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TEC21 2010|35
Transformation
TEC21 2010|35
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Strip und Netzwerk

Das Wipkinger Viadukt ist ein höchst hybrides Bauwerk, nachdem EM2N zusammen mit WGG Schnetzer Puskas Ingenieure AG die 52 Bogen zu einer 590 Meter langen Marktgasse transformiert haben. Zwischen Heinrich- und Geroldstrasse entstanden für 32 Millionen Franken in 38 Bogen Laden, Atelier- und Gewerberäume sowie im Spickel der beiden Viadukte an der Limmatstrasse Zürichs erste Markthalle, die sich über 14 Bogen erstreckt. Ihre Eröffnung ist auf Anfang September terminiert. Aus einer städtebaulichen Barriere haben die Architekten eine vernetzende Struktur geschaffen, die dereinst sogar den Strom des Gleisfelds überbrücken könnte. Es ist ein typisches «sowohl als auch»[1]-Projekt von Em2n.

27. August 2010 - Rahel Hartmann Schweizer
Die 1889–1898 errichteten Aussersihler Bahnviadukte sind Denkmäler der Technikgeschichte und herausragende Zeugen von Zürichs Stadtentwicklung. Im Laufe ihrer 100-jährigen Geschichte bildeten sie sich aber gewissermassen als natürliche Grenze heraus – EM2N bezeichnen sie denn auch als ein von Menschenhand errichtetes Gebirgsmassiv – zwischen dem Industriegebiet «ausserhalb» des Schienen-S (Abb. 1) und den Wohnquartieren auf dessen Innenseite.

Im Zuge der Sanierung der Viadukte (vgl. Kasten S. 34) entschieden sich die Stadt Zürich und SBB Immobilien, eine Neunutzung der Viaduktbögen ins Visier zu nehmen, und schrieben einen Wettbewerb für die Umgestaltung aus. Zusammen mit der zusätzlich von den Auslobern verlangten landschaftlich gestalteten Fortsetzung des Fuss- und Velowegs auf dem Letten-Viadukt sollte das Projekt dem Verkehrsweg eine ganz neue Qualität eintragen: Die Durchlässigkeit sollte sich nicht mehr auf die durch die Bögen vorgezeichnete West- Ost-Richtung konzentrieren, d. h. den «alten» an den «neuen» Kreis 5 andocken, sondern auch die Nord-Süd-Richtung erschliessen und die Aussenräume an der Limmat mit jenen im Kreis 5 verbinden. Statt einer linearen Struktur sollte ein Netz resultieren. Bedingung war ausserdem, die Transformation möglichst kostengünstig ausführen zu können, damit die Stiftung zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Gewerberäumen der Stadt Zürich (PWG), welche die Einbauten in Letten- und Wipkinger Viadukt im Baurecht übernommen hat, in der Lage sein würde, die Mieten niedrig zu halten.

«Sowohl als auch»

Im Sommer 2004 überzeugten EM2N Architekten und Zulauf, Seippel, Schweingruber Landschaftsarchitekten (heute: Schweingruber Zulauf) die Jury mit der Konzeption eines «sowohl als auch». Indem die Architekten die Situation einerseits als ein künstliches Gebirgsmassiv auffassten, betonten sie den landschaftlich-topografischen Massstab und kreierten mit dem Letten viaduktweg eine Art Höhenstrasse für Fussgänger und Velofahrer. Anderseits strickten sie an der Vernetzung weiter, um das Viadukt – als Verkehrs v erbindung verstanden – gleichermassen zu einem linearen Park wie zu einer Kultur-, Arbeits- und Freizeitmeile zu transformieren – mit der Markthalle als Auftakt und den Läden, Restaurants und Kultureinrichtungen als serielle Reihung. Die Idee der Architekten war, den «Letten-Viadukt-Strip» zu verlängern, als den sie die nach Funktionen und Öffentlichkeitsstufen gegliederte Abfolge von Einrichtungen entlang der Limmat zwischen dem Hauptbahnhof und der Josefwiese auffassen. Dieser führt vom Landesmuseum über den Platzspitz, das Museum für Gestaltung, den Oberen Letten, das EWZ, den Unteren Letten, die Berufs schule, diverse Clubs und Galerien, Migrosmuseum sowie Sporteinrichtungen bis zur Kehrichtverbrennungsanlage.

Ambivalenz oder zwei Gesichter

Die Ambivalenz, die sie mittels des «sowohl als auch» lösten, orteten EM2N aber auch in der Fragestellung, «wie sich ein denkmalgeschütztes Infrastrukturelement programmieren [lässt], sodass es integraler Teil des Stadtgefüges wird», und «wie man heute in der Schweiz noch günstig bauen [kann], trotz drastisch zunehmender Regulierungsdichte und Komfortansprüchen in Bereichen wie Energie, Hygiene und Brandschutz».

EM2N erhoben das Zyklopenmauerwerk zur prägenden Landmark, rückten sie in den Vordergrund, indem sie die Einbauten zurückhaltend gestalteten. Aber sie stellten diese nicht losgelöst in die Bögen hinein, sondern verbanden sie symbiotisch mit dem Mauerwerk.

Unprätentiös sind die Bögen «zugemauert» und mit Glas (Holzmetallscheiben) ausgefacht, wobei die Bögen des niedrigeren Lettenviadukts auf der «Innenseite» zur Josefwiese hin bis zum Scheitel gefüllt sind, während jene des Wipkinger Viadukts auf der «Aussenseite» zur Hard hin nur etwa zur Hälfte geschlossen sind, sodass sich zwei Gesichter zeigen: Zur Hardbrücke hin bleibt das monumentale Antlitz des Viadukts bewahrt, zur Josefwiese entspricht der «verhüllte» Auftritt dem intimen Charakter des Quartiers, das sich um die Josefwiese drängt.

Im Innern sind Galerien eingezogen – Holzrippenböden, deren Balken roh belassen oder hell gestrichen sind, und die entweder an der stark gedämmten Holzdecke aufgehängt oder auf Stützen abgestellt sind –, erschlossen jeweils von einer Treppe aus verzinktem Stahl, mit Tageslicht versorgt durch die kreisrunden Oberlichtkuppeln (Cupolux). Zu dem Baukasten, den die Architekten für den Innenausbau zusammenstellten und aus dem sich die meisten Mieter bedienten, gehören schliesslich auch die schwarz gestrichenen Toilettenzylinder. Das Restaurant hingegen ist mit einer Flucht von Kabinen ausgestattet, die innen und aussen farblich variieren, sodass sie etwas wie einen Deckstoff und ein Innenfutter haben.

Nahtstelle, Grat, Höhenstrasse

Das Projekt ist für das Werk von EM2N schon fast «klassisch» zu nennen – nicht nur, weil es ein weiteres ist, das sich der Umnutzung von Bestehendem verschreibt, sondern weil es sich auf dem Grat zwischen Architektur und Städtebau bewegt, auf der «Nahtstelle»[2] zwischen Einzelbau und Netzwerk. Tatsächlich ist es eine Aufreihung der einzelnen Einbauten zur Perlenschnur. Doch nicht nur weist jeder Bogen eine andere Geometrie auf, auch die Schnitte und Grundrisse differieren, sodass jeder Bogen ein eigenes Projekt war – so, als hätten 40 Einfamilienhäuser geplant werden müssen. Als Netzwerk beschränkt sich die Erschliessung nicht auf die Ebene, auf die Verbindung in Nord-Süd- und West-Ost-Richtung, sondern erstreckt sich auch über die Vertikale: Einzelne «Häuser» sind als Treppen ausgebildet, um den Lettensteg zugänglich zu machen: Es sind Treppenhäuser im Wortsinn – mithin ebenfalls hybride Bauten.

Der Wechsel von Haus-Brücke-Haus-Brücke als Abfolge verstärkt noch die Assozia tion mit der Höhenstrasse an der Landi 1939, die ebenfalls eine Aneinanderreihung von Pavillons passierte. Diese Analogie wäre noch markanter gewesen, wenn nicht aus Kostengründen auf Aufgänge von den Galerien auf den Lettensteg hätte verzichtet werden müssen. Dann hätte sich ausserdem noch ein weiteres Bild eingestellt: die Referenz an die Berner Lauben und die dortigen Kellerlokale – das Hybride zwischen ober- und unterirdisch wäre demnach noch ausgeprägter zum Tragen gekommen.

Spannring und Membran

Bei aller Durchlässigkeit setzt das Viadukt einer ausufernden Entwicklung aber auch eine klare Figur als Widerstand entgegen, nicht von ungefähr haben EM2N das mittelalterliche Arles als Referenzbild gewählt, auf dem das römische Amphitheater wirkt wie ein Spannring, den die Häuser im Innern fast zu sprengen drohen.

Ähnlich brandet die Josefwiese an das Viadukt – erst recht, nachdem der Zaun und die Hecke zum Viadukt hin im Zuge der Auffrischung gewichen sind, welche die Stadt 2009 für 2.5 Millionen Franken ins Werk setzte. Obwohl die seit 1920 bestehende Josefwiese mit einer Fläche von gut 20 000 m² knapp so gross ist wie drei Fussballfelder, offenbart sie sich aus der Vogelperspektive als grüner Teppich eines Innenraums. Gewissermassen als Erweiterung des Wohnzimmers wird er von den Quartierbewohnern auch genutzt. Ausserdem profitieren sie vom Umbau des 1926 von Stadtbaumeister Hermann Herter errichteten «Kiosks Josefwiese», den Ladner Meier Architekten im selben Zeitraum realisierten.

Balg und Reissverschluß

EM2N interpretieren das Bild der Stadtmauer zeitgemäss – nicht als starre Barrikade, sondern als pulsierende Membran. Tatsächlich ist das Viadukt ein Organismus, der sich bewegt: Je nach Temperatur variieren die Dehnungsfugen (Dilatationsfugen) um bis zu 2 bis 3 cm, was sich in unterschiedlichem Schlagverhalten niederschlägt, das mittels Erschütterungsdämmung nivelliert wurde (vgl. Kasten S. 36).

Das Faltwerk der Markthalle mit der schokoladebraunen genoppten Dachhaut vergleicht Daniel Niggli mit dem Schokoladeaufstrich zwischen zwei Brotscheiben, die auseinandergezogen werden. Es erinnert aber auch an den Balg eines Akkordeons. Das Moment des Beweglichen, das der Markthalle eignet, weckt indes noch eine andere Assoziation: diejenige mit dem Schieber eines Reissverschlusses, in den die beiden sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen auseinanderdriftenden Viadukte einmünden und als dessen Zähne sich die Bogen ausnehmen.


Anmerkungen:
[01] Titel der monografischen Darstellung des Werks der Architekten: Andreas Ruby, Ilka Ruby (Hg.): EM2N: sowohl – als auch. gta Verlag, Zürich, 2009
[02] Stanislaus von Moos, «Versteckspiel am Puls der Stadt», zit. op., S. 198

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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