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TEC21 2011|16
Französisch Wohnen
TEC21 2011|16
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Diversité d’Habitation

14. April 2011 - Ruedi Weidmann
Der Wohnungsbau erlebt in Frankreich derzeit eine Blüte. Er ist zum architektonischen Experimentierfeld für den ökologischen und den sozialen Stadtumbau geworden. Eine kürzlich präsentierte und eine laufende Ausstellung in Paris geben einen Überblick über aktuelle Aufgaben und Umsetzungen.

Unter dem Titel «Habiter 10.09/09.10» zeigte das städtische Architekturforum Pavillon de l’Arsenal letztes Jahr die Resultate aus 40 Architekturwettbewerben für Wohnbauprojekte in Paris: die Modelle der 40 Sieger, dazu Pläne von 170 Eingaben. Ein Teil der Vorhaben ist über das ganze Stadtgebiet verteilt, die meisten liegen aber in Entwicklungsgebieten im Norden und Osten entlang des Boulevard périphérique. Dieser Autobahnring, der seit einem halben Jahrhundert Paris und seine Vororte trennt, wird an mehreren Stellen überdeckt, es entstehen Parks und damit neue Wohnlagen. Bisher von Verkehrsinfrastruktur dominiertes Niemandsland wird als Stadtraum gestaltet und mit einer Tram-Ringlinie erschlossen, Lagerhäuser weichen Wohnbauten. Paris mit seinen 2 Mio. Einwohnern und seine Vororte mit rund 12 Mio. sollen endlich zusammenwachsen.

Dagegen präsentiert die Ausstellung «Vers de nouveaux logements sociaux» in der Cité de l’architecture im Palais de Chaillot 16 besonders innovative Wohnbauprojekte aus ganz Frankreich in Modell, Bild und Text und dazu weitere 60 in einem Plakatpanorama.[1] Diese Ausstellung dauert noch bis zum 17. Juni 2011.

Wohnbau als ArchitekturLabor

Um die präsentierten Projekte zu beurteilen, hilft es, sich die Bedeutung des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich zu vergegenwärtigen: Mehr als 11 Mio. Menschen leben in rund 4.5 Mio. Sozialwohnungen. Die Hälfte der Bauten ist von 1963 bis 1977 entstanden. Das nationale Klimaschutzprogramm verlangt, dass bis zum Jahr 2020 800 000 Wohnungen heutigen Umweltnormen angepasst werden. Ein im Jahr 2000 erlassenes Gesetz legt den Anteil der Sozialwohnungen in allen Gemeinden auf mindestens 20 % fest.[2] Weil diese Quote längst nicht überall erreicht wird, finanzierte der Staat von 2006 bis 2009 den Bau von 360 000 zusätzlichen Wohnungen. Schon damals standen über eine Million Menschen auf Wartelisten für eine Sozialwohnung; als Folge der Wirtschaftskrise ist die Nachfrage seither noch gestiegen. In grösseren Städten sind Normalverdiener mit Kindern darauf angewiesen. Private Bauinvestitionen gingen zurück, dafür investieren Staat und Gemeinden zur Stützung der Bauwirtschaft verstärkt in den Wohnungsbau.

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Das bedeutet, dass heute in Frankreich laufend tausende von Wohnbauprojekten geplant und gebaut werden. Für die Architekturschaffenden gilt es, Umweltfreundlichkeit, nachhaltige Stadtentwicklung und gesellschaftlichen Wandel in Architektur zu übersetzen. Aus all diesen Gründen erlebt der Sozialwohnungsbau eine Blüte und dient, wie Cité-Präsident François de Mazières im Vorwort des Ausstellungskatalogs schreibt, einmal mehr als Labor der Architekturentwicklung.[3] Vor diesem Hintergrund kommt der Prämierung guter Projekte und der öffentlichen Diskussion ihrer Stärken und Schwächen enorme Bedeutung zu. Lässt sich dabei auch aus Schweizer Sicht etwas lernen?

Grundrisse und Städtebau

Alle gezeigten Projekte zeugen vom Bestreben, den sozialen Anspruch mit architektonischer Qualität zu verbinden, umweltbewusst zu bauen und veränderten Familienformen und Lebensstilen Rechnung zu tragen. Die Themen und Entwicklungsschritte der letzten Jahre sind die gleichen wie hierzulande, nur teilweise anders gewichtet und zeitlich etwas verschoben. Sehr verschieden sind aber die Rahmenbedingungen durch Gesetze und Baunormen. Überregulierung schränkt die Spielräume stark ein, vor allem bei den Wohnflächen (vgl. Kasten S. 22). Im Vergleich mit Schweizer Wohnungen wirken deshalb fast alle Grundrisse unpraktisch und beengend. Umso mehr Gewicht wird auf die äussere Form und einen spektakulären städtbaulichen Auftritt gelegt. Hier ist die formale Vielfalt und Lebendigkeit beeindruckend. Etliche Projekte wirken zwar effekthascherisch, aber es gibt auch Gegenbeispiele wie die Überbauung Quatuor an der Porte d’Auteuil. Anne Démians, Rudy Ricciotti, Francis Soler und LIN bauen hier je ein Mehrfamilienhaus. Weil alle vom gleichen Betonskelett ausgehen, entsteht ein wohltuend ruhiger Gesamteindruck (Abb. 1).

Ökologisch = grün = Bäume

Im Bereich des umweltfreundlichen Bauens, wo sich in Frankreich lange nichts bewegt hat, ist gegenüber der Schweiz ein Rückstand von zwei, drei Jahrzehnten aufzuholen. Wie in der Schweiz bis noch vor wenigen Jahren wird «umweltfreundlich» mit «grün» assoziiert und oft wörtlich umgesetzt. So sind viele Bäume und Büsche auf Dächern und Terrassen zu sehen und ostentative Holzelemente an Fassaden (Abb. 2– 6). Solche Gestaltung zeugt von einer intensiven Suche nach architektonischer Umsetzung des Nachhaltigkeitsgebots und reagiert wohl auch auf entsprechende Wünsche von Politik, Wohnbaugesellschaften und Publikum.

Mixité und Renaissance des Balkons

Das grosse städtbauliche Thema der 1990er-Jahre in Paris, die Stadtreparatur, ist weiterhin aktuell. Für das Bauen auf komplexen Parzellen im historischen Kontext gibt es einige schöne Beispiele. Neu daran ist die funktionale Mischung (Mixité): Eine öffentliche Erdgeschossnutzung hat sich durchgesetzt und bereits fest etabliert – aus ökologischen Überlegungen (Mischung von Wohnen und Arbeiten, um Pendlerverkehr zu vermeiden) wie auch aus gesellschaftlichen (lebendige und sozial durchmischte Quartiere) (Abb. 7– 8). Auch bei der Gestaltung der Fassaden in den Obergeschossen wird der Bezug vom Haus zur städtischen Umgebung thematisiert, in einigen Projekten auch durch eine komplex aufgebrochene Kubatur (Abb. 9). Der Balkon erfährt eine Renaissance: Fast bei allen Projekten sind die Fassaden raumhaltig geworden und öffnen sich auf vielfältige Arten gegen Stadt und Strasse. Grosse Terrassen und Wintergärten sollen im Zeichen verdichteten Bauens Einfamilienhaus-Qualitäten ins Mehrfamilienhaus bringen. Dieser Gedanke findet manchmal einen übertriebenen formalen Ausdruck (Abb. 10, 12). Doch zeigen solche Beiträge, dass sich ihre Verfasser nicht nur mit der Frage nach der zeitgemässen Sozialwohnung beschäftigen, sondern den Wohnungsbau als vielschichtigen Beitrag zu einer wieder ganzheitlicheren Stadtentwicklung begreifen.

Einige Projekte kommen gewissermassen von der anderen Seite: Sie fassen Einfamilienhäuser zu Anlagen zusammen, die mehr Qualitäten bieten als das übliche banale Nebeneinander. Freilich kann auch diese Idee allzu wörtlich umgesetzt werden (Abb. 13). Bei Projekten ohne Läden oder Café bleibt der Bezug Erdgeschoss / Strasse allerdings ungelöst. Auf das Pro- blem der Erdgeschosswohnung hat man oft keine bessere Antwort als das bekannte Gitter zwischen Trottoir und Haustür, das die formal-symbolische Öffnung der Fassade darüber ebenso konterkariert wie den plakativ kommunikativen Projektnamen (Abb. 6, 9, 11, 14). Alles in allem ist ein emsiges Suchen nach architektonischen Antworten auf heutige Bedürfnisse und Herausforderungen festzustellen und eine erfreuliche Vielfalt an ausprobierten Richtungen. Es ist zu hoffen, dass möglichst viel davon in die Massenproduktion einfliessen kann. Dazu aber müssen dringend die Baugesetze, Normen und Subventionsregeln vereinfacht werden.

Und umbauen?

Angesichts des enormen Sanierungsbedarfs beim Bestand erstaunt, dass in den beiden Ausstellungen nur ein einziges Projekt vorgestellt wird, das sich dem Umbau moderner Wohnbauten widmet. Dieses hat es allerdings in sich: Lacaton & Vassal haben zusammen mit Frédéric Druot einen Weg gefunden, wie bei Sanierungen die restriktiven Flächennormen umgangen und bestehende Wohnungen mit relativ wenig Geld massiv vergrössert, energetisch saniert und in der Wohnqualität aufgewertet werden können. Ihr Ansatz könnte dem Umgang mit dem umfangreichen und problembeladenen Erbe der Moderne auch über Frankreich hinaus einen Impuls geben. Bei der Renovation der Tour Bois le Prêtre in Paris wird das Prinzip zum ersten Mal in die Tat umgesetzt (vgl. «Umbauen statt Sprengen», S. 26).
Anmerkungen:
[1] Kuration: Jean-François Pousse, Architekturkritiker, und Francis Rambert, Direktor der Cité
[2] In der Schweiz gibt es keine entsprechende Vorschrift; der Anteil des gemeinnützigen Wohnungsbaus liegt unter 9 %, in Zürich ist er mit 25 % am höchsten
[3] Vers de nouveaux logements sociaux. Silvana Editoriale 2009

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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