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ARCH+ 204
Die Krise der Repräsentation
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Fallstudie Hamburg Gängeviertel

2. November 2011 - Anh-Linh Ngo, Diana Bico
Die Gängeviertel

Die wegen ihrer engen, verwinkelten Gassen als Gängeviertel bezeichneten Arbeiterquartiere sind die charakteristische innerstädtische Siedlungsform des historischen Hamburgs. Aus sozialen und politischen Erwägungen heraus werden diese kleinteiligen Strukturen ab den 1890er Jahren in verschiedenen Sanierungsprogrammen nach und nach durch eine zeitgemäße Bebauung ersetzt. Spätestens nach den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg ist von dem historischen Stadtgewebe nur noch wenig erhalten. Die letzte zusammenhängende Gängebebauung wird in den 1960er Jahren beseitigt. Heute existieren nur noch wenige Fragmente; eines der Größten – schlicht als das Gängeviertel bekannt – befindet sich zwischen Valentinskamp und Speckstraße in der Hamburger Neustadt.

Hamburger Hausbesetzungsszene

Seit vierzig Jahren werden in Hamburg Häuser illegal besetzt – anfangs vor allem zur Eigennutzung, später auch als politisches Instrument, um auf die Wohnungsnot und den Mangel an sozialen Einrichtungen hinzuweisen oder auch als generelle Kampfansage gegen die Macht des Staates und der Investoren. Dabei präsentieren sich die Besetzer einerseits bewusst militant, andererseits werben sie um Verständnis und Solidarität in der Bevölkerung.

Die ereignisreiche Squatting-Dekade der 80er beginnt mit mehreren eher unpolitischen Hausbesetzungen in Altona-Altstadt, Eimsbüttel und St. Pauli, die alle gemäß der sogenannten Pawelczyk-Doktrin binnen eines Tages von der Polizei beendet werden. Ab Mitte der Achtziger verfolgen die Besetzungen immer häufiger politische Ziele: den Schutz historisch-wertvoller Gebäude und die Errichtung von sozio-kulturellen Stadtteilzentren. Die Akzeptanz in der Bevölkerung wächst, auch offizielle Körperschaften wie etwa die Denkmalpflegebehörde stützen diese symbolischen Besetzungen.

Verhandlungen zwischen Politikern, Eigentümern und Aktivisten finden immer häufiger statt und münden sporadisch in legalisierte Wohnprojekte. Auch die viel beachtete Besetzung der Hafenstraße, die nach einem jahrelangen Wechselspiel aus „Barrikaden-Tagen“ und Verhandlungen 1995 an die eigens gegründete Genossenschaft Alternative am Elbufer verkauft werden.

Eine weitere aufmerksam verfolgte Hausbesetzung spielt sich seit den späten 1980ern im Schanzenviertel ab, wo ein Investor ein altes Theater zu einer Oper ausbauen will. Das Bauprojekt scheitert und das historische Theatergebäude wird besetzt. Seither dient es unter dem Namen Rote Flora als autonomes Stadtteilzentrum, in dessen sich gentrifizierenden Umfeld es jährlich zu politischen Protesten und diffusen Krawallaktionen kommt. 2001 verkauft die Stadt das Gebäude an den Hamburger Immobilienkaufmann Klausmartin Kretschmer. Der Wert des Gebäude ist seitdem um das Hundertfache gestiegen.

In den 90ern wird der Umgang mit den Hausbesetzern deutlich verschärft. Die Besetzungen werden rasch aufgelöst, die betroffenen Gebäude abgerissen und die Grundstücke neu bebaut. Nach einer mehr als zehnjährigen Pause löst die Besetzung des Gängeviertels 2009 wieder eine Reihe von Squatting-Aktionen aus.

Bambule

Parallel zu den Hausbesetzungen finden auch illegale Grundstücksbelegungen durch Bauwagen-Gruppen statt. Teilweise sind die mobilen Besetzungen politisch motiviert und eine Protestform gegen hohe Mieten. Die aufsehenerregendste Räumung, angeordnet vom Innensenator Ronald Schill (Schill-Partei), ereignet sich 2002 auf dem Wagenplatz Bambule im Karolinenviertel.

Hamburger Stadtentwicklung

Die Hamburger Stadtplanung konzentriert sich seit den späten 1990er Jahren vor allem auf Leuchtturmprojekte. 1997 wird das Projekt HafenCity beschlossen und drei Jahre später in einem Masterplan konkretisiert. Das Konzept sieht die Transformation des zentral gelegenen Hafenareals in einen exklusiven Stadtteil vor und setzt eine umfassende Stadtentwicklung in Gang. Im Rahmen des Leitbilds Wachsende Stadt verfolgt der Senat neben der HafenCity weitere Großprojekte wie die IBA/IGA Wilhelmsburg, die Entwicklung Harburgs und die Aufwertung innerstädtischer Bereiche. Die Planungen zielen darauf ab, Hamburg für junge, hochqualifizierte, kreative Arbeitnehmer und vielversprechende Unternehmen attraktiv zu machen und die Innenentwicklung der Stadt massiv voranzutreiben. Ein offensives Marketing verdeutlicht diesen unternehmerischen Stadtentwicklungsansatz.

Recht auf Stadt

Die Wachsende Stadt ruft jedoch auch wachsenden Widerstand hervor. Immer mehr Menschen sehen sich von diesen Planungen für Privilegierte benachteiligt und fühlen sich von der Politik nicht repräsentiert, was sie in zahlreichen Demonstrationen zum Ausdruck bringen. Mit den Jahren formiert sich unter dem Slogan „Recht auf Stadt“ (Henri Lefebvre) ein Netzwerk aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten.

Kulturschaffende stellen sich seit langem auf ein Nomadendasein ein. Aufgrund steigender Mieten müssen sie alle Jahre ihre Arbeitsplätze und Behausungen wechseln und werden immer mehr aus innerstädtischen Lagen verdrängt (Gentrifizierungsprozess). Diese prekären Arbeitsbedingungen stehen im Gegensatz zum vom Senat verfolgten Leitbild der Creative City (Richard Florida), das die Bedeutung von Talent, Toleranz, Vielseitigkeit und Kreativität für die Stadtentwicklung betont.

Creative City

Richard Florida: „Wenn man sich ansieht, was das Ausmaß der Innovation antreibt oder die Höhe des Wirtschaftswachstums und des Wohlstands, dann zeigt sich, dass Orte mit einem vergleichsweise höheren Anteil an der kreativen Klasse auch höheres Wirtschaftswachstum haben, höhere Einnahmen, höhere Löhne, mehr Innovation.“
Richard Florida, The Rise of the Creative Class

Not in our name

Die Vermarktung der Kultur und die Instrumentalisierung von Kreativen für die Aufwertung von Stadtteilen kritisiert das 2009 erscheinende Manifest „Not In Our Name, Marke Hamburg!“. Darin kritisieren prominente Künstler die neoliberale Stadtentwicklung und ihre zugewiesene Rolle in dem „Unternehmen Stadt“.

Komm in die Gänge

Nach jahrelanger Vernachlässigung wird die zum Teil denkmalgeschützte Gängeviertelbebauung 2008 an das niederländische Unternehmen Hanzevast verkauft. Die Kündigung aller Mietverträge und die geplanten Abrissarbeiten führen im August 2009 zu einer Besetzung des Gängeviertels durch Kulturschaffende u.a. Fortan wird das Viertel von einer Genossenschaft dauerhaft und medienwirksam mit Ausstellungen, Konzerten und Performances bespielt. Mit prominenter Unterstützung gelingt es der Initiative, die Stadt in zahlreichen Protestaktionen und Verhandlungen dazu zu bewegen, das Grundstück zurückzukaufen und die Besetzung zu dulden. Im September 2011 unterzeichnen die Stadt und die Aktivisten ein Kooperationsabkommen zur Sanierung des Gebiets.

Das Gängeviertel wird bis auf weiteres von der Initiative selbstorganisiert verwaltet.

Erweiterte urbanistische Praxis

Die gemeinsame Sorge um eine verfehlte Stadtentwicklungspolitik (Privatisierung, Gentrifizierung), die zudem vermehrt Kunst und Kreativwirtschaft instrumentalisiert, hat in den letzten Jahren Bündnisse initiiert, die teilweise an stadtpolitische Bewegungen aus den 70er-Jahren erinnern. Man glaubt wieder an die Macht des Protestes. Mischt sich ein, nimmt Stellung, stellt Forderungen. Das Besondere dabei ist, dass die neue Generation über ausgeprägte mediale und ökonomische Kompetenzen verfügt, zudem ist sie es gewohnt, in temporären transdisziplinären Bündnissen zu operieren.

Diese Kompetenzen sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg des Protestes: Sie ermöglichen es, öffentliche Unterstützung zu gewinnen, indem Wahlmöglichkeiten aufgezeigt und tragfähige ökonomische Konzepte angeboten werden (eine unerlässliche Voraussetzung angesichts der Kassenlage der öffentlichen Haushalte). Nach dem Motto „Souverän ist, wer über Grund und Boden verfügt“ wurden alternative Entwicklungsmodelle wie Baugruppen, Syndikatshäuser, Genossenschaften oder alternative Eigentumstitel wie das Erbbaurecht erprobt, um andere Stadtkonzepte und Mischungsverhältnisse von Wohnen und Arbeiten, von Kunst und Gewerbe umzusetzen. Diese Initiativen lassen sich vor diesem Hintergrund als eine erweiterte urbanistische Praxis verstehen.

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Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngoberlin[at]archplus.net

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