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TEC21 2009|48
Notation
TEC21 2009|48
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Raum, filmisch notiert

Zur Darstellung von Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme: Zeichnungen, Fotografien oder Modelle. Wie das Medium des Films in den Raum eingreift, wird im Folgenden anhand dreier Beispiele gezeigt. Sie illustrieren die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum sowie die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation.

27. November 2009 - Doris Agotai
Etienne-Jules Marey erstellte um 1900 mit seinen berühmten und wegweisenden Chronofotografien Bewegungsstudien von Pferden. Diese Chronofotografien gelten zugleich als Wegbereiter des bewegten Bildes, des frühen Films. Auch in der Diskussion über Architektur verwenden wir unterschiedliche Notationssysteme – heute neben Zeichnungen, Fotografien oder Modellen vermehrt auch zeitbasierte Medien, also Ausdrucksformen, die neben dem Raum auch die Bewegung und die Dimension der Zeit erfassen. Der folgende Beitrag zeigt, ausgehend von einer Architekturikone der letzten Jahre, welche unterschiedlichen Formen räumlicher Notation das Medium Film hervorbringt und welche Bedeutungsebenen sich daraus erschliessen.

Schon zu Beginn der 1930er-Jahre nutzte Le Corbusier den Film als propagandistisches Medium, um seinen Ideen Ausdruck zu verleihen und um seine Visionen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Gemeinsam mit Pierre Chenal verfilmte er in der soeben fertiggestellten Villa Savoye sein Manifest zu den fünf Punkten einer Neuen Architektur. Der Film vermittelt neben Le Corbusiers Faszination für neue Mobilitätsformen und die daraus resultierenden Seherfahrungen eine Bewegungschoreografie entlang der «promenade architecturale», die über Rampen und Treppen von der Zufahrt über das ausladende und lichtdurchflutete Hauptgeschoss bis hin zum «Solarium» auf der Dachterrasse führt. Das Medium Film ermöglichte es so, die Bewegungserfahrungen und damit einen zentralen Bestandteil des architektonischen Konzepts mit einzubinden.

Im Vordergrund standen also nicht nur Fragen der Darstellung, sondern auch neue ästhetische Positionen des architektonischen Entwurfs, die aus dem Austausch dieser beiden Medien hervorgingen – Entwurfsansätze, die sich mit Fragen der bewegten Wahrnehmung, der Konstruktion innerer Raumvorstellungen und den daraus resultierenden choreografischen Elementen wie beispielsweise der Montage befassten.

So umfasst der Film als Medium immer auch eine Notation von Raum: Er übersetzt architektonische Gestaltungsmomente in neue Ausdrucksformen, die er rhythmisch ordnet und zeitlich festigt. Ob Ruttmann in «Berlin, Sinfonie einer Grossstadt» (1972) der Stadt den Puls fühlt, ob wir in Hitchcocks Treppenfluchten vor Schreck erstarren, ob Musikclips uns in experimentellem Duktus durch düstere Hinterhöfe führen oder ob eine Computeranimation ein neues Bauprojekt im Flug erschliesst – das Medium Film leitet an, wie der Raum geordnet wird, wie Farb-, Bewegungs- und Tiefenwirkungen interpretiert und einer neuen Form zugeführt werden. Die raumzeitliche Partitur bringt eine neue Wirklichkeit hervor, die zwischen Konzept und Werkinhalt vermittelt und sich auf unterschiedliche Bedeutungsebenen bezieht.

Villa in Floriac bei Bordeaux von Rem Koolhaas

Die drei folgenden filmischen Arbeiten machen deutlich, wie sich je nach Form der verwendeten Notation ein weites Spektrum von Bedeutungs- und Ausdrucksebenen eröffnet. Die Beispiele könnten dabei unterschiedlicher nicht sein – allein schon die Tatsache, dass sie alle in den letzten Jahren entstanden sind und sich auf denselben Bau beziehen, verbindet sie und macht sie für diesen Vergleich interessant: Es sind filmische Interpretationen der Villa in Floriac bei Bordeaux von Rem Koolhaas. Bemerkenswert ist, dass der Architekt dieses Gebäudes über Erfahrungen als Drehbuchautor und Regisseur verfügte, bevor er sich der Architektur zuwandte – ist es also ein Zufall, dass genau dieser Bau Ausgangspunkt filmischer Interpretationen wurde, oder spiegelt sich bereits in der Anlage des architektonischen Konzepts die Faszination für szenische Sequenzen, Raumverkettungen und Montageformen?

Zunächst zur Vorgeschichte des Baus: Die Villa in Floriac von Rem Koolhaas wurde 1998 erbaut. Bauherr war ein Verleger aus Bordeaux, der einen schweren Autounfall erlitten hatte. Er konnte sich nach diesem Unfall nur noch im Rollstuhl fortbewegen und war gezwungen, seine Wohnsituation verändern. Er gab Koolhaas ein Haus in Auftrag mit dem Wunsch nach einem vielfältigen, abwechslungsreichen Raumangebot. So entstand ein Gebäude, das die Anlage zu unterschiedlichsten Weg- und Erschliessungssystemen enthielt, die zu immer neuen Raumerfahrungen führen sollten. Allein drei Treppensysteme durchstossen das Haus: eine lineare, pragmatische Servicetreppe, eine geheime, eng gewundene Wendeltreppe zu den Zimmern der Kinder und eine plastisch modellierte Haupttreppe, die im Erdgeschoss absetzt und etwas versetzt weitergeführt wird und damit den Weg als Montage inszeniert.

Dazu kommt die ausladende Hebebühne, die je nach Position als Arbeitsraum dient, Galerieräume im Haus öffnet und die horizontale Schichtung aus dem Gefüge hebt. Allein die Treppen zeichnen ein Psychogramm des Hauses, indem sie zwischen äusserer Funktion und inneren Ideenwelten vermitteln.

Echtzeiterlebnis: Wahrnehmung der Dimension der Zeit

Der belgische Künstler David Claerbout wählte diese Architekturikone als Schauplatz seiner kinematografischen Installation «Bordeaux Piece», die er 2004 für eine Dauer von 13 Stunden entwarf. Architekturikone deshalb, weil Claerbout für die Handlung eine Geschichte aufnahm, die ihrerseits in einem Bau spielte, die zur Ikone geworden war: Claerbout übernimmt in diesem Werk den Plot aus Jean-Luc Godards «Le mépris» (1963), der in der Villa Malaparte auf Capri aufgenommen wurde, einer Villa des Architekten Adalberto Libera aus den 1930er-Jahren, die bizarr aus den Klippen auf der Insel Capri ragt (Abb. 5 und 6).

Claerbout inszeniert dieselbe Geschichte, stark verkürzt, und wiederholt sie im Rhythmus von 10 Minuten über 70 Mal. Die einzelnen Sequenzen werden zur selben Tageszeit aufgenommen, zu der sie im Museum projiziert werden. Die Geschichte verliert mit der Wiederholung an Gehalt, wodurch die Lichtstimmungen und der Raum in den Vordergrund treten. Der Besucher taucht in ein atmosphärisches Echtzeiterlebnis der Villa ein und erfährt über das Licht die Dimension der Zeit (Abb. 4).

Im zweiten Beispiel ist die Koolhaas-Villa Protagonistin eines Architekturdokumentarfilms, der 2008 an der Architekturbiennale in Venedig uraufgeführt wurde und in Architekturkreisen grosse Beachtung fand. Der Film heisst «Koolhaas Houselife» von Ila Bêka und Louise Lemoine. Die verschiebbaren Wände, die höhenverstellbare Decke oder die automatisierten Fenster unterliegen hier dem Regime der Reinigung und werden von einer Haushälterin bisweilen lautstark kommentiert, vorab aber mit Gleichgültigkeit quittiert. Immer wieder treten Kuriositäten zutage, die Jacques Tati in «Mon Oncle» (1958) vorweggenommen hatte. Während Tati in seiner Satire über die Moderne den hochtechnisierten Haushalt der vorherrschenden Technikeuphorie karikiert und eine haustechnische Panne der nächsten folgen lässt, wird bei Bêka / Lemoine das Haus von der Wohnmaschine zum lebenden Organismus, der pointiert anthropomorphe Züge annimmt (Abb. 1 und 2).

Walk-Through wird zum Fly-Through

Das dritte und letzte Beispiel stammt aus der Küche der Architektur selbst: Eine zugegebenermassen rudimentäre Animation auf Youtube erfasst den Bau mit den computertechnologischen Mitteln der Architekturdarstellung und errechnet daraus ein Walk-Through, das sich vielmehr als Fly-Through präsentiert. Entlang eines vordefinierten Pfades durchfliegt die Kamera den Bau und simuliert eine Raumerfahrung, die weder der Logik unserer Wahrnehmung noch der Gleichzeitigkeit der von Koolhaas angelegten Bezugspunkte entspricht. Hier zeigt sich das Dilemma zwischen Technologie und Wahrnehmungsdispositionen, die auf bestehenden Konditionierungen und Immersionsstrategien einer Kulturgeschichte der Bildmedien beruht (Abb. 7).

Notationsform als Erkenntnisinstrument

Der Vergleich dieser drei Beispiele zeigt nicht nur die Verflechtung von architektonischer Dramaturgie und filmischer Interpretation, er zeigt auch die Unterschiedlichkeit in der Notation von Raum. Die Notationsform wird zum jeweiligen Erkenntnisinstrument von Raumvorstellungen und Deutungsansätzen: Wer ist der Protagonist dieser Filme – ist es das Haus selbst, das zum Erzähler wird? Ist es der Architekt, der strukturell auf ein Erlebnis hinwirkt? Ist es der Filmer, der aus auktorialer Perspektive berichtet und seine Ideenwelt auf die Haushälterin und damit indirekt auf den Zuschauer überträgt?

Bewegliche Kulissenbauten

Stellt im fiktionalen Film der Raum einen Handlungsrahmen her, der durch die filmische Syntax Befindlichkeiten und Stimmungen der Charaktere spiegelt und damit zur Projektionsfläche emotional gesteuerter Setups wird, stehen wir beim Dokumentarfilm vor dem Dilemma, dass der Protagonist, also das Bauwerk, sich schlecht zum Akteur eignet. Ein Blick auf Beispiele dieses Genres zeigt, dass unterschiedliche Strategien gewählt werden, um dieses Problem anzugehen. Sowohl bei Bêka / Lemoine als auch in «Paris poussière» von Silke Fischer (1998) übernimmt das Reinigungspersonal den Part der Darsteller, führt durch das Gebäude und baut den Identifikationstransfer zum Zuschauer auf. Auch in «Il girasole. Una casa vicino a Verona» des Architekten Marcel Meili und des Regisseurs Christoph Schaub (1995) spricht die Erinnerung aus dem Off und führt in ruhig gleitender Betrachtung durch vergangene Zeiten. Augenfällig ist, dass in allen drei Beispielen die Bauten raumchoreografische Anlagen aufweisen, die wie ein beweglicher Kulissenbau anmuten. Versetzt Koolhaas mit der Hebebühne das Haus in Bewegung, kommen in «Paris poussière» Jean Nouvels Fassadenspiele zum Einsatz (Abb. 3). Meili und Schaub stellen ein Haus aus den 1930er- Jahren vor, das ein ingenieurtechnisches Kuriosum darstellt, als Wohnturm auf einem drehbaren Sockel erbaut wurde und sich wie eine Sonnenblume nach dem Licht ausrichtet.

Dankbar werden diese mobilen Elemente aufgenommen und in bewegte Raumbilder übersetzt. Genau dieses Genre gibt aber auch Auskunft darüber, ob in einem Gebäude Strukturen angelegt sind, die ihre Wirkung erst in der Bewegung entfalten, die zeitgleich unterschiedliche Eindrücke entfalten. Wie John Cage seine Klanglandschaften «als offenes, ungerichtetes, vielfach geschichtetes, aber nicht geordnetes Feld von Wahrnehmungen» propagiert, verweisen experimentelle Ansätze der filmischen Architekturgeschichtsschreibung auf eine Mulitperspektivität, die die Möglichkeiten der Strukturen von Raum und Bewegung andeuten und zum Behälter unserer Erinnerungen, Emotionen und Geschichten werden.


Anmerkung:
[01] Vgl. Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin 2008 (siehe S. 13)

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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