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TEC21 2009|35
Grossstadt Winterthur
TEC21 2009|35
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Industrieareale als Wohnlabor

Bei der Revitalisierung von Industriebrachen spielen adäquate neue Wohnformen eine zentrale Rolle. Am Beispiel der Wohnüberbauung «Lokomotive» im Sulzerareal Winterthur Stadt und dem stark auf Wohnen ausgerichteten Konzept «Hybrid Cluster» in Neuhegi (früher Sulzerpark Oberwinterthur) lassen sich grundsätzliche Gedanken zum Spannungsfeld zwischen tradierter Industrielandschaft und zeitgemässem Wohnen formulieren. Das Weiterbauen im Bestand in der Stadtmitte funktioniert gut, dagegen ist die Entwicklung auf der Tabula rasa in Neuhegi schwieriger und das Resultat noch ungewiss.

28. August 2009 - Beat Aeberhard
In Winterthur wohnt man anders: Mit Winterthurs Aufstieg zu einem Industriezentrum mit Weltgeltung ging der Bau von niedrigen Reiheneinfamilienhäusern und kleinen Mehrfamilienhäusern einher. Die Blockrandstadt, wie sie in anderen Industriestädten entstand, stiess in Winterthur auf Ablehnung. Dagegen vertraute man auf das Ideal der Gartenstadt. Durchgrünte, offene Wohnquartiere mit geringer Dichte kennzeichnen das erfolgreich umgesetzte Wohnbaumodell, das Winterthurs Charakter prägt. Bis heute beobachten lässt sich in der schnell wachsenden Stadt die intensive Auseinandersetzung mit anderen, neuen Wohnformen, besonders in den grossen Entwicklungsgebieten Sulzerareal Winterthur Stadt und Neuhegi.

Erfolg der kleinen Schritte

Die hochtrabende Vision der Dienstleistungsstadt aus einem Guss für das 22 ha grosse Stammareal der Sulzer scheiterte im schwächelnden Wirtschaftsumfeld der 1990er-Jahre. Das veranlasste die Grundeigentümer, zusammen mit der Stadt neue Wege zu beschreiten. In einer klugen Mischung aus unspektakulären Um- und Anbauten, vernünftigen Zwischen- und Umnutzungen, unterschiedlichen Neubauten und sorgfältigen Sanierungen wurde das südwestlich des Stadtzentrums liegende Areal sukzessive umgestaltet. Der postindustrielle Umbau hat sich mittlerweile als Erfolgsgeschichte entpuppt und besitzt Modellcharakter für den nachhaltigen Wandel in kleinen Schritten. Die Wohnungen, Freizeit- und Kultureinrichtungen, Läden, Schulen und Geschäftsräume machen die ehemals «verbotene Stadt» zu einem lebendigen, urbanen Stadtquartier.

An dessen südwestlicher Ecke haben Knapkiewicz & Fickert Architekten aus Zürich die abwechslungsreiche Überbauung «Lokomotive» mit 120 Wohnungen entworfen. Auffallend ist zunächst das städtebauliche Muster. Es lehnt sich an den über die Jahre gewachsenen industriellen Bestand auf dem Areal an. Vier rund 80 m lange Zeilen übernehmen in Lage und Kubatur die Baustruktur der ehemaligen Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik. Herz der Anlage ist die alte Eisengusshalle 1050, die strukturell erhalten werden konnte und nun als gedeckter Erschliessungs- und Spielhof zwischen den beiden ersten Zeilen dient. Bei der restlichen Bausubstanz handelt es sich um Neubauten. Verblüffend ist, dass sich das Zeitgenössische nicht vordergründig manifestiert. Im Gegenteil, die Siedlung suggeriert ein gewachsenes Stück Stadt, was bei dessen Grösse und hohen Dichte gerade im Übergang zum sich anschliessenden kleinmassstäblichen Quartier zum Tragen kommt.

Insofern erfahren die charakteristischen, zuweilen schroffen Ränder des Industrieareals eine Neuinterpretation. Unterstrichen wird die collagenartige Wirkung der Architektur durch die Materialisierung. Die teils verputzten, teils mit Sichtbackstein verkleideten Fassaden erinnern je nach Gebäudeabschnitt an heitere Bauten aus den 1950er-Jahren oder an anonyme Industriebauten. Mit ihrer beinahe klassischen Gliederung – helle Feinputzbänder rahmen grossflächige Felder aus erdfarbenem Kellenwurf und akkurat gegliederte Fensteröffnungen ein – wecken die Fassaden ferner Assoziationen an Mailänder Wohnhäuser des Novecento. Die Kraft der insgesamt starken Bildwirkung beruht auf einer Strategie des kollektiven Gedächtnisses: Alles erscheint, als stünde es seit Jahren hier. Ein stimmigeres Weiterstricken am Genius Loci ist kaum vorstellbar.

Kraft aus der Industrie

Die Grundrisse richten Kaschka Knapkiewicz und Axel Fickert auf heutige Bedürfnisse aus. Die Architekten haben eine Bandbreite an Wohnungstypen und -grössen entwickelt, die fast allen Lebenslagen und -formen gerecht wird. Gemeinsam ist allen ein eigener Aussenraum: Vorgarten, Loggia, Balkon oder Terrasse. Dessen Gestaltung ist Teil einer Hierarchisierung des Raums: Tiefe Loggien, grün gestrichene «Eingangsschränke» und gestreifte Geräteschuppen artikulieren auf innovative Weise die Übergänge von privaten zu halböffentlichen und öffentlichen Bereichen. Insbesondere in den Wohnungen mit privatem Vorgarten auf der einen und halböffentlicher Fabrikhalle auf der andern Seite wird der Kontrast zwischen Industrieästhetik und zeitgenössischem Wohnen als reizvolle Spannung erlebbar. Auch im Innern haben die Architekten aus der sorgfältigen Analyse des Ortes Elemente abgeleitet, etwa die überhohen Räume oder die mit dunkel kontrastierenden Streifen angereicherten Industrieparkette. Diese räumlichen und handwerklichen Qualitäten schaffen eine starke Atmosphäre mit einer emotionalen Komponente, die in Neubauten oft fehlt.

Leeres Feld in Neuhegi

Während die Umnutzung des Sulzerareals Winterthur Stadt konkrete Ergebnisse zeigt, ist die künftige Entwicklung am zweiten Standort des ehemaligen Industriekonzerns erst zu ahnen. In Neuhegi lässt sich nicht auf einem bedeutenden Bestand an atmosphärisch verwertbaren Industriebauten aufbauen. Die grossen Hallen, die das Gebiet einst prägten, sind abgebrannt oder abgebrochen worden. Auf der 60 ha grossen Brache am östlichen Stadtrand ist einzig ein weitmaschiges Strassennetz geblieben. Am Anfang der Entwicklung stand die Umzonung in ein Zentrumsgebiet. Damit gehört Neuhegi zu den elf Gebieten des Kantons, denen die (potenzielle) Funktion als kulturelle und wirtschaftliche Schwerpunkte von kantonaler Bedeutung zukommt. Das verdankt das Areal in erster Linie seiner guten Erschliessung. 2001 verabschiedeten die Grundeigentümerin Sulzer und die Behörden den Rahmenplan Oberwinterthur, der bebaubare Flächen und Freiräume defi niert und festlegt, wo welche Nutzungen in welcher Dichte vorzusehen sind.

Wie viele Regeln braucht es?

Gleichzeitig beauftragte Sulzer Immobilien den Zürcher Architekten Jean-Pierre Dürig und die Berliner Landschaftsarchitekten Topotek1 mit der Arbeit an einem Regelwerk, um die nachhaltige und identitätsstiftende Entwicklung sicherzustellen. Dürigs Bebauungsmuster trägt den Namen «Hybrid Cluster»; sein Ziel ist, durch geschickte Konzentration an wenigen Orten das nötige Mass an Urbanität zu generieren. Als Rückgrat fungiert die 30 m breite Sulzer-Allee mit klar defi nierten Baulinien. Das Regelwerk besteht im Wesentlichen aus zwei Klauseln: Die strassenbegleitenden Gebäude müssen zusammengebaut werden («Cluster»), hingegen werden Typologie und Materialisierung der Bauten so wenig wie möglich reguliert («Hybrid»). Bezüglich der Gestaltung ist erwünscht, dass unterschiedliche Architekturen ineinander verwoben werden. Schwergewichtig ist in den Clustern der Bau von vielfältigen Wohnungen beabsichtigt, doch dank flexibler Infrastruktur sollen die angebotenen Flächen auch für Büro und Gewerbe nutzbar sein. Den Part des Katalysators übernimmt der neue Eulachpark. Der vom Luzerner Stefan Koepfli konzipierte Stadtpark wird gegenwärtig auf Land von Sulzer und auf Kosten der Stadt erstellt. Er soll das Entwicklungsgebiet aufwerten und Investoren anziehen.Wie sind die ersten Ergebnisse zu werten? Den Auftakt zur baulichen Umsetzung des «Hybrid Cluster»-Modells bildet der Eulachhof, eine Wohnüberbauung, die als erste Nullenergie-Siedlung der Schweiz 2007 auf Interesse stiess (TEC21 47/2007). Sie enthält eine grosse Bandbreite unterschiedlicher Wohnungen. Stadträumlich und architektonisch vermögen die zwei an ihrer Südseite aufgeschnittenen Blockränder nicht vollends zu überzeugen. Die Bauten lassen jeglichen Verweis auf die Geschichte des Orts vermissen.

Neben der durchgehend applizierten Holzverkleidung irritiert die Behandlung der räumlichen Übergänge. Eine Differenzierung der Räume entsprechend ihrer Bedeutung und Öffentlichkeit existiert kaum oder wird im Fall der auf höherem Niveau liegenden Innenhöfe unvermittelt vollzogen. Nur schwer kann man sich ausmalen, wie die strassenseitigen Erdgeschosse je ihre gewünschte Aktivierung fi nden sollen. Die Gesamtwirkung ist dadurch etwas leblos. Dass die urbane Dichte als Voraussetzung eines attraktiven Quartierlebens noch fehlt, liegt natürlich auch am Pioniercharakter der Siedlung.

Zurzeit laufen die Bauvorbereitungen für zwei weitere Cluster: Dahinden und Heim realisieren an der Else-Züblin-Strasse einen weitläufi gen Wohnhof, und der ebenfalls aus Winterthur stammende Ruedi Lattmann baut unmittelbar nördlich davon eine mäandrierende Grossform mit 131 Wohnungen und Gewerbeflächen. Die Stiftung Mehrgenerationenhaus hat Anfang Juli einen Wettbewerb für einen weiteren, ambitionierten und zukunftsweisenden Wohncluster ausgelobt, den Galli & Rudolf Architekten aus Zürich für sich entscheiden konnten. Deren Siedlung für alle Lebensphasen setzt der Tendenz der gesellschaftlichen Vereinzelung einen andern Gesellschaftsentwurf entgegen. Mittels Selbstverwaltung soll eine hohe Identifi kation der Bewohner mit der Überbauung erreicht werden, was sich positiv auf das ganze Quartier auswirken dürfte. Das verheissungsvolle Konzept hat das Potenzial, im Zusammenspiel mit den übrigen Wohnhöfen das unüblich grosse Strassennetz wie beabsichtigt mit publikumsorientierten Erdgeschossen und einer intensiven Nutzung des Strassenraums zu beleben.

Sichergestellt ist die durchgehende Gestaltung aller zusammenhängenden Aussenräume innerhalb der Cluster und die einheitliche Ausformung des Mobiliars. Das Modell «Hybrid Cluster» wurde nämlich 2008 mit dem «Regelwerk Innenraum Hybrid Cluster» ergänzt. Die von Schweingruber Zulauf Landschaftsarchitekten erstellten gestalterischen Grundsätze sind von den beteiligten Planern zwingend einzuhalten. Sie garantieren die nötige zusammenfassende Grundmelodie der Cluster. Um einer sich abzeichnenden Einseitigkeit von Wohnnutzungen entgegenzutreten, hat Sulzer Immobilien schliesslich die privatrechtliche Verpflichtung zur Bereitstellung von kommerziellen Flächen eingeführt. Wie im Stadtzentrum soll nämlich auch in Neuhegi ein durchmischtes Stadtquartier entstehen.

Die Rolle des Genius Loci

Aus der Reibung am Bestand lässt sich architektonische Komplexität gewinnen, die auf der grünen Wiese schwer zu erzielen ist. Auf dem Sulzerareal Stadt Winterthur und in Neuhegi sind in unterschiedlicher Ausprägung Reminiszenzen vorhanden. Im ersteren Fall ist nach harzigem Start im Zeitraum von über zehn Jahren ein Vorzeigeprojekt der Kooperation zwischen Stadt und Sulzer entstanden. Dieser Erfolg gründet im Wesentlichen auf drei die traditionelle Urbanität generierenden Prämissen: angemessene Dichte, Nutzungsdurchmischung und Weiterbauen am Bestand. Die Entwicklung in Neuhegi ist wegen der weitgehend fehlenden Altbausubstanz und den grossen Strassenblöcken anspruchsvoll; das Ergebnis ist ungleich offener. Deshalb überprüfen und verfeinern die Verantwortlichen kontinuierlich die Vorgaben. Das rege Interesse an den Parzellen bestätigt aber, dass das gewählte Regelwerk des «Hybrid Cluster» in seiner Flexibilität verschiedenartige Vorstellungen zu wecken vermag. Die Gelegenheit, Winterthurs Wohnbautradition gestalterisch, funktional und programmatisch weiterzuspinnen, wird rege benutzt. Man darf auf weitere Beiträge gespannt sein.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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