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TEC21 2009|18
Komplementär
TEC21 2009|18
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Balanceakt

Äusserlich intakt war die 1867 errichtete Villa Rainhof in Zürich Mitte des 20. Jahrhunderts ihres baulichen Schmucks fast gänzlich beraubt worden. Nachdem «das Haus bis auf die Knochen geschält wurde und während neun Monaten eine klaff ende Wunde war», trägt es nun auf der Rückseite komplementäre Züge zur Front, sodass es zwischen 19. und 21. Jahrhundert balanciert.

Die 1867 erbaute Villa Rainhof liest sich als Teil jenes im Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte von kommunaler Bedeutung aufgeführten Ensembles, zu dem auch die ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Villen Patumbah und Hagmann gehören. Dem Kanton 1977 vermacht, war das Legat an die Bedingung geknüpft, dass das Haus der Bildung zugänglich gemacht würde. 1982 löste der Staat diese ein; zunächst mit der Belegung durch die Universität Zürich, dann bis 2005 mit der Einquartierung des ETHInstituts für Geobotanik, um es nun schliesslich defi nitiv den Instituten für systematische Botanik und für Pfl anzenbiologie zur Verfügung zu stellen. Der Regierungsrat sprach einen Kredit von 5.5 Millionen Franken, um die an der Zollikerstrasse 137 gelegene Liegenschaft instand zu setzen und für die Erfordernisse der Bildungs institute aufzurüsten, das heisst, die Sammlung des an der Zollikerstrasse 107 untergebrachten Instituts für Systematische Botanik ins Erdgeschoss der Liegenschaft «Rainhof» zu verlegen und in den beiden Obergeschossen Büros und Seminarräume des Instituts für Pfl anzenbiologie einzurichten.

Steigt man von der Zollikerstrasse den Zugangsweg hinauf, erhascht man zwischen dem reichen Baumbestand des 1880 von Theodor Froebel angelegten Landschaftsgartens[1] hindurch einen Blick auf die zur Seeseite hin orientierte Fassade der Villa. Von hier aus würde man kaum vermuten, dass die intakte Front des im Stil der Neorenaissance erbauten Hauses ein Inneres birgt, dem im Laufe der Jahrzehnte arg zugesetzt wurde. Die gravierendsten Eingriffe hatte die Villa um 1943 und 1951 zu ertragen, als sie in ein Zweifamilienhaus umgebaut wurde. Mit Ausnahme der Verlegung des ursprünglich auf der südöstlichen Seite situierten repräsentativen Eingangs auf die Rückseite spielten sich die Eingriffe hauptsächlich im Innern ab. Die Treppe wurde ersetzt, die dreiachsige Grundrissdisposition durch die Unterteilung von Räumen verunklärt, die Innenausstattung in Mitleidenschaft gezogen, indem der bauliche Schmuck – Stuckdecken, Holztäfer, Tapeten – entfernt und durch einen Zementputz ersetzt wurde, unter dessen Panzer die Gebäudehülle nicht mehr atmen konnte. Zumindest teilweise erhalten geblieben waren immerhin die Parkettböden – in verschiedenen Hölzern (Eiche, Tanne, Buche, Nussbaum) und schmuckvollen Verbänden (Würfel-, Stern-, Fischgrätmuster) verlegt.

Die Gesamterneuerung des Gebäudes stand unter zuweilen widersprüchlichen Prämissen: Die vorhandene Bausubstanz hatte denkmalpfl egerisch renoviert, den heute geltenden baulichen Vorschriften und Normen angepasst und auf die Bedürfnisse der Institute – vor allem auch ihre hohen Ansprüche an die Technologie – adaptiert zu werden. Martin und Elisabeth Boesch, die mit ihrem Projekt eine Konkurrenz von fünf eingeladenen Büros gewonnen hatten, haben sich auf sehr differenzierte Weise Zugang zu der Villa verschafft. Ausgangspunkt war ihr Grundsatz, sich nicht auf den Kontrast zwischen Alt und Neu zu kaprizieren. Ihm entspricht sowohl der Umgang mit dem Bestand als auch die Haltung, mit der sie das Haus um einen – in der Ausschreibung nicht geforderten – Anbau ergänzten.

Dieser Anbau gibt dem Haus das zweite Gesicht, das ihm immer gefehlt hat. Denn die Villa thront gleichsam auf einem natürlichen Grat, der nach Südwesten zum Zürichsee und nachNordosten, Richtung Zürichberg, zur Senke hin abfällt, in welche die Kuppeln der Gewächshäuser des Botanischen Gartens eingebettet sind. Diese «Rückseite« aber hatte der unbekannte Urheber der Villa der Vernachlässigung anheimgestellt. Daran änderte sich auch nichts, als bei den Umbauten Mitte des letzten Jahrhunderts der Eingang von der Südost- auf die Nordostseite, den einstigen Dienstboteneingang, verlegt und eine neue Treppe eingebaut wurde. Der neue, kubische Anbau wertet diese Fassade nun nicht nur auf, sondern gibt der Frontseite ein «Gegengewicht», das den auf dem topografi schen Sattel balancierenden Charakter des Hauses wahrnehmbar macht.

Der zweigeschossige Portikus ist in je neun vorfabrizierte Betonstützen aufgelöst. Gedämpft wird die repräsentative Geste durch verschiedene Massnahmen: Die Oberfl äche des Flachglases nimmt dem Baustoff die Härte, das Gussglas von Brüstungen und Schürzen defi niert den menschlichen Massstab, die in die Betonelemente eingegossenen Lindenholzbretter markieren nur zarte Fugen, und dem Beton wurde mittels Ansäuerung eine optisch weiche Anmutung verliehen. Beim Ansäuern – eine Alternative zum Sandstrahlen oder Auswaschen – wird das Betonelement mit Säure bestrichen, um die Zementhaut von der Oberfl äche abzutragen. Im Vergleich etwa zum Sandstrahlen, das eine relativ raue Oberfl äche hinterlässt, ist das Ansäuern dezenter im Abtrag und erzeugt eine optisch und haptisch weich wirkende Oberfläche.

Um das Material noch stärker dem Bestand anzuverwandeln, wurde der Beton ausserdem leicht gelblich getönt und als Gesteinskörnung mit Jurakies versetzt, dessen Färbung ebenfalls durch das Ansäuern zusätzlich hervorgeholt wurde. Als Reverenz sowohl an den Ort als auch an die bauhistorische Epoche mit ihrem ursprünglichen Bauschmuck zieren neun als Reliefs ausgebildete Eidechsen die Stützen. Das Erdgeschoss des Anbaus ist «technisch» ein Windfang, inhaltlich aber soll es als eine Art Wintergarten mit Sammlungsstücken bespielt werden. Entsprechend seinem Charakterals «Interface» zwischen innen und aussen ist der Boden mit beigen, sechseckigen Steinzeugplatten belegt. Das Obergeschoss ist funktional nicht eindeutig defi niert: Es kann als Sitzungszimmer, Pausenraum oder Seminarraum genutzt werden, ist aber immer ein «Baumzimmer», eine Art Baumhütte.

Im Entrée dominieren die beiden an Bienenkörbe erinnernden Zierköpfe: überdimensioniert nachgedrechselte Varianten der den Antrittspfosten des Handlaufs des Treppengeländers zierenden Exemplare. Den Architekten ist es gelungen, die skulpturale Qualität der restaurierten Treppe mit ihrem zeittypischen Geländer, die sich fast schwebend in die Höhe schraubt, zu «ent-decken» – trotz den auch optisch robusten Gläsern und Profi len des Brandabschnitts. Dessen Situierung zwischen Treppenhaus und Raumschicht (einen zweiten gib es zwischen Treppenhaus und Anbau) schützte umgekehrt die bestehenden Türen und ihre dekorativen Gussglasausfachungen vor Eingriffen. Anstelle eines Lifts installierten Architekt und Architektin eine Hebevorrichtung, die das Haus bis zum 1. OG behindertengerecht erschliesst, und spielten damit die Räume frei. Diese mussten der technischen Installationen wegen ohnehin schon «grenzwertig» (Martin Boesch) befrachtet werden.

Zwischen Verfestigen und Verflüchtigen

Es war denn auch ein Balanceakt, den Instituten Genüge zu tun und dem Haus gerecht zu werden. Um den Bau typologisch zu bereinigen und ihn im Wesentlichen auf die Dreiachsigkeit zurückzuführen, musste er «bis auf die Knochen geschält» (Martin Boesch) werden. Die das Mauerwerk tragende Holzständerkonstruktion bedurfte stellenweise einer statischen Ertüchtigung. Dies zum einen wegen höherer Anforderungen für öffentliche Gebäude – so mussten die Decken über den grossen Kurs- bzw. Seminarräumen lokal mit Stahlträgern verstärkt werden –, zum andern wegen bautechnischer Altlasten. Das Ersetzen der ursprünglichen Treppe von 1867 durch die heutige Treppe in den 1940er-Jahren wirkte sich nachteilig auf das Gebäudetragwerk aus, sodass der Deckenrand der Hallen zum Treppenhaus hin mit Stahlträgern und Stützen verstärkt werden musste.Neben der Wiederherstellung der typologischen Lesbarkeit war den Architekten auch daran gelegen, sie atmosphärisch wieder aufzuladen. Sie sannen darauf, ihr die architektonische Dichte – Parkett, Stuck, Täfer und Tapeten –, deren das Haus durch die Umbauten verlustig ging, wieder zu verleihen. Das Prunkstück des Hauses, einen antiken Kachelofen, übergaben die Architekten der Kantonalen Denkmalpfl ege und erhielten im Gegenzug aus deren Bestand Parkettböden, um die an manchen Stellen fehlenden bzw. bei Kücheneinbauten ersetzten Stücke zu ergänzen. Die Brüche sind zwar sichtbar, aber die Muster stimmen. Das Brusttäfer bildeten die Architekten in mit hellgrauer Ölfarbe gestrichenen MDF-Platten nach. Um den Genius Loci einzuhauchen, frästen sie stilisierte Blattmotive verschiedener Pfl anzen ein. Sie entnahmen sie den Herba rien, die Frank Klötzli, 1976–1999 Professor für Angewandte Pfl anzensoziologie und Pfl anzenökologie an der ETH Zürich, in den 1970er- und 1980er-Jahren angelegt hatte. Von den acht gewählten Pfl anzen, die Boesch Architekten aus den Sammlungen aus Tansania, Kenia und Hawaii wählten, lassen sich aufgrund der originalen Beschriftung Orchideenbaum, Wolfsmilch, Zypergras, Liebesgras und eine Ahornart identifi zieren.

Simultankontrast

Gewissermassen als Analogien zur einstigen Stuckatur fi gurieren die Profi lierung des oberen Wandabschlusses und die mittels Schablonen in Glanzlack an die Decke «projizierten» Blätter des im Garten stehenden Tulpenbaums. Je nach Lichtverhältnissen changieren die Blätter zwischen positiv und negativ, mal sind sie heller als die Decke, mal dunkler. Und schliesslich sind die Räume mit einer Andeutung von Farbe angehaucht. Boesch Architekten adaptierten vier in der Klassifi kation der Blütenfarben verzeichnete Werte, reduzierten sie auf eine gerade noch wahrnehmbare Tönung in Zitronengelb, Hellblau, Lila und Mint. Die Anmutung der Zeitperiode, in der die Villa umgebaut wurde, verströmt die Möblierung: Mit Ausnahme der Büroräume konnte das ganze Haus aus dem Fundus im «Estrich» der Universität mit 110 Exemplaren des Mehrzweckstuhls SE68 (1950) von Egon Eiermann ausgestattet werden. In den beiden Hallen sind je zwei der von Häfeli, Moser, Steiger für das Kongresshaus 1939 entworfenen und von der Möbelfabrik Horgen-Glarus wieder aufgelegten «Holzstühle mit Armlehne» um ein Salontischchen platziert, das aus jeweils zwei Ulmer Hockern (1954) von Max Bill besteht.

Elisabeth und Martin Boesch ist es gelungen, die Villa am Ort und in der Geschichte zu verankern, indem sie sie in der Schwebe liessen. Sie haben sie zwischen Zürichsee und Zürichberg verortet, indem sie ihr ein zweites Gesicht gaben. Sie haben sie in die Jahre 1867, 1943–1951, 2009 datiert – nicht indem sie das Dekor rekonstruiert, sondern indem sie die vorhandenen Zeitschichten freigelegt und die fehlenden in Anlehnung an jene – gleichsam komplementär – ergänzt haben.

Sie haben das Neue dem Alten nicht kontrastierend entgegengesetzt, sondern es ihm anverwandelt. Sie haben mit dem Bauschmuck architektonisch verdichtet, atmosphärisch aber verfl üchtigt. Farben und Formen geben nicht den Ton an, sie sind die Resonanz. Oder anders formuliert: Das Dekor, das die Architektin und der Architekt, die Künstlerin Mirca Maffi und der Künstler Moses Mbah Godlove schufen, wirkt wie ein Simultankontrast: Bei der Betrachtung schwingt der ursprüngliche Schmuck mit.
Anmerkung
[1] Vorläufig beschränkte sich der Projektperimeter aus finanziellen Gründen auf das Haus und die Instandsetzung der durch Baumassnahmen (Kanalisation, Werkleitungen, Aushub) betroffenen Bereiche, insbesondere auf den Zufahrtsweg, die unter dem Haus gelegene Vorfahrt und den Vorplatz beim neuen Hauseingang. Christiane Sörensen verfasste im Rahmen des Villa-Rainhof-Projekts für die Parzelle Zollikerstrasse 137 eine Konzeptstudie, unter Berücksichtigung des Architekturgartens der Villa Hagmann von Otto Froebel und der Gebrüder Mertens von 1898 sowie des Landschaft sgartens der Villa Patumbah von Evariste Mertens (1880). Kanton und GrünStadt Zürich fassen eine weiterführende Projektierung der Umgebung ins Auge

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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