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TEC21 2011|31-32
Umgenutzt
TEC21 2011|31-32
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Durchgespielte Ambivalenz

Einen Steinwurf vom Novartis-Campus in Basel entfernt, im Schatten der Planungen rund um den Lothringerplatz, hält eine Häuserzeile dem Immobiliendruck stand. Die Stiftung Habitat hat sie gekauft, um Musikerinnen und Musikern zahlbaren Wohnraum zu erhalten. Behausung und Arbeitsstätte miteinander zu verbinden, war die Idee beim Umbau der einstigen Fabrik Levy Fils AG, den die Stiftung den Basler Buol & Z ünd Architekten anvertraute. Die Architekten haben den Charakter des Konglomerats bewahrt und dessen Widersprüchlichkeiten gleichermassen funktional unmittelbar nutzbar gemacht wie architektonisch mittelbar adaptiert.

29. Juli 2011 - Rahel Hartmann Schweizer
Die Lothringerstrasse kommt vom Sankt-Johanns-Ring, mündet auf den Lothringerplatz und führt danach nur noch als Wurmfortsatz rund 200 Meter weiter. Dieses «dead-end» liegt in unmittelbarer Nähe und doch abseits der Neubauten, die das Gesicht der Gegend in den vergangenen Jahren gestrafft haben: die Wohn- und Geschäftsüberbauungen Volta Mitte, erstellt nach einem Projekt von Christ & Gantenbein, Volta Zentrum von Buchner Bründler Architekten und Volta West, nach den Plänen von Degelo Architekten erbaut.

Der Bau Volta West, der entlang von Volta- und Saint-Louis-Strasse wie eine Agraffe einen neuen Park fasst, stösst auch in diesen Wurmfortsatz vor. Und hier weckt er eher die Assoziation mit einem sich um die Ecke schlängelnden Tier, das sich anschickt, sich auch noch den Rest der Häuserzeile einzuverleiben, was der Strasse eine Dramatik verleiht, die mit der Verträumtheit der Wohnbauten aus den 1920er-Jahren kontrastiert. Das wird dem Ort durchaus gerecht. Denn bis 2004 herrschte hier Betriebsamkeit, als die ABB das Domizil der Levy Fils AG, die Nummer 2 im Schweizer Markt für Schalter und Steckdosen, übernahm und das Familienunternehmen in den Konzern integrierte. Nach dem Auszug der Fabrikation übernahm die Stiftung Habitat das Areal. Es umfasste den eigentlichen Betrieb an der Lothringerstrasse 165 und ein angrenzendes Wohnhaus mit der Nummer 147. Dieses haben Buol & Zünd Architekten bereits 2006 renoviert.

Konglomerat

Die ehemalige Fabrik, erstellt 1885, wies eine heterogene Bebauung auf. Während sich der Baukörper entlang der Lothringerstrasse in die Zeile einfügte, war der Hof nahezu flächendeckend überbaut – mit Gebäuden von industriellem Ausdruck. Ebenso heterogen und nicht eben überragend war die architektonische Qualität. Buol & Zünd konzentrierten sich daher auf diejenigen Bauten, deren Bausubstanz ausreichend war und/oder die formal einen gewissen Anspruch hatten. Ersteres galt für das Werkstattgebäude im Hinterhof, einen Backsteinbau, sowie für das Lager, Letzteres für den Baukörper an der Lothringerstrasse, der Verwaltung und Fabrikationsräume beherbergt hatte und sich auf zurückhaltende Weise repräsentativ zeigte. Mindere Bauten, sowohl von ihrer architektonischen Ausdruckskraft her als auch ihres baulichen Zustands wegen, wurden entfernt.

Die Anlage bot zwei Voraussetzungen, die der geplanten Umnutzung zu einem Haus zuträglich waren, das akustischer Eingriffe bedurfte. Bautechnisch war es die durch die einstige Fabriknutzung stark ausgelegte Struktur, die schallisolierende Einbauten verkraftete. Funktional waren es die mit vier Metern überproportional hohen Räume, die den durch die Akustikmassnahmen bedingten Raumverlust ertrugen. Obwohl oder gerade weil die Bauten nicht eigentlich schützenswert waren, brauchte es eine ausgeklügelte, differenzierte Herangehensweise. Weil die Bebauung eher als Konglomerat denn als Ensemble zu bezeichnen war, liess sich dem Gebäudepark keine Strategie überstülpen, sondern es musste für jeden Bau eine je eigene Eingriffskonzeption ersonnen werden. Dennoch eignet den Bauten nun eine stringente Komposition: eine Klaviatur von Disproportionalität, Zwiespältigkeit und «Aus-den-Fugen-Geratenem».

Lagerhalle: Das Innere nach Aussen gewendet

Der eigentümlichste Bau auf dem Gelände war die Lagerhalle. Obwohl die Entstehung in eine Zeit fiel, da sich Stahlkonstruktionen im Industriebau durchsetzten, handelt es sich um einen Mischbau: eine Holzkonstruktion mit einer massiven Aussenmauer. Ausserdem besass der Bau keine eigentliche Fassade. Bis auf die Tore zur Verladerampe hin gab es keine Öffnungen. Die Halle war ganz auf das Innenleben konzentriert und daraus erklärt sich auch der Holzbau: Gelagert wurden Lampen, Schalter etc. auf Holzgerüsten, die – ihres Inhalts entleert – wie minimalistische, serielle Kunstwerke anmuten (Abb.12). Diese Qualität der Halle haben auch die Architekten entdeckt, als sie den Haufen morschen Holzes aufschichteten und in den Fokus nahmen (Abb.15).

Die Ambivalenz rührte aber auch daher, dass die Holzgerüste, die an die Eingeweide alter Speicher erinnerten, einen heimeligen Eindruck machten, ihrer industriell bedingten grosszügigen Ausmasse wegen aber überdimensioniert wirkten. Konsequenterweise «unentschieden » gebärdete sich auch die Struktur, bestehend aus einem ungerichteten System – einem Stützenraster, der Würfel von 4 × 4 × 4 m beschrieb – und einem gerichteten aus Unterzügen, die ihrerseits wiederum einen Bruch in der Tragrichtung aufwiesen. Im Bereich der Verladerampe wechselte sie von Nordost-Südwest, auf Nordwest-Südost (Abb. 9). Die Architekten konzentrierten sich auf diese Charakteristika, um sie für den Umbau nutzbar zu machen. Um dem Bau das fehlende Gesicht zu erstatten – und mithin auch das Tragwerk, wo nötig, zu ertüchtigen –, bildeten sie die innere Holzstruktur auf der Fassade ab, übertragen auf Betonstützen und -träger sowie diagonalen Stahlstreben (Abb. 7). Den Massstabssprung übertrugen die Architekten auf den Verputz – mit einer gegenüber den üblichen 4 mm auf 8 mm vergröberten Körnung.

Auf das Würfelraster reagierten die Architekten, indem sie die Disposition der Wohnungsgrundrisse annähernd deckungsgleich an ihm ausrichteten. Die Tragrichtung bzw. ihr Wechsel bot sich für die Positionierung verschiedener Wohnungstypen an: Auf der Südwestseite Maisonettewohnungen, auf der Nordwestseite Wohngemeinschaften. Zupass kam dieser Gliederung ausserdem, dass die Fläche der Halle im Bereich der Wohngemeinschaften nahezu quadratisch war, bei den Maisonettewohnungen dagegen lang gestreckt. Fast auf der Hand lag es schliesslich, im Südwesttrakt mit seiner «Dreischiffigkeit» im mittleren «Schiff» einen Erschliessungskorridor einzuschneiden. An dieser Stelle hatten sich einst die Umlademöglichkeiten befunden, betrieben zunächst mit einem Handaufzug bevor ein elektrischer Lift eingebaut worden war. Die Architekten haben für den schmalen Hof also die Struktur da entfernt, wo sie ohnehin schon schwach bestückt bzw. von minderer baulicher Qualität war.

Vertikale und horizontale Verbindungen

Wieder begegnet einem das Widersprüchliche, das Komplementäre, das Gegensätzliche, das Hybride: Der Gebäudeteil mit den Maisonettewohnungen gleicht einer Mischung aus Reihenhaus und Hofrandbebauung. Komplementär sind die Gemeinschaftswohnungen. Buol & Zünd haben nicht versucht, die untere Wohnung zu lichten, sondern ihr den «geerdeten », eher verschlossenen, in sich gekehrten Charakter gelassen. Ja, sie haben den Eindruck des Refugiums gar noch verstärkt, indem sie den Boden mit rotbraunen Naturasphaltplatten belegten – eine Referenz ausserdem an die einstige industrielle Nutzung. Nicht nur die von der Beimengung von Eisenoxid herrührende warme Tönung signalisiert den Übergang von der industriellen zur Wohnnutzung, hybrid ist das Material auch, weil es sowohl aus organischen (Bitumen) als auch aus anorganischen (Gesteinskörner) Komponenten besteht sowie weicher ist als Stein, aber härter als Holz. Durch die Gemeinschaftszone der oberen Wohnung hingegen weht eine luftigere Atmosphäre, sie bekommt zusätzliche Helligkeit über ein zenitales Oberlicht, und leichter ist auch der Bodenbelag aus Lärchenparkett. Gemeinsam ist den beiden Wohnungen ein Binnentreppenhaus im Vorraum, über das sie bei Bedarf miteinander verbunden werden können. Diese Stiege irritiert. Sie wirkt gleichzeitig gequetscht und schwungvoll. Tatsächlich mussten die Architekten sie auf den begrenzten Platz «zurechtstutzen», im Gegenzug haben sie einen verdreht wirkenden, auf- und abschwingenden Handlauf entworfen, der erscheint, als habe sich das Holz unter der Einzwängung verworfen. Sie haben gleichsam in dieser Treppe auf engstem Raum den Charakter des Hauses, seine Disproportionalität, verdichtet (Abb. 3). Ähnliches gilt für die Gestaltung der die Wohnungen zum Treppenhaus hin abschliessenden Glaswände als Sichtschutz. Das wie punktiert wirkende Dekor löst sich bei näherer Betrachtung in ein Ornament aus ineinander verschlungenen Kreisen auf. Das Motiv leitet sich aus einem Drahtzaun ab und hätte entsprechend auch nicht «eingraviert», d.h. geätzt, sondern als Metallnetz hinterlegt werden sollen, was aber einen zu kerkerhaften Effekt gehabt hätte. Daher fokussierten die Architekten auf die konstruktive Komponente eines solchen Netzes, auf die Verschränkungen eben, die sie vergrösserten und abstrahierten.

Rückwärtiger Bau – Von der Irritation zur Paradoxie

Paradox mutet die auf einen begrünten Hof orientierte Nordwestfassade des WG-Trakts an (Abb. 6): Die Fassade des Obergeschosses scheint schwer auf der des Erdgeschosses zu lasten, ist sie doch als massive Wand ausgebildet, während die untere aus Holz wie eine leichte Innenwand wirkt. Die Fassadenflucht des Obergeschosses entspricht der Position der Aussenwand des ehemaligen Hallenkörpers und wurde entsprechend wieder als Massivwand ausgebildet. Diejenige des Erdgeschosses dagegen haben die Architekten konzeptionell als Innenwand behandelt. Denn im Bereich der Umfriedung war die Halle ursprünglich nur eingeschossig – noch erkennbar an der Höhe der hinteren Mauer. Sie war einst die Aussenwand und soll weiterhin als solche wahrgenommen werden, sodass der Hof als grünes Zimmer figuriert. Analog gingen die Architekten bei den übrigen Fassaden vor. Die Südwestseite ist wie beim ursprünglichen Bau über beide Geschosse als massive Wand ausgebildet. Die einander gegenüberliegenden, den Hofkorridor flankierenden Glasfassaden des Maisonettetrakts haben optisch wiederum die Leichtigkeit von Innenwänden – unterstrichen durch die Verwendung desselben «Drahtzaun»-Musters, mit dem auch bei den eigentlichen Innenwänden die Transparenz durch den Sichtschutz gedämpft wird (Abb. 4). Dessen bedarf es hier, obwohl zum Hof hin die öffentlicheren Räume – Treppenhäuser, Musikzimmer und Wohnhalle – orientiert sind, rücken die Nachbarn doch wegen der Enge des Hofs einander in ungewohnte Nähe.

Repräsentationsbau – sublimierter Zwiespalt

Das Aushalten des Zwiespalts bzw. seine Sublimation ist auch das Thema beim repräsentativen Zeilenbau entlang der Lothringerstrasse. Denn dem Leichtbau wurde mit den als Raum-im-Raum konzipierten akustischen Einbauten eine konterkarierende Massivität verliehen (vgl. Kasten S. 24). Analog hingegen zur ursprünglichen Nutzung als Verwaltungs- und Fabrikationsort beherbergt der Zeilenbau neben Wohnungen auch Räume von öffentlichem Charakter – Gästezimmer – sowie Arbeitsstätten – vier Übungsräume und ein Tonstudio. Letztere befinden sich im Erdgeschoss. Zwei der Übungsräume sind fix vermietet, die andern beiden sowie das Tonstudio können temporär und auch von Externen genutzt werden, sodass nicht nur Musikerinnen und Musiker, die im Haus wohnen, üben können, sondern auch gemeinsame Proben möglich sind.

Im ersten Obergeschoss wurden Gästezimmer eingebaut, das zweite Obergeschoss beherbergt wiederum Wohnungen: Je höher man steigt, desto privater wird es. Während der Ausbau der Wohnungen dem Standard der Maisonettewohnungen im Hinterhaus entspricht, sind die Gästezimmer etwas einfacher ausgestattet. Auf die temporäre Nutzung ausgerichtet, wurden leichtere Materialien verwendet: Linoleum für die Böden, im selben Farbton allerdings wie die Asphaltplatten der Gemeinschaftswohnungen, und ein nur 3 mm starkes Glasmosaik als Wand- und Bodenverkleidung der Sanitärzelle anstelle der Steinzeugplatten in den Wohnungen.

In doppeltem Sinn kommt hier auch das Raum-im-Raum-Konzept zum Zug. Die Architekten haben die dienenden Funktionen in ein grosses Einbaumöbel gepackt, das ausserdem schallabsorbierend wirkt (Abb. 13, 14). Integriert in dieses Möbel ist die als Galerie ausgebildete Schlafkoje, deren Holzgerüst an die ehemaligen Holzgestelle in der Lagerhalle erinnert. Und gedacht sind die Kojen auch, um sich todmüde aufs Lager sinken zu lassen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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