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TEC21 2011|38
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TEC21 2011|38
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Leben ohne Einschränkung

Körperlich nicht beeinträchtigten Menschen fallen Barrieren im Alltag selten auf. Menschen mit Geh-, Seh- oder Hörbehinderungen hingegen sind darauf angewiesen, dass sie ihre Umwelt hindernisfrei erleben können. Standards helfen Planenden zwar bei entsprechenden Bauaufgaben, hindernisfreies Bauen kann aber nicht abschliessend in einer Norm geregelt werden.

16. September 2011 - Felix Bohn
Die bauliche Umwelt ist bei allen Menschen mitbestimmend für die Sicherheit und Selbstständigkeit im Alltag. Nicht markierte Schwellen, zu wenig oder zu viel Licht, rutschige und glänzende Bodenbeläge oder fehlende Absicherungen bei Baustellen sind auch für nicht behinderte Menschen störend oder gefährlich. Sie aber können viele dieser baulichen Mängel durch eine rasche Reaktion oder einen beherzten Sprung kompensieren. Menschen mit einer körperlichen oder sensorischen Behinderung können in derselben Situation im Verkehrsraum oder in einem Treppenhaus in lebensgefährliche Situationen geraten oder massiv in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt werden. Im baulichen Umfeld stellt sich ihnen immer wieder die Frage: «Bin ich behindert oder werde ich behindert?» Planerinnen und Planer sind deshalb gefordert, bei all ihren Projekten auch die Bedürfnisse und Fähigkeiten älterer und behinderter Menschen mit einzubeziehen. Diese Aufgabe wird mit der demografischen Entwicklung in der Schweiz und dem Ruf nach sozialer Nachhaltigkeit in Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen. Entsprechende Vorgaben finden sich in der Norm SIA 500 «Hindernisfreie Bauten» (vgl. Kasten) und für den Strassenraum im VSS-Forschungsbericht «Hindernisfreier Verkehrsraum» (vgl. Literaturanmerkungen).

Sonderbauten

Bei Bauten wie Behinderten- oder Pflegeheimen, die speziell für Menschen mit körperlichen oder sensorischen Behinderungen gebaut werden, gelten gegenüber der SIA 500 erhöhte, manchmal auch abweichende Anforderungen. Zu den erhöhten Anforderungen zählen breitere Flure, grössere Aufzüge oder Notrufsysteme. Ein Beispiel für abweichende Anforderungen sind die Rampen, die im Mathilde-Escher-Heim die Stockwerke verbinden (vgl. «Welt aus Rampen», Seite 21). Obwohl die SIA 500 die Rampensteigung auf 6 % begrenzt, konnten hier steilere Rampen geplant werden, weil alle Bewohner des Mathilde-Escher-Heims an derselben Art von Behinderung leiden und sich in der Regel alle im Elektrorollstuhl fortbewegen. In diesem speziellen Fall ist das Überwinden grösserer Steigungen weder gefährlich noch beschwerlich. In einem Alters- und Pflegeheim sind Rampen zumindest bei Neubauten dagegen nie erlaubt: Da die Beschwerden der Bewohnerinnen recht unterschiedlich sein können, müssen bei der Planung auch verschiedenste Körper- und Sinnesbehinderungen berücksichtigt werden. Der Bewohner mit der Parkinsonschen Krankheit ist im Alltag mit anderen Herausforderungen konfrontiert als die Frau mit einer Sehbehinderung oder ihre Nachbarin mit einer schweren rheumatischen Erkrankung. Die Lehre, die man daraus ziehen kann: Das hindernisfreie Bauen, das uns allen den Alltag erleichtert, kann nicht abschliessend in einer Norm geregelt werden. Bauen für behinderte Menschen ist so unterschiedlich, wie es die einzelnen Behinderungen sind.

Beispiel behindertengerechter Aufzug

Aufzüge in öffentlichen Gebäuden müssen Anforderungen genügen, die in der SIA 500 abschliessend auf weniger als einer Seite aufgelistet sind. Doch wie sieht das bei Sonderbauten aus? Gibt es auch hier ein abschliessendes Set von Vorgaben? Zwar gelten auch hier mindestens die Grundanforderungen gemäss SIA 500. Was darüber hinaus beachtet werden muss, hängt aber stark von der jeweiligen Nutzung ab. Im Alters- und Pflegeheim mit seh- und hörbehinderten Menschen sind eine optische Anzeige und eine akustische An sage des angefahrenen Stockwerks unbedingt erforderlich. Menschen im Rollstuhl sind für die selbstständige Benutzung auf ein horizontales Bedientableau angewiesen, solche mit starker Beeinträchtigung oder fehlenden oberen Extremitäten auf eine Aufzugsbedienung über eine Fernbedienung. Menschen mit Rollatoren können Aufzüge mit gegenüberliegenden Ein- und Aussteigtüren sicherer benutzen, weil ihnen das Rückwärtsfahren wie auch das rasche Wenden auf der begrenzten Fläche des Lifts schwerfällt. Die meisten Menschen im Rollstuhl können dagegen problemlos rückwärts fahren. Dabei sind sie froh, wenn die Liftrückwand mit einem Spiegel versehen ist, sodass sie beim Rückwärtsmanövrieren sehen, ob Personen vor dem Lift stehen. Derselbe Spiegel wäre in einer Pflegeabteilung für demenziell erkrankte Menschen sehr problematisch, weil diese in der späteren Phase der Erkrankung das Spiegelbild, das beim Betreten auf sie zukommt, nicht mehr als ihr eigenes erkennen und erschrecken.

Fachleute beiziehen

Was hier exemplarisch am Lift aufgezeigt wurde, gilt auch für viele andere Bereiche der Bauplanung für behinderte Menschen. Behindertengerechtes Bauen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die ein grosses Fachwissen und Detailkenntnisse voraussetzt. Und wie der grüne Daumen im eigenen Garten den Landschaftsplaner nicht ersetzen kann, sind das durchaus sinnvolle Probewohnen an einem Wochenende im Altersheim oder 30 Minuten im Alterssimulationsanzug kein Ersatz für eine fachliche Begleitung durch erfahrene Experten. Es ist deshalb sinnvoll, frühzeitig Fachleute beizuziehen und diese wie andere Spezialisten während der gesamten Planungs- und Bauphase zu konsultieren. Nur so kann gewährleistet werden, dass ein Gebäude entsteht, das die Selbstständigkeit und Sicherheit der Bewohner optimal unterstützt und in dem effiziente, reibungslose Arbeitsabläufe möglich sind. Beide Faktoren sind zentral für die Nutzerzufriedenheit und den wirtschaftlichen Betrieb.

Wer ist bei dieser Aufgabe Fachpreisrichter?

Die Planung eines Heimes für behinderte oder pflegebedürftige Menschen ist keine reine Architekturaufgabe. Ebenso wichtig ist der Beitrag des qualifizierten Fachwissens aus dem Betreuungs- sowie Behinderten- oder Altersbereich. Anders als bei den meisten anderen Aufgaben bringen hier die Architektinnen und Architekten praktisch nie eigene Erfahrungen mit. Während jeder von uns wohnt, zur Schule ging, im Büro arbeitet, täglich einkauft oder auf den Bus wartet und dadurch automatisch zum Spezialisten wird, sind die wenigsten Planerinnen und Planer selber geh- oder sehbehindert oder haben einen Teil ihres Lebens in einem Heim verbracht. In der Praxis zeigt sich leider immer wieder, dass Heime kurz nach der Erstellung mit grossem Aufwand nachgebessert werden müssen, weil die speziellen Anforderungen von Pflege und Bewohnern zu wenig berücksichtigt wurden. Die bei einem Wettbewerb eingereichten Projekte müssen entsprechend auch von Fachleuten beider Fachgebiete beurteilt werden. Deshalb sollte bei der Zusammensetzung der Fachpreisrichter ein spezieller Schlüssel gewählt werden, der gewährleistet, dass die Kompetenzen der Pflegewissenschaft oder der Alterswissenschaft genauso vertreten werden wie das Fachwissen von Städtebau und Architektur. Nur eine Zusammenarbeit von Spezialisten auf Augenhöhe über die gesamte Planungs- und Ausführungsphase bietet die Gewähr, dass ein Gebäude entsteht, das sowohl städtebaulich wie architektonisch überzeugt als auch die Anforderungen an eine zeitgemässe, würdevolle und effiziente Betreuung älterer oder behinderter Menschen berücksichtigt.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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