Zeitschrift

zuschnitt 35
Innenfutter
zuschnitt 35
zur Zeitschrift: zuschnitt

Vertraute Verfremdung

Ferienwohnung im Oberengadin

15. September 2009 - Alberto Alessi
»Einen Ort der Identifikation und der Gegenwart« wollte die italienische Architektin Elisabetta Terragni in dieser Ferienwohnung schaffen. Aber was bedeutet es, sich mit einer Ferienwohnung zu identifizieren? Wie kann man eine solche Zugehörigkeit schaffen? Elisabetta Terragni erreicht dies durch den spielerischen Umgang mit einer Architektur, die wie ein Gewand bekleidet und verkleidet, versteckt und verschönt, überrascht und befriedigt zugleich.

Das Appartement liegt im Zentrum von Samedan im Oberengadin und belegt die Hälfte eines Attikageschosses, das schon vor längerer Zeit von anderen Architekten auf ein historisches Bauernhaus aufgestockt worden war. Charakteristisch für das Engadin sind Steinhäuser mit asymmetrisch angeordneten Trichterfenstern und so genannten Sgraffiti, Wandmalereien, die in den Putz hineingearbeitet sind und in denen die Engadiner ihre Geschichten und Erinnerungen erzählen. Die Gestaltung der Ferienwohnung entstand aus einer sorgfältigen Reflexion des Kontexts. Elisabetta Terragni realisierte hier ihre persönliche Interpretation dieser traditionellen Wohnform. Es ist wie ein Déjà vu: Alles erinnert an schon Bekanntes und ist doch individuell und neu. Sie kehrt die Dinge um, platziert die trichterförmigen Fenster nach innen, behandelt die Innenwände, als wären sie Fassaden. Sie interpretiert das räumliche Konzept der Engadiner Häuser: Der »Suler«, die typische Eingangshalle, ist offen für alle Arten von Treffen, die weiteren Räume hingegen sind introvertiert und privat. Wie in der traditionellen »Stube« ist auch hier die Holzvertäfelung überall vorhanden, aber ohne in Klischees zu kippen. Die Fensterrahmen sind normal, wirken aber durch die Dekontextualisierung, durch ihre umgekehrte Position anders. Alles ist auf das Notwendigste reduziert: Wände, Decken und Böden sind aus Lärche. Wo es möglich war, hat die Architektin die alten Fußbodenbohlen erhalten, den Niveauunterschied zum neuen Lärchenboden aber zugelassen, damit der Unterschied von Alt und Neu im täglichen Gebrauch nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar bleibt. Besonders und wunderbar ist die handwerkliche Qualität. Sie ist der engen Zusammenarbeit zwischen der Architektin und der lokalen Holzwerkstatt zu verdanken.
Die Theatralik des Raumes

Die Umkehrung zwischen innen und außen schafft eine spezielle Raumqualität. Die Innenfassaden sind wie Kulissen konzipiert und rund um den Spielraum, hier das Wohnzimmer, platziert. Alle Elemente sind gedreht, geschnitten und zusammengesetzt wie in einem Film. Der Raum, der daraus resultiert, ist durchgängig und zugleich unterteilt. Auf nur 90 m² wechseln die Perspektiven ständig, um jede Ecke und unerwartet. Es ist nicht sofort erkennbar, was trägt und was getragen wird – man nimmt das Ganze sehr emotional war. Die Überraschung wird noch größer, wenn man feststellt, dass die Holzmaserung sich durchzieht, über Wände, Türen und Schubladen. Der Raum verzaubert wie ein Theater.

Während die Innenräume und Aussichten dieser Ferienwohnung einmalig und nicht reproduzierbar scheinen, verhält es sich mit dem Material anders: Man ist sicher, es zu kennen. Was man berühren kann, ermöglicht eine physische und direkte Identifikation. Allerdings verändert sich auch das Material, das Lärchenholz in seiner Modalität. Die ungebrochene Maserung schafft einen Raum, der eingemeißelt, ausgegraben, sedimentiert und durchgängig scheint. Nur die farbigen, dekorativen Öffnungstrichter der Fenster differenzieren sich von dieser Mono-Materialität, sie knüpfen an den Ursprung der Sgraffiti an.

Die Verzerrung der Volumen schafft Räume für Schränke und Regale. Die Farben der Fensterlaibungen sind von den Bewohnern gewählt und spiegeln wie die Sgraffiti ihren Geschmack und ihre Haltung wider. Insgesamt präsentiert sich eine funktionale und pragmatische Lösung, die auf unerwartete Weise ihr Ziel erreicht: »einen Ort der Identifikation und der Gegenwart« zu schaffen.

[ Alberto Alessi, geboren 1964 in Caravaggio. Architekturstudium in Mailand, Zürich und Paris seit 1995 eigenes Architekturatelier in Rom und Zürich, seit 2006 Dozent für Architekturtheorie an der Hochschule Luzern und Professor für Architektur an der Facoltà di Architettura in Ferrara. Freier Kurator und Kritiker, Chefredakteur der Architekturzeitschrift materialegno und der Internetplattform www.italian-architects.com. Lebt in Zürich. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: zuschnitt

Ansprechpartner:in für diese Seite: Kurt Zweifelzweifel[at]proholz.at

Tools: