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TEC21 2008|47
Ghost Architecture
TEC21 2008|47
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Virtuelle Welten

17. November 2008 - Doris Agotai
Von «Raumschiff Orion» bis zu «Matrix»: Science-Fiction-Szenarios waren stets Projektionsfläche wilder Allmachtsfantasien in computergesteuerten Parallelwelten. Heute steht der Begriff «Virtual Reality» auch für eine Technologie, die der Architektur neuartige Erfahrungsräume eröff net – bis sich der Kreis zur Fiktion schliesst: Die virtuelle Vorwegnahme zukünft iger Bauprozesse wird zumindest einen Teil des Wunsches einlösen, Reisen in der vierten Dimension, in die Zukunft , zu unternehmen.

Um Verwechslungen vorzubeugen: Die Technologie «Virtual Reality», auch VR genannt, unterscheidet sich von der Vorstellung einer virtuellen Realität, die sich auf Cyberspaces, digitale Plattformen wie «Second Life» oder das Internet schlechthin bezieht. Der Wandel zur telematischen Gesellschaft geht auch hier – wie bei vielen Veränderungen – mit existenziellen Ängsten einher und wird in der Theorie kontrovers diskutiert[1]: In «Das perfekte Verbrechen» verheisst der französische Philosoph Jean Baudrillard das spurlose Verschwinden der Realität.[2] Bei seinem Kollegen Paul Virilio weicht der gebaute Raum im Zuge der digitalen Entwicklung einer raum-zeitlichen Topologie und führt zur Auflösung des Raums.[3] Etwas nüchterner betrachtet die Professorin für Philosophie am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin Sybille Krämer diesen Wandel und fragt vielmehr, welche Veränderungen die Virtualisierung auf die Bildung neuer Wirklichkeitsvorstellungen hat. Sie stellt dar, wie computergestützte Medien zu neuartigen Phänomenen führen und unsere Modalitäten des Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägen.

Illusion und Immersion

Während sich in der computertechnologischen Entwicklung die Arbeitssituation von Bildschirm, Tastatur und Maus etabliert hat, läuft seit den 1950er-Jahren die Forschung an anderen Interfaces und Interaktionsformen. Die Multi-Touch-Oberfläche des iPhone ist ein Resultat davon, ebenso biometrische Kontrollmedien, Ubiquitous Computing (Allgegenwärtigkeit rechnergestützter Informationsverarbeitung) oder eben VR. Ivan Sutherland war der erste, der mit der Entwicklung eines «Head Mounted Display» (1968) immersive[4] Erfahrungsräume durch dreidimensionale Computerdaten schuf.

Die Möglichkeit, sich durch virtuelle Räume bewegen zu können, steht ideengeschichtlich in der Tradition der Illusionsmedien. So kann VR nicht unabhängig als neues Medium betrachtet werden, sondern steht im Kontext ästhetischer Entgrenzungsstrategien wie perspektivisch überhöhter Fresken in der Renaissance oder Deckenpanoramen in Barockkirchen, des Panoramas und der Erfindung des Stereoskops im 19. Jahrhundert oder des 3-D-Kinos (Bilder 2, 3, 6). Idee dieser Konzepte war dabei immer die spielerisch-bewusste Hingabe an eine Scheinwelt, der Genuss einer Illusion, das Verwischen der Betrachtergrenze zum Bildraum bis hin zur Domestizierung der Sinne und zur Überwältigung der Realitätswahrnehmung. [5] Daraus ergibt sich unweigerlich die Frage, welchen Stellenwert VR als Entwurfs- und Darstellungstechnik für die Architektur einnehmen kann, zumal die Verlockung gross ist, Raumideen virtuell durchschreiten zu können.

Krisen- und Innovationsphasen der VR-Technologie

Für die Gestaltung oder Präsentation von Architektur bietet die VR-Technologie eine intuitive und emotional eindrückliche Alternative gegenüber Computeranimationen am Bildschirm – im Gegensatz zur zweidimensionalen Raumdarstellung und der Navigation mit Tastatur und Maus lässt VR den Betrachter in den dreidimensionalen Raum eintauchen: Die stereoskopische Bildtechnik simuliert eine tiefenräumliche Erfahrung (Bild 7). Die Interaktion erfolgt über die Eigenbewegung des Betrachters. Je nachdem, wie man den Kopf wendet und sich im virtuellen Raum umblickt, wird in Echtzeit die entsprechende Perspektive errechnet und gerendert. Der Betrachter wähnt sich statt in einem virtuellen in einem realen Raum – bis hin zur Höhenangst. Über zusätzliche Eingabegeräte kann die Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit gesteuert oder nach virtuellen Objekten gegriffen werden.[6] Verlief die Interaktion in den Anfängen der VR-Technologie zunächst über Datenhelme und -handschuhe, wurden in den 1990er-Jahren vermehrt Projektionsräume konzipiert, die dem Betrachter mehr Freiheit liessen. Intuitiv, das heisst wie in der echten Welt, konnte sich der Betrachter nun durch simulierte Räume bewegen. Der zentrale Gedanke dieser Erfindungen war, dass sich nicht der Mensch den Gegebenheiten von Maschinen anpasst, sondern die Technologie Simulationsmodelle zur Verfügung stellt, welche auf die Wahrnehmungsdisposition des Menschen eingehen und die äussere Welt spiegeln. Führten VR-Studios mit gewölbten Grossbildleinwänden oder CAVEs[7] in den 1990er-Jahren zu einem eigentlichen Hype, schlitterte die Technologie in den darauffolgenden Jahren in eine Krise: Die damals gebauten vollimmersiven Umgebungen schotteten den Nutzer zu stark von seiner realen Umgebung ab, erfüllten von der Rechnerleistung her nicht die Ansprüche an eine fotorealistische Bildqualität und schränkten durch die hohen Einstiegskosten das Anwendungsspektrum stark ein.[8]

Perspektiven: Simulation und ERkenntnisgewinn

Mittlerweile haben sich VR-Anwendungen in der Automobilindustrie, in der Medizinaltechnik oder bei Flugsimulatoren längst etabliert. Die Prozessoren sind schneller und günstiger geworden – Entwicklungen aus der Game-Industrie wie die Nintendo-Wii-Konsole, die VRKomponenten integriert, kündigen eine neue Innovationsphase an.

Es ist eine Frage der Zeit, bis sich virtuelle Umgebungen auch in der Architektur und im Baubereich festigen werden. So wird die mediale Aufbereitung von Bau- und Planungsprojekten für Investoren, in Informationspavillons oder in der Immobilienbranche selbst Laien einen Raumeindruck vermitteln und Planungsideen besser kommunizieren können.[9] Das Medium eignet sich damit zur Visualisierung und Simulationstechnik (Bilder 4, 5). Zu den Möglichkeiten der Darstellungstechnik treten jedoch vermehrt Fragen zum Erkenntnisgewinn und zur Prognostik[10] – etwa wie das Medium zur Erkennung von vergleichbaren Strukturen oder Verhaltensmustern eingesetzt und so für die Bauprozessgestaltung genutzt werden kann (Bild 8).[11] Hier schliesst sich der Kreis zur Fiktion, zur Zeitmaschine von H.G. Wells: Die Abbildung und damit Kontrolle, Fehlererkennung und Optimierung zukünftiger Bauprozesse kann virtuell vorweggenommen werden – und löst zumindest einen Teil des Wunsches ein, Reisen in der vierten Dimension, in die Zukunft, zu unternehmen.

Anmerkungen/Literatur
[1] Vgl. Döring, Jörg und Thielemann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; Krämer, Sybille (Hg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M. 1990; Maresch, Rudolf und Werber, Niels (Hg.): Raum – Wissen – Macht. Frankfurt a.M., 2002; Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M., 2005
[2] Baudrillard, Jean: Das perfekte Verbrechen. München, 1996, S.11–21
[3] Virilio, Paul (1984), Die Auflösung des Stadtbilds, in: Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M., 2006, S.261–273
[4] Der Begriff der filmischen Immersion meint das Eintauchen in eine künstliche Welt durch Auflösung der räumlichen Grenzen, die noch Theater und Oper bestimmten; er geht auf einen Text von Béla Balázs aus dem Jahr 1938 zurück und bezeichnete dort den Eingang, also die Tür in einen anderen Raum. Im Gegensatz dazu steht die Metapher des Fensters in den anderen Bildmedien; durch das Fenster kann man zwar in einen anderen Raum hineinschauen, ihn jedoch nicht betreten. Béla Balázs, Zur Kunstphilosophie des Films (1938); in: Albersmeier, F.-J. (Hg.): Theorie des Films. Reclam, Stuttgart, 1995, 204–226, hier S.215
[5] Vgl. Grau, Oliver: Virtual Art. From Illusion to Immersion: Cambridge Mass., 2003
[6] Vgl. Craig, Allan und Sherman, William: Understanding Virtual Reality. Interface, Application and Design. San Francisco (California), 2003; Burdea, Grigore und Coiffet, Philippe: Virtual Reality Technology. Hoboken (New Jersey), 2003
[7] «CAVE’s» (Cave Automatic Virtual Environments) sind geschlossene Illusionsräume, die meist aus sechs Projektionswänden bestehen
[8] Vgl. Hellige, Hans Dieter (Hg.): Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung. Bielefeld, 2008, S.59–62
[9] Doulis, Mario; Agotai, Doris; Wyss, Hans Peter (2008), Spatial Interface. Wahrnehmungsfelder und Gestaltungsansätze im virtuellen Raum, in: Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur, in Vorbereitung
[10] Vgl. Gleiniger, Andrea und Vrachliotis, Georg (Hg.): Simulation. Präsentationstechnik und Erkenntnisinstrument, Basel, 2008; Egloff , Rainer, Folkers, Gerd und Michel, Matthias (Hg.): Archäologie der Zukunft . Zürich, 2007
[11] Am Institut für 4-D-Technologien der FHNW werden mit Unterstützung von VR-Technologien Bauprozessoptimierungen für den Aus- und Umbau von Stationsbauten der SBB entwickelt. In einer virtuellen Umgebung kann dabei der gesamte Bauprozess entlang der zeitlichen Entwicklung simuliert und modifi ziert werden. Vgl. dazu: Doulis, Mario u.a. (2007), 4DIVE – A 4D Interface for the Visualization of Construction Processes in a Virtual Environment. Proceedings of CONVR 2007, University Park PA, S.28–39

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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