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TEC21 2011|36
Genève s'éveille
TEC21 2011|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Vor dem grossen Umbau

Genf wächst seit Jahren stark, aber planerisch war es lange blockiert. Der öffentliche Verkehr wurde kaum ausgebaut, Wohnungen entstanden vor allem in den französischen Vororten. Doch nun erwacht der Kanton. Eine S-Bahn und neue Tramlinien entstehen. Entlang diesen neuen ÖV-Achsen sollen durch gezieltes Einzonen und das Verdichten von Industriegebieten neue Stadtteile entstehen. Zum Beispiel in Praille - Acacias - vernets, einem der grössten Entwicklungsgebiete in Europa.

2. September 2011 - Ruedi Weidmann
«Ich fürchte nur, dass es uns bereits zum Charakter geworden ist, Projekte nicht zu verwirklichen. » Dieser Satz fällt so oder ähnlich fast in allen Gesprächen mit Leuten, die mit der Zukunft von Stadt und Kanton Genf beschäftigt sind. Die tiefe Skepsis wurzelt in der jüngeren Geschichte: Mindestens drei Jahrzehnte lang litt die Stadtrepublik unter einer fast völligen Blockade der Stadtentwicklungspolitik. Projekte zur Linderung der notorischen Wohnungsnot, zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur oder zur Raumentwicklung wurden von den Parteien und vom Souverän konstant verworfen.

Für Besucher aus der Deutschschweiz ist Genf eine fremde Welt: Ein Heer von Beamten wacht über die Einhaltung hunderter von Regeln, die der liberale Nordosten nicht kennt. Drei Beispiele: Mieten dürfen nur bei Mieterwechseln angepasst werden, die Art der Erdgeschossnutzung darf nicht verändert werden, und um die Stadt zieht sich eine grosse Agrarzone, die seit den frühen 1960er-Jahren vor Bebauung geschützt ist. All das ist sehr angenehm für die, die schon hier sind: Sie wohnen günstig, geniessen eine schweizweit einmalige Dichte an Restaurants und Läden und sind schnell im Grünen. Aber es ist unmöglich für alle, die gerne nach Genf ziehen würden. Denn unter diesen Umständen wurde nie eine Wohnung frei, und neue wurden zu wenig gebaut. Die Genferinnen und Genfer hatten sich bequem eingerichtet in ihrer schönen, dichten Stadt und liessen es lange dabei bewenden.

Genf ist aber äusserst attraktiv. Die internationalen Organisationen, das Forschungszentrum Cern, die guten Hochschulen und die schöne Lage ziehen Menschen und wirtschaftliche Aktivitäten an. In den letzten Jahren ist Genf, von der Öffentlichkeit lange kaum bemerkt, zum wichtigsten Rohstoffhandelsplatz der Welt geworden.[1] Die Agglomeration ist kräftig auf fast 900 000 Einwohner angewachsen – allerdings vor allem in Frankreich. Dort gibt es Bauland und Wohnungen, aber keine urbane Dichte, kein Tram und keine S-Bahn. Die Folge: Fast eine halbe Million Personen und 350 000 Autos überqueren täglich die Kantonsgrenzen. Der Anteil des öffentlichen Verkehrs in der Agglomeration ist mit 12 % katastrophal tief (Abb. 1), Lärm- und Schadstoffwerte sind entsprechend hoch und Staus an der Tagesordnung. Seit einiger Zeit ziehen auch junge Genfer Familien nach Frankreich, weil sie in ihrer Stadt keine Wohnung mehr finden. Damit aber drohen die traditionell regierenden Parteien ihre Wählerbasis zu verlieren. Vielleicht hat gerade diese Sorge, zusammen mit der wachsenden Verkehrs misere, der Wohnungsnot und dem Nachdrängen einer wohl weniger auf das Lokale fixierten, weltoffeneren Generation endlich zu einem Umdenken geführt.

Genf erwacht

Genf erwacht – und wie! Noch ist alles Projekt, doch die Pläne klingen vielversprechend, und die Zahlen, die genannt werden, können einen schwindlig machen: Bis in 20 Jahren sollen 200 000 Einwohner und 100 000 Arbeitsplätze hinzukommen, die Hälfte davon im Kanton Genf, wo 50 000 neue Wohnungen gebaut werden sollen – das wären 2500 pro Jahr. Dieses Wachstum soll aber nicht in ein planloses Ausufern der Stadt münden, sondern landschaftsschonend, umwelt- und sozialverträglich ablaufen. Gefördert durch das Agglomerationsprogramm sind im «Bassin franco-valdo-genevois» grenzüberschreitende Gespräche in Gang gekommen: Auf verschiedenen Ebenen koordinieren seither Vertreter der Kantone Genf und Waadt und der französischen Departemente Ain und Haute-Savoie die Planung der Siedlungs- und Verkehrsentwicklung. Resultate davon sind der grenzüberschreitende Verkehrsverbund, neue Buslinien und das Konzept der S-Bahn. Mit dem Bau von deren Herzstück, der Ceva, der in wenigen Wochen beginnen soll (vgl. «Genfs Hauptschlagader», S. 27), wird Genf ein zeitgemässes ÖV-Netz erhalten – und gleichzeitig sein ältestes Blockadetrauma überwinden, denn das Projekt wird seit 1850 diskutiert. Trotz wiederholten Anläufen blieb es Stückwerk; 1888 und 1949 wurden Teilstrecken eröffnet.[2] Seit 1995 baut Genf auch das Tramnetz wieder aus. Vier Linien sollen bis nach Frankreich verlängert werden. 2010 wurde das Agglomerationsprogramm im kantonalen Richtplan verankert. Die Siedlungsentwicklung wird darin – und noch stärker in der laufenden Richtplanrevision – auf die neuen ÖV-Achsen ausgerichtet.[3] Als «axes forts» greifen diese wie Finger einer Hand aus und verschränken sich mit Grünzügen, die bis in die Kernstadt hineinreichen (Abb. 3). Entlang den «axes forts» soll die Bebauung verdichtet werden. An deren Enden werden etwa 4 % der Landwirtschaftszone eingezont. Hier sollen neue Quartiere von der Dichte und mit dem Nutzungsmix der Innenstadt entstehen. Entsprechende Ideen- und Projektwettbewerbe sind in Vorbereitung.[4] Diese Abstimmung von Siedlungsentwicklung und Verkehr entspricht den Anforderungen des Bundes an die Agglomerationsprogramme. Genf hat deshalb seit 2008 für den Bau der Ceva und den Ausbau des Trams 900 Mio. Fr. erhalten.

Ceva-Stationen als dichte Zentren

Abgesehen von den Schlafgemeinden in Frankreich bietet Genf eine gute Ausgangslage für eine Stadt der kurzen Strecken. Das eigentliche Stadtgebiet ist das dichteste der Schweiz, und die Bevölkerung schätzt dies als urbane Qualität. Doch auch die Kernstadt birgt noch Verdichungspotenzial, etwa an vier der fünf neuen Ceva-Stationen. Kanton und SBB wollen diese zu intermodalen Umsteigeplattformen ausbauen und arbeiten bei der Planung eng zusammen. Sie legen dabei viel Wert auf Benutzerfreundlichkeit: Möglichst einfach und angenehm soll von der S-Bahn auf Tram, Bus, Velo und Fusswege ge wechselt werden können. Für die Gestaltung der öffentlichen Räume an den Ceva- Stationen hat der Kanton einen Wettbewerb ausgeschrieben (TEC21 23/2011, S. 12).

Um die Stationen herum sollen dichte, gemischte Bebauungen mit hohem Wohnanteil entstehen. Mittels Studienaufträgen wurden Masterpläne entwickelt, daraufhin die Quartierpläne erneuert, für die Bauten sind Projektwettbewerbe vorgesehen. So an den Bahnhöfen Chêne- Bourg und Eaux-Vives, wo durch die unterirdische Führung der Ceva die 1887 angelegten Gleisfelder und Güterareale frei werden. In Chêne-Bourg sind 230 bis 330 Wohnungen und 10 000 m² Dienstleistungen geplant (Abb. 5–6); in Eaux-Vives, wo auch die Stadt beteiligt ist, sollen von 2015 bis 2018 etwa 250 Wohnungen, Läden, Büros, Sport- und Freizeiteinrichtungen sowie die neue Comédie de Genève gebaut werden (Abb. 7, 9).

Ein Schlüsselprojekt für die neue Ära ist das Vorhaben an der Station Lancy-Pont-Rouge. Es gehört zum Entwicklungsgebiet Praille - Acacias - Vernets (PAV) und wird dessen Umstrukturierung einleiten (vgl. «Ein zweites Stadtzentrum», S. 22). Die Société de valorisation Lancy- Pont Rouge (SOVALP), bestehend aus SBB und Kanton, plant hier eine gemischte Überbauung mit über 180 000 m² Bruttogeschossfläche: 8 Geschäftsbauten mit bis zu 16 Etagen und mehrere Wohnhöfe, 4600 Arbeitsplätze, 550 Wohnungen, Läden, Restaurants, ein Hotel, öffentliche Einrichtungen und eine Schule. Ein Bahnhofplatz und weitere öffentliche Räume sollen die S-Bahn-Station mit ihrer Umgebung verbinden (Abb. 10–11). Denn das SOVALPProjekt ist nur ein kleiner Teil eines viel grösseren Entwicklungsgebiets. – Dies ist der zweite Satz, den man in Genf gegenwärtig ständig hört: Alle Projekte sind immer nur Teil eines noch grösseren. So wie die Ceva nur ein Teil der S-Bahn ist und diese nur ein Element im geplanten ÖV-Netz mit Trams und Hochleistungsbussen, so ist das SOVALP-Projekt nur ein Teil des Entwicklungsgebiets PAV und dieses wiederum nur ein Element in umfassenden Plänen zur Verdichtung und Erweiterung des Genfer Siedlungsgebiets.


Anmerkungen:
[01] Martin Gollmer: «Genf – Stadt des Rohstoffhandels», Finanz und Wirtschaft 2.4.2011, S. 22 f.; Daniel P. Bernet: «Genf wächst zum Mekka des globalen Rohstoffhandels», NZZ am Sonntag, 24.1.2010.
[02] www.ceva.ch>Ceva dans le temps
[03] http://etat.geneve.ch/dt/amenagement > Plan directeur cantonal
[04] http://etat.geneve.ch/dt/amenagement > Grands Projets

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