ich sehe aber eine Schwierigkeit darin, dass die ökologische Nachhaltigkeit messbar ist und in exakten Zahlen ausgedrückt werden kann, während bei der kulturellen Nachhaltigkeit anders argumentiert werden muss. Wenn Heinrich Gugerli sagt: ‹Jetzt sind wir bei 200 Megajoules pro Quadratmeter›, hat er gewonnen, da kann ich noch so lang über die kulturhistorische Bedeutung referieren. Die Herausforderung ist, die beiden Argumentationsweisen miteinander zu verbinden.
Heinrich Gugerli: Das stimmt. Vielleicht muss man das als Chance wahrnehmen und den Diskurs fördern. Wenn man an Minergie oder an die 2000-Watt-Gesellschaft denkt, sind die eindeutigen Zahlen der Energiefachleute allerdings auch nur eine Krücke. Es geht ja nicht nur um Megajoules, sondern um ein breites Spektrum von Nachhaltigkeitszielen gemäss der SIA-Empfehlung 112/1 und entsprechender Massnahmen. Auch wir glauben nicht, dass man das einfach nach Zahlenwerten entscheiden kann.
Sibylle Bucher: Vielleicht müsste die Denkmalpflege auch exakte Werte definieren?
Urs Baur: Die Denkmalpflege des Kantons Solothurn hat vor Jahren versucht, ein Zahlensystem einzuführen, um die Schutzwürdigkeit von Objekten nachzuweisen. Sie ist kläglich gescheitert. Ein Problem ist aber tatsächlich, dass keine Denkmalpflege-Normen existieren. Als Folge davon einigen wir uns zwar in der Güterabwägung, danach kommen aber andere Anliegen ins Spiel, die sich auf unverrückbare Normen beziehen können – zum Beispiel braucht ein Schulzimmer 500 Lux.
Peter Ess: Ich finde, es wäre ein fataler Irrtum, wenn man versuchen würde, qualitative Werthaltungen zu quantifizieren und dann meint, man bekäme einen objektiven Wert. Eine Werthaltung bleibt eine Werthaltung. Ein zweiter fataler Irrtum scheint mir, zu meinen, mit Verordnungen und Rechtsmitteln habe man eine bessere Position. Ich bin zutiefst überzeugt, dass es um den gesellschaftlichen Stellenwert einzelner Themen geht: Wie wichtig ist uns Heimat im Sinn von Ortsbild und Originalsubstanz?
Sibylle Bucher: Es geht ja eigentlich eher um den Umgang mit diesen Normen. Wir Architekturschaffenden können versuchen, die verschiedenen Interessen möglichst geschickt miteinander zu kombinieren.
Jan Capol: Immerhin haben wir im Amt für Städtebau zusammen mit Leuten aus allen interessierten Departementen einen für Bauherrschaften nachvollziehbaren Leitfaden für den Umgang mit der Dachlandschaft erarbeitet. Den Anstoss dazu gaben Gesuche für Sonnenkollektoren und Fotovoltaikanlagen auf Dächern. Die Erarbeitung des Leitfadens war nicht ganz konfliktfrei, und man ist sich noch nicht einig. Darum ist der Leitfaden jetzt in einem Evaluationsverfahren.
Heinrich Gugerli: Wir haben gestritten, aber das war eigentlich gut.
TEC21: Die Denkmalpflege scheint in diesem Konflikt momentan eher in der Defensive zu sein?
Jan Capol: Nein, das ist nicht so. Dass die Denkmalpflege etwas verhindere, ist europaweit ihr Ruf, er gehörte schon immer zu ihr. Nach dem 11. 9. 2001 war Sparen angesagt, und es gab eine schriftliche Anfrage, ob man die Denkmalpflege in Zürich einstellen könne, sie verbrauche zu viel Geld. Da konnten wir antworten: Das Geld, das wir verbrauchen, entspricht kaum der Portokasse der Stadt – und der Bauherren übrigens auch. Nicht einmal zehn Prozent der Gebäude der Stadt Zürich sind im Inventar, dort reden wir mit. Schaut man, wie viele Solaranlagen wir abgelehnt haben, ist das ein sehr kleiner Teil.

Städtebauliche Gesamtwirkung

TEC21: Unsere anfänglich formulierte Sorge bezieht sich nicht unbedingt auf die geschützten Bauten, sondern vor allem auch auf die rund 90 % der Bauten, die nicht geschützt sind.
Peter Ess: Die oben erwähnten drei Punkte unserer Grundhaltung gelten ganz besonders für diese Bauten. Wir pflegen die Bausubstanz nicht, weil und wenn es die Denkmalpflege von uns verlangt, sondern weil wir uns als Architektinnen und Architekten eigenständige Überlegungen zu einem Gebäude und seinem Kontext machen. Das gehört zu unserer Kultur.
Heinrich Gugerli: Bei den Minergie-Sanierungen der Wohnsiedlungen Heumatt und Heuried aus den 1970er-Jahren haben wir der Gestaltung hohe Priorität beigemessen. Im Heuried wurde ein Studienauftrag für die Neugestaltung der Fassade veranstaltet, und auch im Gesamtleistungswettbewerb für die Heumatt war die Gestaltung ein wichtiger Teil. Wenn man die Gebäude schon einpackt, muss man ihnen auch ein neues Gesicht geben.
Peter Ess: In den Kern- und Quartiererhaltungszonen redet die Denkmalpflege allerdings auch mit. Sie hat viel mehr steuernde Wirkung als nur in den paar Prozent geschützter und unbestrittener Schutzobjekte.
Jan Capol: Ja, das stimmt. Aus städtebaulicher Sicht ist das ein Glück. Allerdings beraten wir hier die Bauherren lediglich, wie sie die vom kantonalen Planungs- und Baugesetz geforderte ‹gute Gesamtwirkung› erreichen können. Das ist etwas anderes als bei den Schutzobjekten, wo wir Auflagen machen; da unterscheiden wir unsere Rollen klar. Ich schlage aber vor, nicht von einem Konflikt zwischen Energiesanierung und Denkmalpflege zu sprechen, sondern zwischen Energiesanierung und Städtebau. Denn die weniger als 10 % inventarisierter Objekte sind ein kleiner Teil. In den Quartieren aus der Nachkriegszeit, wo jetzt die grossen Sanierungen anstehen, gibt es davon fast keine. Es geht also vor allem um städtebauliche Anliegen.
Peter Ess: Und hier stellt sich die Frage, wie ‹gute Gesamtwirkung› definiert wird. Der Ehrgeiz, die Architektur auf höchstem Niveau zu erhalten, ist in Zürich enorm gross. Ich finde, dass die Spielräume in Situationen, die mit Denkmalpflege im engeren Sinn nichts zu tun haben, etwas gar eng sind. Wenn die Nachhaltigkeit jetzt einen höheren Stellenwert hat, müsste man vielleicht etwas kulanter sein.

Kompromisse oder klare Entscheidung?

TEC21: Besteht in der Güterabwägung wirklich ein harter Gegensatz zwischen Ökologie und Städtebau? Lässt sich nicht, wenn man früh genug zusammen eine Lösung sucht, beides widerspruchsfrei verbinden?
Jan Capol: Es gibt Fälle, wo wir uns einigen, Kompromisse schliessen und beide Seiten mit der Lösung zufrieden sind. Aber es gibt auch Fälle, wo man sich entscheiden muss. Heinrich Gugerli: Es gehört zum Wesen der Nachhaltigkeit, dass man nicht alle Aspekte erfüllen kann, sondern Zielkonflikte entscheiden muss. Wichtig finde ich, dass diese Konflikte frühzeitig auf den Tisch kommen. Aber nicht immer ist Zufriedenheit in allen Bereichen erreichbar.
Ueli Lindt: Bei Bauten, die ein eindeutiges Primat haben, sei es im Hinblick auf ihre historische Bedeutung oder im Hinblick auf ein Energiesparpotenzial, ist es einfacher. Da lässt sich ein Konzept machen, das eine eindeutige Richtung definiert. Schwierig wird es, wenn diese Frage unentschieden ist. Ich bin deshalb nicht so sicher, ob der Kompromiss immer die beste Lösung ist, oder ob er nicht unter Umständen faul ist, sodass am Schluss weder die Denkmalpflege noch die Energiefachleute befriedigt sind.
Peter Ess: Man darf den Kompromiss nicht negativ besetzen. Unser ganzes Staatswesen beruht auf diesem Prozess, und wir sind bisher nicht so schlecht gefahren damit. Bauen ist grundsätzlich nie widerspruchsfrei. Es gilt immer zu klären, welche Anliegen wie weit und mit welchem Aufwand zu erfüllen sind.
Sandra Zacher: Und die Güterabwägung findet ja nicht nur zwischen Energieverbrauch und historischem Wert statt. Es kommen noch viele weitere Ansprüche hinzu.
Urs Baur: Wichtig für eine befriedigende Güterabwägung ist es jedenfalls, dass der denkmalpflegerische Wert und der Schutzumfang ganz am Anfang geklärt werden. Dass während der Planung – oder gar auf der Baustelle – keine Grundsatzdiskussionen mehr geführt werden müssen.

Kleinere Eingriffe bei flexiblerer Nutzung

Sibylle Bucher: Im Grund haben doch Denkmalpflege und Nachhaltigkeit auch gemeinsame Interessen: Je weniger man baut, umso nachhaltiger. Vielleicht müsste man sich mehr darauf zurückbesinnen. Jedes Gebäude hat ein Wesen, eine Struktur und ein Potenzial. Wenn man Ernst machen will mit der gesamtheitlichen Betrachtung, müsste man vermehrt eine Idee entwickeln, die zum spezifischen Gebäude passt. Das hier diskutierte Problem entsteht vor allem, wenn man eine Nutzung über das Gebäude stülpt, das man eigentlich am liebsten neu bauen möchte, und dann radikal saniert, sodass vom ursprünglichen Geist viel verloren geht.
Peter Ess: Dieser Wunsch ist in unseren drei Punkten enthalten. Wir klären immer ab, was ein Gebäude hergeben kann. Jeder Eingriff, den man nicht machen muss, ist eine gute Massnahme. Das gehört zu unserem Denken. Wenn wir die ursprüngliche Substanz eines Gebäudes weitestgehend respektieren können, indem wir einen Nutzer suchen, der zum Gebäude passt, erreichen wir drei Dinge: Wir haben den kleinstmöglichen Substanzverlust – das ist im Interesse der Denkmalpflege –, den grösstmöglichen Nutzen für die künftigen Nutzer und die kleinstmögliche Investition.
Sandra Zacher: Das heisst, man sollte an allen Rahmenbedingungen schrauben können, auch bei der Nutzung.
Ueli Lindt: Im Spannungfeld zwischen Städtebau und Ökologie ist der Nutzer einer der wichtigsten Akteure. Beim Schulhaus Milchbuck etwa forderte das Schulamt, dass Wände verschoben werden, um die Schulzimmer zu vergrössern.
Sibylle Bucher: Ja, hier haben die städtische Immobilienbewirtschaftung als Bestellerin, das Amt für Hochbauten und die Denkmalpflege aufgrund der Anforderungen des Schulamts einen Kompromiss ausgehandelt. Als wir als Architekturbüro hinzukamen, stand dieser Kompromiss bereits fest. Doch als wir vorschlugen, weniger in die Substanz einzugreifen, stellten wir fest, dass die Unsicherheit, wie mit dem Gebäude umgegangen werden soll, nach wie vor gross war – beispielsweise wünschte sich die Lehrerschaft eigentlich ein neues Gebäude. Aufgrund dieser Uneinigkeit entstanden in der weiteren Bearbeitung oft Konflikte über Details. Zum Beispiel war viel zu lange unklar, ob die Fenster erhalten oder ersetzt werden mussten und welches Material zum Einsatz kommen durfte. In so einer Situation wäre eine Task-Force hilfreich, die gemeinsam entscheiden kann. Ueli Lindt: Es ist eigentlich die Kernaufgabe des Amts für Hochbauten, alle Projektbeteiligten vor Beginn der Projektierung auf eine gemeinsame Zielvorstellung zu fokussieren, die sie mit Begeisterung tragen. Das klappt manchmal sehr gut und manchmal weniger gut. Je komplexer ein Projekt ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei später von der gemeinsamen Zielformulierung wieder abdriftet.
Sibylle Bucher: Ich wünschte mir, dass dabei ein Handbuch, eine Art ‹Bibel›, ausgearbeitet würde, die die angemessenen Lösungen für diesen spezifi schen Bau für alle verbindlich festlegt.
Ueli Lindt: Solche ‹Bibeln› erarbeiten wir tatsächlich im Rahmen der gemeinsamen Zielformulierung. Sie können viele Konflikte ausschliessen oder zumindest offenlegen. Beim Schulhaus Milchbuck gab es aber leider nur eine schmale Machbarkeitsstudie.
Heinrich Gugerli: Manchmal sind den Beteiligten auch einfach nicht alle Konsequenzen bewusst, die ein bestimmter Entscheid haben wird. Vermutlich war beim Milchbuck- Schulhaus nicht allen klar, dass man die Decken so stark verstärken bzw. sie ersetzen muss, wenn die Wände verschoben werden. Auf der Baustelle sah man dann, dass der Eingriff schon fast erschreckend tief war.
Sibylle Bucher: Nachdem die Vergrösserung der Schulzimmer einmal beschlossen war, sehe ich es als Beitrag an die Nachhaltigkeit, die Decken so zu verstärken, dass die Nutzbarkeit stark erhöht wird. Bei künftigen Umnutzungen können nun ohne grosse Eingriffe auch Wände verschoben werden.
Peter Ess: Es ist aber genau diese Eingriffstiefe, die ich kritisieren möchte! Es gibt einen Fetischismus der Raumoptimierung, der versucht, den hintersten Quadratmeter noch optimal zu nutzen. Damit ruiniert man viel Substanz. Man hätte dieses Schulhaus auch mit einer Klasse weniger belegen und einen Teil der alten Klassenzimmer als – etwas zu gros se – Gruppenräume nutzen können. Statt Wände um einzelne Meter zu verschieben, um exakt die rationellste oder eine bestimmte Normraumgrösse zu treffen, wäre es in bestehenden Bauten oft sinnvoller, sich etwas mehr Raum zu leisten als nötig. Das würde Geld sparen, denkmalschutzwürdige Substanz schonen und die Stoffflüsse klein halten. Hier liegt ein ganz wichtiges Potenzial für einen schonenden Umgang mit Gebäuden. Viele Nutzer und Bauherren stützen sich noch zu einseitig auf die reine Optimierung des genutzten Raums pro investierten Franken. Wir müssen den Bestellern und Nutzern immer wieder sagen: Ihr müsst euch mit eurem Betriebskonzept im Potenzial dieses Gebäudes bewegen, sonst wird die Umnutzung zu aufwendig. Das ist eine permanente Auseinandersetzung.
Sibylle Bucher: Sie wäre einfacher, wenn alle Beteiligten Spezialisten im Umgang mit historischem Baubestand einsetzen könnten. Es würde sich lohnen, dieses Spezialwissen stärker aufzubauen, denn mehr als die Hälfte des Bauvolumens ist heute Umbau, und der Anteil wird noch stark wachsen.
Urs Baur: Eigentlich müsste man das Potenzial eines Gebäudes viel freier abklären können: Was für eine Nutzung ist hier möglich, und was kann das Gebäude nicht erfüllen? Peter Ess: Die städtische Immobilienbewirtschaftung hat diesen Auftrag schon. Aber beim Schulhaus Milchbuck waren diese Raumoptimierungen für sie strategisch wichtig, und sie hat sich damit beim Stadtrat durchgesetzt. Es war ein qualifizierter politischer Entscheid für die grosse Eingriffstiefe.
TEC21: Wären die scheinbar widersprüchlichen Anliegen von Ökologie und Städtebau einfacher unter einen Hut zu bringen, wenn man bei den Vorstellungen über die Nutzung flexibler wäre? Alle: Ja, sicher.
Peter Ess: Hier liegt für uns ein Schlüssel zu wirklich nachhaltigen Umnutzungen. Ich glaube, darüber besteht an diesem Tisch ein Konsens.
Sandra Zacher: Leider werden Betriebskonzepte meist entworfen, bevor aus der baulichen und denkmalpflegerischen Analyse eine bestimmte Haltung gegenüber dem umzubauenden Gebäude erarbeitet worden ist. So entstehen Wünsche, für die sich das Gebäude gar nicht eignet.
Heinrich Gugerli: Beim Amtshaus Parkring gelang es, das bewusst zu machen. Hier wurde die originale kleinteilige Raumstruktur mit Einzelbüros erhalten und von den Nutzenden des Schul- und Sportdepartements akzeptiert, obwohl urprünglich Grossraumbüros geplant waren.

Labels und graue Energie

Sibylle Bucher: Substanz erhalten ist nachhaltig und vernünftig: Um mehr Respekt vor dem Bestehenden zu gewinnen, wäre es vielleicht wünschbar, einen Malus einzuführen für abgebrochene Anteile. Oder anders herum: Ich habe mir auch schon gewünscht, dass das Baumaterial viel teurer würde, damit wir eine ökologische Kostenwahrheit beim Material hätten und bestehende Teile eher weiterverwenden würden.
TEC21: Was können hier die Energie-Labels beitragen?
Peter Ess: Die Labels waren wichtig, damit ökologisches Bauen breite politische Akzeptanz fand. In der Praxis muss aber bei jedem Bauprojekt mit gesundem Menschenverstand der Ertrag am Aufwand gemessen werden. Zum Aufwand gehört auch der Verlust an vorhandener Bausubstanz. Für jedes Anliegen den Punkt zu suchen, wo sich noch mehr Aufwand nicht mehr lohnt – das ist der nötige Optimierungsprozess.
Heinrich Gugerli: Die Labels sind für uns ein Behelf, um zu Benchmarks zu kommen und vergleichen zu können. Aber die letzte Kommastelle ist am Ende nicht entscheidend. Wenn es um die Eingriffstiefe geht, muss man über die graue Energie reden, über den Energieaufwand zur Produktion des neu verwendeten Baumaterials und zur Entsorgung des Abbruchmaterials. Die Labels Minergie und Minergie-P berücksichtigen die graue Energie nicht. Erreicht ein renoviertes Gebäude die geforderte Energiebilanz, wird es mit dem Label ausgezeichnet, egal welcher bauliche Aufwand dafür betrieben wurde. Nur beim Label Minergie eco fliesst die graue Energie mit ein. Minergie eco gibt es jedoch erst für Neubauten, noch nicht für Sanierungen – das Problem ist die Berechnung der grauen Energie. Bereits liegen die Resultate eines Forschungsprojekts zu einem Nachweisverfahren für Minergie-eco-Modernisierungen vor, sodass in ein bis zwei Jahren das Minergie-eco-Label für Sanierungen eingeführt werden könnte.
Ueli Lindt: Neben den Labels gibt es auch andere Werkzeuge wie den Energieeffi zienzpfad des SIA, der die graue Energie und auch die Mobilität mit berücksichtigt.
Heinrich Gugerli: Das Verfahren zur Ermittlung der Grauen Energie wird demnächst in Form des SIA-Merkblattes 2032 veröffentlicht, an dessen Entwicklung die Stadt Zürich sich aktiv beteiligte. (Siehe TEC21 H. 8/2008)
TEC21: Damit würde Sibylle Buchers Wunsch nach Materialkostenwahrheit ein Stück weit erfüllt, und auch das Anliegen von Peter Ess, verhältnismässige Eingriffstiefen zu wählen, dürfte mit diesem Instrument einfacher werden.
Jan Capol: Von Ökologen wie Ökonomen höre ich aber immer, ein Haus abzubrechen und neu zu bauen, brauche zwar viel Energie, spiele aber gemessen am gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fast keine Rolle. Relevant sei der Energieverbrauch in der Betriebsphase. Wenn das stimmt, dann geht es – trotz Berücksichtigung der Grauen Energie – eben doch um Werthaltungen: um die politische Frage, auf welche baulichen Zeugen die Gesellschaft verzichten und welche sie erhalten will – auch wenn sie vom Gesamtenergieverbrauch her suboptimal sind.
Heinrich Gugerli: Auch aus rein energetischer Sicht braucht es ein Abwägen. Beide Strategien können sinnvoll sein, wenn sie sorgfältig durchdacht sind: Ersatzneubauten brauchen viel mehr Graue Energie, dafür reduzieren sie Betriebsenergie. Bei Sanierungen ist es umgekehrt, wobei hier je nach Eingriff eine grosse Bandbreite von Möglichkeiten besteht, die es auszuloten gilt.
Jan Capol: Ich bin froh, das zu hören!
Ueli Lindt: Überlegungen zu den Lebenzykluskosten haben bei Sanierungen in letzter Zeit immer mehr Bedeutung gewonnen. Wir überlegen uns vor einem Eingriff, für welchen Zeitraum er nützlich sein soll und was danach mit dem Objekt passiert. So können wir nicht nur die Bauinvestition optimieren, sondern die Lebenszykluskosten. Über die Endlichkeit von Bauten zu philosophieren, ist aber eine Schwierigkeit in der Diskussion mit der Denkmalpflege.
Peter Ess: Bei der grossen Masse im Wohnungsbau gibt es einen Punkt, wo ein Ersatz vernünftig wird – im Sinn einer volkswirtschaftlich verantwortlichen Pflege des Bestandes. Man muss in jedem Fall sorgfältig und in langfristiger Sicht abklären, ob ein Ersatzneubau oder eine Sanierung nachhaltiger ist.
Jan Capol: Einverstanden. Allerdings müssen bestimmte Bauten, die der Gesellschaft als Zeugen ihrer Geschichte dienen, immer erhalten bleiben.
TEC21: Was kann man tun, um das von Politik und Medien inszenierte Gegeneinander von Ökologie und Denkmalpflege zu überwinden und bewusst zu machen, dass beides Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung sind?
Sibylle Bucher: Vielleicht sollte man aktiver gemeinsame Interessen von Denkmalpflege, Nachhaltigkeit und Ökonomie hervorheben, zusammen Arbeitsgrundlagen erarbeiten und die positiven Beiträge herausstreichen, damit die verschiedenen Anliegen weniger gegeneinander ausgespielt werden und nicht der einen Seite die Rolle eines Verhinderers zugeschoben wird. Für eine aktivere Zusammenarbeit sähe ich durchaus noch Potenzial.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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