Zeitschrift

TEC21 2009|31-32
Gefahren einschätzen
TEC21 2009|31-32
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Naturgefahren entlang von Nationalstrassen

Zurzeit klärt der Bund in einem mehrjährigen Projekt ab, wo die Nationalstrassen in der Schweiz am stärksten durch Naturgefahren bedroht sind. Ziel ist es, die Risiken vergleichbar zu erfassen und darzustellen. Dies bildet eine wichtige Grundlage, um die Investitionen in Schutzmassnahmen künft ig möglichst optimal einzusetzen. Der Vergleich mit anderen Risiken auf der Strasse bleibt aber weiterhin schwierig.

31. Juli 2009 - Luuk Dorren, Philippe Arnold
Was ist eigentlich gefährlicher: durch den Gotthardtunnel zu fahren oder auf der A2 bei Gurtnellen oder einfach irgendwo auf einer Autobahn in der Schweiz? Seit 2008 ist das Bundesamt für Strassen (Astra) durch die Neugestaltung des Finanzausgleichs und die damit verbundene neue Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) für Planung, Bau und Betrieb des ganzen Nationalstrassennetzes verantwortlich. Deshalb könnte man meinen, das Bundesamt könne diese Frage problemlos beantworten. Dass dies aber nicht so einfach ist, wird nachfolgend anhand des vom Astra verwendeten Risikokonzepts «Naturgefahren auf Nationalstrassen» erläutert. Zudem werden erste Erfahrungen eines Pilotprojektes im Urner Reusstal vorgestellt.

Risikobasiertes Naturgefahrenmanagement beim Astra

Im Astra wird gegenwärtig ein Naturgefahren-Risikomanagement eingeführt, das Klarheit darüber schaffen soll, welche Ereignisse bei Nationalstrassen ein Risiko darstellen und wo Chancen für Verbesserungen liegen. Das Astra wird dabei durch Fachleute des Bundesamtes für Umwelt unterstützt. Das Risikomanagement stellt Methoden und Instru mente bereit, um Risiken wie auch Chancen zu erfassen, zu beurteilen und um Massnahmen zu ergreifen. Um entscheiden zu können, welche Massnahmen Priorität haben, müssen Risiken miteinander verglichen werden. Das führt zurück zur am Anfang gestellten Frage. In einem ersten Schritt ist «gefährlich» zu defi nieren. Aus der Sicht eines Autofahrers ist es in erster Linie das Risiko, auf einer Nationalstrasse getötet zu werden (Todesfallrisiko). Dieses Risiko kann für die drei erwähnten Situationen berechnet werden – entweder auf Basis von dokumentierten Todesfällen oder aber mit Hilfe von theoretischen Risikomodellen. Im ersten Fall würden folgende Zahlen zu Verfügung stehen: – Gemäss Bundesamt für Statistik gab es 2007 41 Unfälle mit Todesopfern auf Autobahnen. – Im Gotthardtunnel kamen zwischen 1981 und 2007 32 Personen ums Leben (11 davon beim Tunnelbrand 2001; seit 2001 gibt es 60 % weniger Unfälle im Tunnel als vorher). – Beim Felssturzereignis 2006 in Gurtnellen kamen 2 Personen ums Leben. Ausser diesem Ereignis hat es auf der Autobahn bei Gurtnellen seit deren Inbetriebnahme Anfang der 1980er-Jahre keine durch Naturgefahren bedingten Todesfälle gegeben. Das Todesfallrisiko könnte hiermit als die mittlere Anzahl Todesfälle pro gefahrenen Meter pro Jahr berechnet werden. Obwohl sich so ungefähre Todesfallrisiken bestimmen liessen, ist es fraglich, ob diese Zahlen wirklich auch vergleichbar sind, denn es handelt sich um verschiedene Risikotypen. Ausserdem sind solche Todesfallzahlen nicht für das ganze Nationalstrassennetz vorhanden. Somit lassen sich auf dieser Basis schweizweit keine Massnahmen zur Prävention von möglichen Schäden planen.

Eine Alternative bieten theoretische Risikomodelle, die Schadenshäufi gkeit und Schadensausmass für defi nierte Szenarien berechnen. Die Entwicklung eines solchen Modells für Naturgefahren auf Nationalstrassen hat das Astra im Juli 2009 publiziert.[1]

Dabei stützte mansich auf das Risikokonzept der Plattform Naturgefahren (Planat)[2].Somit können künftig Naturgefahren, welche die Nationalstrassen bedrohen, nach einheitlichen und nachvollziehbaren Kriterien beurteilt und Schutzmassnahmen geplant werden. Dieses sogenannte «Risikokonzept Naturgefahren Nationalstrassen» wurde in den vergangenen Monaten im Rahmen eines Pilotprojekts im Urner Reusstal getestet und verbessert. Die beauftragten Büros haben in zwei Abschnitten – im unteren Reusstal vom Seelisbergtunnel Süd bis Erstfeld und im oberen Reusstal von Gurtnellen bis Göschenen – eine Naturgefahren- und Risikoanalyse durchgeführt. Die Wahl fi el auf das Urner Reusstal, weil in dieser Region nahezu alle relevanten Naturgefahrenprozesse vorkommen (vgl. Kasten).

Naturgefahrenanalyse

Für alle zu analysierenden Naturgefahrenprozesse wurden für einen Perimeter von in der Regel 50 m auf beiden Seiten der Fahrbahn – dem sogenannten Perimeter «Schadenpotenzial » – Intensitätskarten erstellt. Diese Karten weisen pro Prozess und Eintretenswahrscheinlichkeit[3] die Intensitäten «schwach», «mittel» und «stark» aus. Die für die Gefahren analyse benötigten Arbeitsschritte sind in der Dokumentation defi niert; sie halten sich an den heutigen Stand der Technik und die entsprechenden Publikationen des Bundes. Wichtig ist unter anderem, dass bestehende Schutzmassnahmen (Schutzbauten und Schutzwald) in der Gefahrenanalyse berücksichtigt und auch dokumentiert werden. Diese Transparenz ist sehr wichtig, um alle Beurteilungen schweizweit vergleichen zu können. Um die Eintretenswahrscheinlichkeiten besser festlegen und die Ergebnisse der Gefahrenanalyse teilweise auf ihre Plausibilität zu überprüfen, wurde ein Ereigniskataster erstellt. Dieser basiert auf kantonalen Daten sowie auf Hinweisen von lokalen Fachleuten.

Risikoanalyse

Folgende durch Naturgefahren bedingte Schäden werden in der Risikoanalyse berücksichtigt: – Personen können durch Naturereignisse getötet werden. – Ablagerungen auf der Strasse müssen geräumt und beschädigte oder zerstörte Infrastrukturen wiederhergestellt werden. – Ein Streckenabschnitt muss vorsorglich oder nach einem Naturereignis gesperrt werden. Dadurch entstehen Kosten infolge nicht verfügbarer Strecken. Diese Schäden werden durch die Verletzlichkeit der Objekte sowie die Intensität und Art der Gefahrenprozesse bestimmt. Um die Schäden untereinander vergleichbar zu machen, werden sie in der Risikoberechnung in Fr./Jahr umgerechnet. Das Risiko wird pro Prozessquelle, Gefahrenszenario und Expositionsszenario für die Fahrbahnachsen berechnet. Als Basis für die Exposition dient der – nach Fahrtrichtung und Saison aufgeschlüsselte – durchschnittliche tägliche Verkehr.

Erste Resultate

Im unteren Reusstal wurden insgesamt 72 historische Ereignisse erfasst: 3 Rutschungs-, 44 Lawinen-, 19 Steinschlag- und 6 Wasserereignisse. Für die Gefahrenanalyse wurden 12 Sturzprozessquellen, 4 Lawinenzüge, 24 Wildbäche, 11 Rutschgebiete sowie die Reuss, der Schächen und die Stille Reuss beurteilt. Es zeigt sich, dass die A2 im unteren Reusstal durch Hochwasser-, Sturz-, Rutsch- und Lawinenprozesse bedroht ist. Das Gesamtrisiko infolge aller dieser Prozesse liegt bei mehreren 100 000 Fr. pro Jahr. Die Hochwasserprozesse tragen zu fast 80 % zum Gesamtrisiko bei; der Rest geht fast ausschliesslich auf das Konto der Sturzprozesse. Das durch Wasserprozesse bedingte Risiko besteht nur aus Sachrisiken. Bei Steinschlag machen Personenrisiken hingegen fast ein Fünftel des Gesamtrisikos aus. Die Gefahrenanalyse hat auch gezeigt, dass die bestehenden Schutzwälder und Schutzbauten das Risiko deutlich reduzieren. Ein Sonderfall ist der Entlastungskorridor für Hochwasser in Erstfeld und Altdorf. Hier dient die A2 im Hochwasserfall nämlich als Schutz für die angrenzenden Siedlungen. Dies erhöht aber das Risiko für Sachschäden an der A2 bei Hochwasserereignissen.Im oberen Reusstal wurde die Gefährdung durch 20 Lawinenzüge, 13 Sturzquellen, 25 Wildbäche sowie die Reuss und alle potenziellen Hangmuren beurteilt. Das Gesamtrisiko auf der A2 im oberen Reusstal ist infolge all dieser Prozesse ca. 25 Mal höher als im unteren Reusstal. Der Grund dafür sind die hohen Kosten, die durch eine eingeschränkte Verfügbarkeit der Strasse infolge drohender Lawinengefahr oder Lawinenabgänge verursacht werden. Lawinen bestimmen einen grossen Teil des Gesamtrisikos, wobei Personenschäden einen Fünftel davon ausmachen. Wasser- und Sturzprozesse bestimmen 17 % respektive 2 % des Gesamtrisikos. Wasserprozesse verursachen nur Sachschäden, bei Sturzprozessen machen Personenrisiken jedoch die Hälfte des Risikos aus.

Ausblick

Das Pilotprojekt ist erfolgreich verlaufen. Der gewählte Ansatz für den gesamtschweizerischen Umgang mit Naturgefahren bei den Nationalstrassen kann somit weitergeführt werden. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass der Perimeter, der für das Schadenpotenzial betrachtet wird, reduziert werden kann. In der Regel genügen 10 m auf beiden Seiten der Fahrbahn. Die Lose für die Naturgefahrenbeurteilung, die Anfang Juli 2009 ausgeschrieben worden sind, betreffen die noch nicht bearbeiteten Strecken der A2 im Kanton Uri, den Gotthardpass, die Leventina, die Strecke Bellinzona–Chiasso und das Misox. Die Resultate der Gefahrenanalysen werden auch der Eisenbahn zur Verfügung stehen. Der Perimeter «Schadenpotenzial» wird in Rücksprache mit den SBB bestimmt, um mögliche Synergien nutzen zu können.

Die Resultate der Naturgefahrenbeurteilungen sollen bis 2012 für das gesamte Nationalstrassennetz vorliegen. Dann lassen sich die Risiken schweizweit vergleichen. Leider wird es aber nicht möglich sein, die Gefährlichkeit einer Autobahnstrecke infolge Naturgefahren direkt mit derjenigen eines Tunnels zu vergleichen. Das Astra-Forschungsprojekt «Sicherheit des Verkehrssystems Strasse und dessen Kunstbauten» (AGB1)[4] hat nämlich klar gezeigt, dass dafür gleiche Systemabgrenzungen und gleiche Annahmen in der Risikoanalyse nötig wären. Risiken, ausgedrückt in Franken pro Jahr, sind und bleiben statistische Zahlen, die innerhalb ihres Bereiches auf eigene Art und Weise entstanden sind. In diesem Rahmen müssen sie auch interpretiert werden. Theoretische Methoden, die den Vergleich von verschieden Risikotypen ermöglichen, stehen allerdings schon jetzt zur Verfügung. Ihre praktische und netzweite Umsetzung lassen aber noch auf sich warten.


Anmerkungen:
[01] Risikokonzept Naturgefahren Nationalstrassen,2009. Download: www.astra.admin.ch > Dienstleistungen > Fachdokumente für National- und Hauptstrassen > 9 Risiko- und Sicherheitsmanagement
[02] Strategie Naturgefahren, Synthesebericht, Planat, 2004
[03] Die Eintretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses wird mit der Wiederkehrdauer von 0 bis und mit 10 Jahren, > 10 bis und mit 30 Jahren, > 30 bis und mit 100 Jahren, > 100 bis und mit 300 Jahren angegeben
[04] Das Forschungsprojekt AGB1 fand im Rahmen der nationalen Strassenforschung 2005–2009 statt. Initiiert wurde es durch die Arbeitsgruppe Brückenforschung (AGB). Ziel war es, Entscheidungsgrundlagen und Methoden bereitzustellen, um mit den vorhandenen finanziellen Mitteln die erforderlichen Sicherheitsstandards über das gesamte Verkehrssystem Strasse inkl. Kunstbauten sicherzustellen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: