Zeitschrift

TEC21 2009|33-34
Dosiertes Chaos
TEC21 2009|33-34
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Flanieren und Ankommen

Verkehrsplaner propagieren eine geringe Regelungsdichte als Beitrag, um die Attraktivität von Siedlungen zu steigern. In Begegnungszonen haben FussgängerInnen Vortritt und dürfen den ganzen Strassenraum benutzen. Die Vertreter des öff entlichen Verkehrs reagieren jedoch ablehnend auf das «organisierte Chaos», da sie Zeitverlust und Kostenfolgen fürchten. Untersuchungen aus dem Kanton Basel-Stadt bilden die Grundlage für eine Diskussion – und zeigen, dass weitere Untersuchungen und Auswertungen nötig sind.

14. August 2009 - Hans-Georg Bächtold
Lange dominierte der Verkehr das Ortsbild: Die negativen Auswirkungen der ausschliesslich nach technischen Überlegungen gebauten Verkehrsanlagen traten in Form von erschwerten Querungsmöglichkeiten, abnehmender Sicherheit, grösseren Zeitverlusten, zunehmender Lärm- und Luftbelastung und sinkender Umsätze in der Folge immer stärker zutage. Diesen «Verkehrsproblemen» wurde oft mit einem Ausbau der bestehenden Anlagen begegnet. Heute stehen als wirkungsvolle Lösungsansätze die Reduktion der Belastungen und die Gestaltung der Freiräume im Vordergrund. Neu sind diese Forderungen allerdings nicht – bereits 1982 lautete ein Leitsatz: Die Strasse ist für alle da. Strassenraum ist Lebensraum.[1]

Die Siedlungen sollen wieder ein attraktiver Lebensraum für die Bewohnerinnen und Bewohner werden. Die Raumplanung bemüht sich unter dem Motto «Innere Entwicklung» um wohnliche Siedlungen und Quartiere, der Umweltschutz versucht, mit technischen Mass nahmen an der Quelle die Umweltbelastungen zu senken, und die Verkehrsplanung hat mit gestalterischen Massnahmen den Verkehr gezähmt, verlangsamt oder aus den Ortskernen verdrängt.[2, 3] In der aktuellen Agglomerationspolitik wird der Gestaltung der Strassenräume eine wichtige Funktion beigemessen, und der Bund finanziert die Einrichtung von Begegnungs- und Tempo-30-Zonen mit. In den letzten Jahren haben daher viele Gemeinden Tempo-30-Zonen eingerichtet, die – richtig konzipiert – sehr wirkungsvoll sind. Ausserdem zeigt sich, dass es sinnvoll ist, solche Zonen in den Gemeinden möglichst flächendeckend umzusetzen.[4, 5]

Von der Flanierzone zur Begegnungszone

Zu Diskussionen Anlass geben heute die Begegnungszonen, von denen mittlerweile über 300 in der Schweiz realisiert wurden oder in Realisierung sind.[6] Diese schaffen anstelle einer funktionalen Trennung der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmenden einen Lebensraum von hoher Aufenthaltsqualität – mit geringem Flächenverbrauch und auf tiefem Geschwindigkeitsniveau. Den Anfang nahm dieses neue, fussgängerfreundliche Verkehrsregime 1996 als «Flanierzone» in Burgdorf. Wissenschaftliche Auswertungen des Pilotprojekts zeigten positive Ergebnisse: Befragungen ergaben, dass sich die anfängliche Skepsis der Bevöl kerung und des Gewerbes im Laufe der Zeit in Akzeptanz wandelte. Zugleich nahm der Umsatz der Geschäfte zu. Nach der Einführung sank das Geschwindigkeitsniveau um ca. 20 km/h, und der motorisierte Verkehr nahm um 16 % ab. Seit 2000 wurde die zunächst provisorische Gestaltung des Strassenraums definitiv umgebaut und als Fläche von Fassade zu Fassade gestaltet.

Begegnungszonen eignen sich dort, wo erheblicher Fussgängerverkehr herrscht, eine Fussgängerzone auf Grund der Grösse des Geschäftsgebietes aber nicht in Betracht kommt. Der querende Fussgängerverkehr hat einen wesentlichen Anteil am Gesamtverkehr, und die Durchmischung erfolgt flächig über die gesamte signalisierte Langsamfahrstrecke. Diese wird auch vom Linienbus frequentiert, ebenso ist die Zufahrt mit Autos und die Anlieferung mit Lastwagen zu gewährleisten.

Über den tatsächlichen Nutzen von Begegnungszonen scheiden sich die Geister. Zwei Kriterien, für die allerdings nur wenige Auswertungen vorliegen, bestimmen die Diskussion: die Unfalldaten und die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit in den Langsamfahrzonen. Ein vom Baudepartement des Kantons Basel-Stadt veröffentlichter Bericht zur Erfolgskontrolle der verschiedenen Projekte zeigt, dass die Geschwindigkeit unter 30 km/h gesenkt wurde. Gleichzeitig wird die Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h nur in zwei Begegnungs zonen eingehalten. Das Verwaltungsgericht St. Gallen hat in einem Urteil festgehalten: Die gefahrenen Geschwindigkeiten im Bereich einer Begegnungszone lagen bei den vorgenommenen Messun gen bei 85 % aller Motorfahrzeuge im Bereich bis 38 km/h und bei 50 % aller Motorfahrzeuge im Bereich bis 28 km/h. Kein Fahrzeug überschritt die Limite von 50 km/h. Daraus wurde im Gutachten die Schlussfolgerung gezogen, es sei ein «recht tiefes Ge schwindigkeits niveau» erreicht worden, sodass aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeiten keine schwere Gefährdung bzw. keine Notwendigkeit zum Schutz besonderer Kategorien von Verkehrsteilnehmern bestehe.[7] Eine andere Auswertung von Unfalldaten in vier Begegnungszonen (Burgdorf, Biel, Lyss und Einsiedeln) zeigt eine Reduktion der Unfälle, der Verletzten und der Sachschäden zwischen 10 % und 30 %. Die Zahl der Verletzten – Fussgänger und Radfahrer – sank von 20 auf 16. Ein grosser Teil der Unfälle sind Bagatellunfälle, die unabhängig vom Verkehrsregime bei tiefen Geschwindigkeiten geschehen, etwa beim Parkieren, Manövrieren oder Abbiegen. Insgesamt kann den Begegnungszonen bezüglich Verkehrssicherheit also ein gutes Zeugnis ausgestellt werden. Die Befürchtung, dass sich durch die geringe Regelungsdichte und die damit verbundene Verunsicherung mehr Unfälle ereignen, hat sich nicht bewahrheitet. Andererseits ist die Reduktion der Unfallzahlen und -folgen nicht so markant, dass mit der Einrichtung einer Begegnungszone eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheit einhergeht. Wünschenswert wären hier Untersuchungen mit einer breiteren Datenbasis in Abhängigkeit von den Gestaltungstypen.

Konflikte mit dem öffentlichen Verkehr

Die Kritik an den neuen Zonen kommt meist vonseiten des öffentlichen Verkehrs, dessen Interessen den Forderung nach «Langsamfahrzonen» entgegenstehen: Die Umläufe der Buslinien sind zum Teil sehr knapp bemessen und bei Verkehrsbehinderungen kaum pünktlich fahrbar. Zudem wird in den nächsten Jahren mit einem markanten Zuwachs an öV-Benützern gerechnet, die ihre Anschlüsse gesichert sehen wollen. Bei Entscheiden ist daher genau zwischen den verschiedenen Ansprüchen abzuwägen.

Die nachstehenden Überlegungen und Ansätze basieren vor allem auf den Diskussionen im Kanton Basel-Landschaft im Zusammenhang mit der Einführung und der Ausdehnung der Langsamfahrzonen und auf Reaktionen von Verkehrsfachleuten.[8] Grundlage für die Erteilung einer Bewilligung für eine Tempo-30-Zone ist die «Verordnung über Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen» vom September 2001. Darin wurde die Flächenbegrenzung auf 0.7 km2 aufgehoben, sodass ganze Ort- oder Talschaften zu einer einzigen Tempo-30-Zone werden können. Nicht geregelt wurde jedoch der Umgang mit dort verlaufenden öV-Linien. Dadurch erhöht sich die Konfliktwahrscheinlichkeit, die zu unplanbaren zeitlichen Verzögerungen im Busverkehr führen können – mit negativen Auswirkungen auf den Fahrplan:

1. Temporeduktion: Durch die Verlangsamung der Busfahrt aufgrund der Reduktion der Höchstgeschwindigkeit wird die Benützung des öffentlichen Verkehrs unattraktiver und stellt keine interessante Alternative zum Individualverkehr dar.

2. Wegfall der Vortrittsberechtigung: Mit einer Langsamverkehrszone geht die Einführung eines generellen Rechtsvortritts einher. Auch Busse müssen bei jeder Rechtseinmündung den Vortritt gewähren, was für die Fahrgäste unangenehme und sicherheitsrelevante abrupte Brems- und Anfahrvorgänge zur Folge hat.

3. Hindernisse: In Langsamverkehrszonen wird die Fahrbahnbreite meist durch Anordnung von versetzten Parkfeldern oder künstlichen Hindernissen reduziert. Dies bewirkt eine für die Fahrgäste unangenehme und für den Wagenführer anspruchsvolle Schlangenfahrt. Zudem ergeben sich umständliche Kreuzungsvorgänge mit Personenwagen.

Obwohl die gefahrene Höchstgeschwindigkeit auf für Langsamverkehr vorgesehenen Strassen wenig über 40 km/h hinausgeht und dadurch der Fahrzeitverlust meist klein ausfällt, kann Punkt 1 insbesondere bei gespannter Fahrplanlage und knappen Anschlusszeiten betriebliche Probleme bereiten und gegebenenfalls sogar Folgekosten verursachen, wenn mehr Busse eingesetzen werden müssen, um die Umlaufzeiten sicherzustellen. Stärker fallen die Punkte 2 und 3 ins Gewicht, da sie gleichzeitig fahrplan- und sicherheitsrelevant sind. Eine Vollbremsung stellt das höchste Gefährdungspotenzial für Fahrgäste dar, vor allem bei einem hohen Anteil stehender Fahrgäste.

Ein weiteres Spannungsfeld zeigt sich im Bereich von Schulen. Um den Konflikt zwischen Kindern und anderen Verkehrsteilnehmenden zu minimieren, wünschen sich Gemeinden in diesen Strassenabschnitten eine Verkehrsberuhigung. Gleichzeitig ist der Linienbus vielerorts das Haupttransportmittel für die Schüler, der notwendig in Schulhausnähe verkehrt und hält. Vor diesem Hintergrund werden folgende Handlungsgrundsätze abgeleitet:

1. Auf Hauptsammelstrassen mit öV-Linien sind grundsätzlich keine Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen zulässig.

2. Auf Quartiersammelstrassen mit öV-Linien sind Tempo-30-Zonen (nach Abwägung der Nachteile für den Busbetrieb) denkbar.

3. Auf Haupt- und Quartiersammelstrassen ohne öV-Linien sind Tempo-30-Zonen und Begegnungszonen möglich (Beurteilung: evtl. zukünftige Bedienung mit öV-Linie).

Zusätzlich sind in der Nähe von Schulhäusern, bei publikumsintensiven Einrichtungen oder auf zentralen Plätzen kurze Tempo-30-Abschnitte oder Begegnungszonen zur Vernetzung verkehrsberuhigter Zonen nach vorgängiger Prüfung durch die öV-Verantwortlichen denkbar. Dass sich Busse und Begegnungszone durchaus vertragen, zeigt wiederum das Beispiel Burgdorf. Verkehrsplaner schätzen die Fahrzeitverluste gering ein, da Begegnungszonen dort eingerichtet wurden, wo bisher schon langsam gefahren wurde. Viel stärker auf die Gesamtfahrzeit wirken sich Knotenpunkte mit Lichtsignalanlagen und unterschiedlich lange Haltezeiten aus – wenn zum Beispiel viele Menschen ein- oder aussteigen wollen.


Anmerkungen:
[01] Manfred Sack: Lebensraum: Strasse. Schriftenreihe des deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 14, Bonn 1982, 84 Seiten
[02] Hanspeter Lindenmann, Stefan Frey, Markus Schwob: Gestaltung von Kantonsstrassen in Ortskernen. Institut für Verkehrsplanung, Transporttechnik, Strassen- und Eisenbahnbau ETHZürich, Tiefbauamt des Kantons Basel-Landschaft, Zürich und Liestal 1987, 69 Seiten
[03] Tiefbauamt des Kantons Bern, Gemeinde Köniz, Tiefbauamt der Stadt Bern (Hrsg.): Der Wabernblock. Bern 1998, 56 Seiten
[04] Mobilservice – Plattform für eine zukunft sorientierte Mobilität: Praxisbeispiel, Zonen mit Tempobeschränkung, 24 Seiten, www.mobilservice.ch
[05] Mit dem «Berner Modell» hat der Kanton Bern zusammen mit Fachleuten auf teils pragmatischem und teils wissenschaft lichem Weg eine Vorgehens und Planungsphilosophie entwickelt, welche die Reparatur und das Schaff en von Entwicklungsspielräumen im Auge hat, aber auch das Umgehen mit dem Konfliktpotenzial. www.tba.bve.be.ch, Berner Modell (Projektbeschriebe, Wirksamkeitsanalysen, Film «Berner Modell»)
[06] www.begegnungszonen.ch
[07] Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 23. Januar 2007
[08] Im Kanton Basel-Landschaft ist die Abteilung öffentlicher Verkehr dem Amt für Raumplanung angegliedert – wie auch die Fachstelle Lärmschutz und die Kantonale Denkmal- und Ortsbildpflege. Innerhalb des Kantons beschäftigen sich insbesondere drei kantonale Amtsstellen mit der Genehmigung von Langsamfahrzonen: die Polizei, das Tiefbauamt und das Amt für Raumplanung

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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