Zeitschrift

TEC21 2012|20
Reflexion und Stimmung
TEC21 2012|20
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Echo als akustisches Spiegelbild

In der Raumakustik geht es darum, Räume physikalisch-technisch so zu planen, dass sie dem darin erzeugten Schall eine akustische Raumantwort verschaffen, die ein Sinfonieorchester, eine Jazzband, einen Sprechvortrag oder einen Filmsoundtrack optimal hörbar macht. Die Geschichte der Bauwerke für Musik und Sprache zeigt zunächst den umgekehrten Fall: Musik wurde für vorgefundene Räume komponiert. Jürgen Strauss hat sich mit dem Thema intensiv beschäftigt und dabei zwei Pioniere ausgemacht: Athanasius Kircher und Joseph Haydn. Der Universalgelehrte und der Komponist haben mit Echo-Partituren die Akustik in ihre Stücke hineinkomponiert. Ein Gespräch über Musik für Räume und Räume für Musik und über die Opposition von harmonikalem Denken und akustischer Gestaltung.

TEC21: Das rote Tuch für die Akustiker, so haben wir bei unseren Recherchen für die Akustik-Reihe festgestellt, ist Adolf Loos’ Text ‹Das Mysterium der Akustik›, wo es unter anderem heisst, dass sich schöne Musik in die Wände einprägt und sie akustisch verbessert. Loos schrieb sinngemäss dem Material die Fähigkeit zu, Klang zu ‹speichern›.[1] Das ist physikalisch wohl Nonsens, aber poetisch, schön und irgendwie auch stimmig.

Jürgen Strauss: Das sind zwei wichtige Stichworte harmonikaler Vorstellungen: schön und stimmig. Damit haben Sie Ausdrücke gebraucht, die ins Zentrum akustischer und visueller Mysterien verweisen. Grundlegend für das harmonikale Denken in der europäischen Kulturgeschichte sind die vorsokratischen Kosmologien und Ontologien, etwa von den griechischen Philosophen Heraklit und Parmenides, für unseren Zusammenhang ist es aber vor allem Pythagoras und seine Gefolgschaft, die eine esoterische (Geheim-)Lehre von der Verfasstheit des Kosmos und des Seins vertreten und die durch Platons ‹Timaios›[2] auf uns gekommen ist (Abb. 1). Darin legt er die Grundlage für das, was wir heute mit dem Begriff des harmonikalen Denkens beschreiben, eine spezifisch ausgeprägte Metaphysik, die sich wesentlich an dem Phänomen der Wahrnehmung der Konsonanz orientiert. Ausgangspunkt ist das Hörphänomen, dass eine Saite, die im Verhältnis 1:1 geteilt wird, exakt die Oktave zur ungeteilten Seite und damit zum Grundton erklingen lässt und dass wir dieses Zusammenspiel als wohlgeformten Klang wahrnehmen – wobei Wohlklang nur ein anderes Wort für schön, stimmig oder eben harmonisch ist. Basierend auf dieser auditiven Wahrnehmung, verknüpft mit dem visuellen Eindruck der geometrischen Teilung in zwei Hälften, verbunden mit der arithmetischen Darstellung in Brüchen ganzer Zahlen, resultierte eine Vorstellungswelt, in der der gesamte Kosmos durch Proportionen wohlgeordnet erscheint. Jetzt kann man das Idealbild zusammenfassen – daher habe ich vorhin auf das Stichwort ‹schön› reagiert: Im schönen Kosmos schwimmt die schöne Erde, auf der schöne Menschen in schönen Häusern leben, die schöne Musik hören und schöne Literatur lesen. Bis in die Neuzeit, ja bis in unsere Gegenwart ist diese metaphysische Ästhetik als Theorie des Schönen virulent.

TEC21: Inwiefern wirken sich diese Vorstellungen auf das Verhältnis zwischen Raum und Klang aus? Denn diese proportionalen Phänomene bringen einen Raum ja noch nicht zum Klingen – das ist eher die sprichwörtliche ‹erstarrte Musik›.

J.S.: Genau, das harmonikale Denken ist für die akustische Gestaltung des Raum-Musik- bzw. des Architektur-Akustik-Verhältnisses praktisch bedeutungslos. Das ist aber auch nicht intendiert, denn die Schönheitsvorstellung zielt auf ein innerweltlich unhörbares Ideal. Musik, d.h. die tatsächlich gespielte, aufgeführte Musik, ist für die katholische Theologie und Liturgie ein untergeordnetes Ereignis seit Anicius Manlius Severinus Boethius, der spätantike Gelehrte und Politiker im 5. Jh. sinngemäss festgestellt hat, dass die affektiven Wirkungen von Musik zwiespältig ausfallen: man kann nicht sicher sein, ob die Musik nur klangsinnlich genossen wird, oder ob sie zur theologisch wertvollen Erbauung und Erhöhung der Seele beiträgt. Die erste Rückversicherung gegen die klangsinnlichen Versuchungen der Musik (Hörlust/Schaulust) bildet die Rückbindung an verstehbare Sprache und damit an den Logos – das Musikprogramm der Kirchenmusik des Mittelalters wurde daher wesentlich in den alttestamentarischen Psalmen und deren Vertonung verankert.

TEC21: Und deshalb gelang es Palestrina – so man sich an die Legende hält –, die polyphone Kirchenmusik auf dem Konzil von Trient (1545–1563) zu retten, indem er den Papst mit seiner sechsstimmigen, ‹in höchstem Grade textverständlichen› Missa Papae Marcelli[3] von ihrem Potenzial überzeugte, einen angenehmen Höreindruck zu hinterlassen und gleichzeitig der Erhebung zuträglich zu sein?

J.S.: Ja, denn solange das göttlich inspirierte Wort der heiligen Schrift in der Musik deutlich vernehmbar bleibt, können die Gefährdungen/Versuchungen des Klangsinnlichen nicht dominant werden. Und mehr noch: Die zweite Abwehrlinie der Theologie gegen die zweifelhaften, skeptisch zu betrachtenden Angebote des Klangsinnlichen ist die harmonikale Musiktheorie, die einen einheitlichen, wohlgeformten Schöpfungsplan durch Notation einsehbar werden lässt: Seit Pythagoras ist Musik nicht mehr nur oder gar ausschliesslich aufgeführte, hörbare Musik, sondern auch unhörbare, arithmetisch darstellbare Sphärenharmonie und damit Theorie der Weltordnung (Abb. 8). Diese griechisch-heidnischen Vorstellungen fanden durch die alttestamentarischen Weisheiten König Salomos – Gott hat die Welt nach Mass, Zahl und Gewicht geordnet; Salomons Tempel als Ideal harmonikaler Bauproportion – Einlass in die christliche Lebenswelt und wurden als lateinisch-christliche Konzepte der Harmonia mundi, etwa bei Johannes Kepler, tradiert (inneres Titelbild). Diese ist geboren aus der einen Schöpfervernunft, die in sich perfekt ist. Denn der Schöpfergott hat nicht chaotisch gewürfelt, sondern aus einem Guss, mit einer Vernunft, mit einem Plan diese Welt hervorgebracht – das wird theologisch verteidigt. Robert Fludds’ Bild von Gottes Hand, die aus einer himmlischen Wolke an die Schnecke des ‹Welt-Kontrabasses›[4] greift, an ihr schraubt und so die Welt stimmt, zeigt diesen Zusammenhang in einer neuzeitlichen Form (Abb. 2).

TEC21: Auf der Sphärenharmonie basiert dann ja auch die Venezianische Mehrchörigkeit, die sich ab 1430 etabliert, um den Raum mit Klang zu füllen – eine Art Vorläufer von Athanasius Kirchers[5] Echo-Experimenten oder nehmen sie diese gar vorweg?

J.S.: Nun, im Gegensatz zu den getrennt aufgestellten Chören, den Cori Spezzati, die – über sphärenharmonische Motive vermittelt – lediglich die Richtungen einfallenden Schalls gestalten, rückt Kircher bis zu einem gewissen Grad vom harmonikalen Imperativ ab. Die Echo-Experimente basieren auf hörbaren Phänomenen, nicht auf arithmetisch geprägten theoretischen Modellen. Seine hörbaren Klangpotenziale des Echoeffektes kontrastieren zu den theologisch-harmonikal inspirierten Kompositionen, deren wohlgeordnete Harmonien man hörend längst nicht immer nachvollziehen kann. Kircher ist den harmonikalen Traditionen weitgehend verpflichtet, aber eben nicht ausschliesslich. Er beginnt, den tatsächlichen Raum der Aufführungsstätte bzw. deren akustische Raumantwort in die Konzeption seiner musikalischen Klangvorstellungen zu integrieren.

TEC21: Was veranlasste ihn zu diesen Experimenten, was war ihr Auslöser?

J.S.: Es gibt für Kirchers Interesse an Echo verschiedene Ansatzpunkte: Er hat vor den Stadtmauern Avignons den Effekt eines Mehrfachechos bemerkt und dann Hörexperimente veranstaltet, und er hat Vitruv gelesen, sich mit der antiken Akustiktheorie zur Echobildung vertraut gemacht. Zudem ist er der literarisch-mythologischen Spur von Narziss und Echo gefolgt. Ovid kennt man im 17. Jh. aus dem Lateinunterricht, und sobald Opern eine Rolle spielen, sind Ovids ‹Metamorphosen› eine der wichtigsten Quellen für Libretti. Die antike Stoffwelt interessiert, weil sie Liebesmotive in einer bukolischen Welt um den Gott Pan, die Satyren und Nymphen ansiedelt. Es sind Naturszenarien, die entweder lustvoll oder gefährlich sind, das heisst sich zwischen locus amoenus und locus horribilis abspielen, den beiden topischen Schäferszenarien. Und diese finden in der Opernliteratur ihren Widerhall. Zum literarischen gesellt sich der akustische Aspekt: Heute lesen wir ‹stumm›, aber bis zu Goethes Zeiten las man zumeist laut vor – erst recht lyrische Werke, wie es die Metamorphosen sind. Gedichte sind, jedenfalls solange sie in Reimen verfasst sind, ans Klangliche gebunden, man muss sie laut vortragen, um Melodie und Rhythmus hörbar zumachen und im Binnen- und Endreim die akustische Figur des Echos zu hören. Das Echo ist empirisch erfahrbar – hauptsächlich auf dem Land, im Gebirge, was wiederum mit dem Bukolischen verknüpft ist – es lässt sich literarisch und musikalisch nachbilden. Das bedeutet: Man hat eine wahrnehmbare Dimension im Erleben der künstlerisch verwendeten Echoeffekte (Abb. 6, 7).

TEC21: Beides, Echo und Schäferszene, spielt sich nun aber ausgesprochen nicht im theologischen Kontext ab – weder dem Inhalt noch dem Ort nach.

J.S.: Stimmt, aber die Kirchenräume, in denen sich Kircher in Rom bewegt – Il Gesù, San Pietro – sind von grosser Halligkeit, was Kircher nicht entgeht. San Pietro etwa mit seiner gewaltigen Kuppel und den vielen Nischen, die eine akustische Bündelung des Schalls bewirken. Kircher bemerkt, dass, wenn man Schall in die Kuppeln spricht, er mit veränderten Klangfarben und zeitlich verzögert reflektiert wird und dass, je nach geometrischer Positionierung des Sprechers, ein Echoeffekt hörbar wird. Wenn man ruft, wird gleichsam aus dem Raum geantwortet. Das ist theologisch interessant, besonders dann, wenn das Echo von oben kommt. Das nutzt Kircher und schlägt vor, die Gläubigen aufzufordern, sich in den Kapellen auf den Boden zu knien und ihr Gebet gegen die Nischen zu sprechen: Der Schall würde dann von der Kuppel reflektiert und die Antwort ‹von oben› unmittelbar erfolgen. Kircher kombiniert eigene Erfahrung, Kunst und Technik der Musikproduktion so, dass sie den gegenreformatorischen Bestrebungen einer zum Protestantismus konkurrenzfähigen Musikästhetik und Aufführungspraxis dienen. Um affektiv initiierte Andacht und Rührung auf grosse und stark hallige Kirchenräume zu übertragen, kommt Kircher auf die Idee, Musik so zu komponieren, dass Echo selber zum musikalischen Ereignis einer komponierten Musik wird: ‹Musik durch das Echo›. Er schlägt Chöre für San Pietro vor mit bestimmten geometrischen Aufstellungen und Relationen zum Publikumsbereich, um die Bündelungseffekte der Nischen und Kuppeln zu nutzen. Der Chor singt, dann Pause, und nun kann der Raum, die Nische oder Kuppel antworten, jetzt erscheint das Echo als Teil der Komposition. Zunächst in der ‹Musurgia universalis› von 1650, dann 1673 in der ‹Phonurgia nova› und 1684 – notabene von Protestanten – übersetzt, in ‹Neue Hall- und Tonkunst› hinterlegt Kircher das Konzept der ‹Musik durch das Echo› und damit die Verbindung von Musik und architektonischem Raum.[6]

TEC21: Wo liegt die Schnittstelle zwischen Kircher und Joseph Haydn[7]?

J.S.: In der Bibliothek von Joseph Haydn befand sich eine Ausgabe der ‹Phonurgia nova›, d. h., physisch ist sie leider verschwunden, aber wir wissen, dass er sie besass. Und wir kennen die Musik, die er komponiert hat, für welche Räume und Besetzungen des Orchesters. Wir wissen auch, dass er Stücke wie die ‹Echosymphonie› oder das mit ‹Echo› betitelte Divertimento in Es-Dur geschrieben hat.[8] Er schlägt darin eine kammermusikalische Aufführungssituation mit zwei kleinen Ensembles zu je drei Musikern vor, die in zwei verschiedenen Räumen spielen. Die einen fangen an, die anderen hören zu. Durch eine Holzwand – eventuell steht die Türe auch leicht offen – hört man sich gegenseitig und ist damit Spielender und Zuhörer. Dann spielen die Anderen und so ist man im dialogischen Spiel je das Echo füreinander. Es ist gut belegbar, dass es die Abstimmung zwischen Musik und Raum bei Haydns Kompositionen gibt, dass er inhaltlich das macht, was Kircher beschrieben hat. Das heisst, er nutzt die akustische Raumantwort (Echo ist im Konzertsaal störend; diffuser Nachhall jedoch nicht), den Nachhall des Raumes als Teil der symphonischen Komposition und gestaltet Klangbilder durch dynamische Steigerungen und den Einsatz von Kontrabässen und Pauke, was den Raum zu langem Nachhall anregt und bestimmte Raumeindrücke möglich macht.

TEC21: Da die ‹Phonurgia nova› erst nach der Komposition des Divertimento erschien, muss Haydn noch eine andere Inspirationsquelle gehabt haben.

J.S.: Die Entstehungszeit – 1761 – des Divertimento ist tatsächlich interessant – ein Jahr nach dem Beginn seines Engagements bei den Fürsten von Esterházy, wo er in der Residenz in Eisenstadt (Abb. 9) und dann ab 1766 im neuen Schloss in Fertöd (Ungarn) wirkte, von dem heute nur noch das Hauptgebäude übrig ist. Der Fürst leistete sich ein Orchester mit ca. 40 Personen, mit dem Haydn 30 Jahre lang fast täglich für Sinfonie, Oper, Marionettentheater und auch für Kammermusik geprobt hat. Es war die Abgeschiedenheit und der Umstand, dass er jeden Tag ein Orchester zur Verfügung hatte, Aufstellungen ausprobieren, mit der Instrumentierung experimentieren konnte, was es ihm ermöglichte, für ganz bestimmte Räume ganz bestimmte klangliche Vorstellungen umzusetzen. Und dann kommt etwas hinzu: Eines Tages kommt eine Militärkapelle vorbei. Normalerweise verfügt Haydn nicht über Pauken, die gibt es nur im Militärspiel. Er lädt Paukisten in den Konzertsaal ein und komponiert eine Sinfonie, in der erstmals die Pauke erscheint. Und da merkt er, welches Potenzial da drinsteckt. Das besondere Hörerlebnis, das man in einer Schuhschachtel hat – wie es Haydns Saal in Eisenstadt war und ist – zeigt sich, wenn man Kontrabässe und Pauken spielen lässt. Man stelle sich folgende Situation vor: Man sitzt in einem solchen quaderförmigen, lang, schmal und hoch proportionierten Saal, vorne spielen leise Töne – eine Flöte, eine Geige. Schliesst man die Augen, kann man den Standort sowohl der Geige als auch der Flöte fast exakt bestimmen. Diese Lokalisation gelingt selbst in einem halligen Raum wie in Eisenstadt ziemlich gut. Nun steigert das Orchester Dynamik und Lautstärke, es kommen weitere Instrumente hinzu, bis auch die Kontrabässe und schliesslich die Pauken einsetzen. Diese Dynamisierung und Steigerung wird ein Kernelement von Haydns Musik bis zur 105. Symphonie bleiben. Und das ist das hörbare Phänomen: Die Musik beginnt einen zu umhüllen, man ist im klanglichen Geschehen drin, die Musik wird physisch, wird plastisch-räumlich, bevor sich dann der Klangraum wieder zum lokalisierbaren Klangbild durch Abnahme des Schalldruckes verflacht. Die überaus reizvollen Raumklangeffekte seiner Musik sind mit der architektonisch-raumakustischen Aufführungssituationen des ‹Haydn-Saals› verbunden. Im Freien etwa funktioniert das nicht, egal wie viele Pauken man aufstellt, weil es ein durch Schallreflexionen erzeugter akustischer Raumeindruck ist, der die klangästhetisch reizvollen Kompositionen erst zur Geltung bringt.

TEC21: Haydns Musik scheint kaum unter diesem Aspekt beleuchtet worden zu sein?

J.S.: Der Fall Haydn ist tatsächlich in der historisch orientierten Musikwissenschaft unter diesem Aspekt kaum beachtet worden, noch erscheint er in der Theorie und Geschichte der Konzertsaalakustik besonders prominent. Eine Ausnahme bildet die wegweisende Studie von Jürgen Meyer[9] über Haydns Konzertsäle; ein Text, der leider auch unter aufführenden Musikern kaum bekannt ist – die sich überhaupt erstaunlich wenig um die Optimierung eines Klangbildes für ihr Publikum in bestimmten Räumen kümmern.

TEC21: Woher rührt das?

J.S.: Wesentlichen Anteil daran hat die Kunsttheorie in der Nachfolge von Gotthold Ephraim Lessings ‹Laokoon› und dessen Gliederung der Künste in Raumkünste (Malerei, Plastik, Architektur) und Zeitkünste (Literatur, also Rede, Drama und die Musik). Eine Unterscheidung, die wir heute noch oft und unbedacht benutzen. Damit gehören Architektur und Musik grundsätzlich getrennten Kunstsphären an.

TEC21: Wie würden Sie denn Karlheinz Stockhausens Experimente – z.B. der ‹Gesang der Jünglinge› 1955/56 oder 1968 die Performance ‹Musik für ein Haus› – mit der Klangbewegung im Raum qualifizieren, oder Bernhard Leitners Klanginstallation ‹Ton-Raum› 1986 an der TU München, die darauf abzielten, die Architektur zu einer Zeitkunst zu machen, indem der Raum nur solange existierte, als die Musik erklang?

J.S.: Diese Reihe können wir um die Cori Spezzati (Gabrieli in Venedig) und den Philips Pavilion von Le Corbusier/Xenakis erweitern: Das sind Initiativen einer räumlich vorgestellten Musik, die durch frei konstruktiv zusammengestellte Lautsprecherorchester – Stichwort: Akusmatik[10] – bzw. getrennt aufgestellte Chöre oder Instrumentengruppen Raumeindruck zu vermitteln suchen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass primär Lokalisations- und Bewegungserlebnisse von Schallquellen dargeboten werden. Die dezidiert gestaltete Interaktion von Schallquelle, Raumakustik und Komposition, wie sie etwa Haydn vorgenommen hat, findet sich nicht. Im Gegenteil: Gerade der Philips Pavillon zeugt in seiner Konzeption von harmonikalen Vorstellungen, die Architektur und Musik noch einmal über Geometrie und Arithmetik in Verbindung bringt (Abb. 3, 4, 5). An diesem ästhetisch retardierenden Moment ändern die Integration von aperiodischen Geräuschen und die neuartige zeichnerische Notation von Musik nichts. Die Architektur vor diesem Hintergrund als Zeitkunst vorzustellen oder umgekehrt die Musik als Raumkunst zu apostrophieren, scheint mir lediglich die ästhetisch nicht haltbare lessingsche Unterscheidung von Raum- und Zeitkünsten zu perpetuieren. Demgegenüber versuche ich einen Beitrag zu leisten, dass Akustik über den für die Architektur zentralen Begriff des Raums in den Entwurfsprozess integriert wird, und so als akustische Gestaltung erscheint. Architektur ist eben nicht nur eine Raumherstellungstechnik, sondern eine Raumgestaltungskunst. Und wenn man beides für die Architektur in Anspruch nimmt, so finden wir auf der einen Seite technische Raumakustik, die es erlaubt, akustische Aspekte zu parametrieren und in Simulationen zu testen. Da sind wir hervorragend ausgerüstet mit Theoriebildung, Materialkunde, Designtools etc.; von der Beschallung einer Kirche bis zur raumakustischen Gestaltung einer Toilette. Aber das ist nicht der kritische Punkt. Der liegt darin, dass manche Architekten den sinnesmodalen Implikationsreichtum des Raumbegriffes – hier die Wahrnehmung von Raum durch räumliches, auf zwei Ohren basierendenes Hören – nicht zur Kenntnis nehmen und diesen primär als visuelles Phänomen verstehen. Hier versuche ich in meinen Forschungen weiter zu gehen, denn mich interessiert einerseits die Physik, die Akustik und ihre Anwendung in der Raum- und Elektroakustik, anderseits die Wahrnehmung. Und mit der Wahrnehmung verbunden alles, was mit Muster, mit Sprache, mit Kultur zu tun hat – die Natur-Kultur-Verbindung, die bei jeder Wahrnehmung stattfindet. Diese ist komplex, dicht, evolutionär unabgeschlossen, und solange wir eine humane Kultur haben, unabschliessbar – und, in vielen Künsten und ihrer Technik, wenig untersucht.


Anmerkungen:
[01] «Im Mörtel des Bösendorfer Saales wohnen die Töne der grossen Komponisten. Das Material […] wurde mit den Klängen unserer Philharmoniker […] imprägniert.» Vgl. Adolf Loos, Das Mysterium der Akustik, Wien, 1912; in: ders., Trotzdem 1900 – 1930. Die Schriften von Adolf Loos, Bd. 2, Innsbruck, 1931, S. 125ff.
[02] Platon, Timaios, um 360 v. Chr. Die titelgebende Figur tritt als Referent über die Erschaffung des Kosmos auf, dessen Entstehung auf dem vernünftigen Wirken eines Schöpfergottes basiert. Dieser hat den chaotischen Charakter der Ur-Materie in eine geordnete Komposition verwandelt.
[03] «[…] im 16ten Jahrhundert […], war der Papst nahe daran, die Musik durch ein förmliches Breve ganz aus der Kirche zu verbannen, wenn Palestrina sie nicht noch gerettet hätte.» Vgl. Allgemeine musikalische Zeitung, Bd. 4, Nov. 1801, Leipzig, S. 115. Giovanni Pierluigi da Palestrina (1510eroder 1520er-Jahre bis 1594) wurde Anfang des 17. Jhs. als Retter der Kirchenmusik betitelt, weil er mit der seinem Gönner Papst Marcellus II. gewidmeten Missa Papae Marcelli die Verbannung der Musik aus der Kirche verhindert hat, die auf dem Tridentiner Konzil 1562 / 1563 drohte. In der Kritik war die nach Meinung der Kurie der Textverständlichkeit abträgliche Polyphonie. Palestrina gelang es, die Vielstimmigkeit so zu gestalten, dass sie textverständlich blieb. Relativiert wird der singuläre Charakter von Palestrinas Komposition und mithin der Einfluss auf das Konzil, in: Horst Robert Balz, Theologische Realenzyklopädie, Band 25, Walter de Gruyter, Berlin, 1995, S. 600 f.
[04] Das göttliche Monochord, 1617.
[05] Der deutsche Jesuit Athanasius Kircher (1602 – 1680) verbrachte den grössten Teil seines Lebens als Universalgelehrter am Collegium Romanum in Rom. Er befasste sich – nicht zuletzt im Dienste der Gegenreformation – mit zahlreichen Wissenschaftsgebieten, u. a. Ägyptologie, Geologie, Medizin, Mathematik und Musiktheorie.
[06] Musurgia universalis, sive ars magna consoni et dissoni, 1650. Phonurgia nova, sive conjugium mechanico-physicum artis & natvrae paranympha phonosophia concinnatum, 1673.
[07] Der österreichische Komponist Joseph Haydn (1732 – 1809) war von 1760 – 1790 Hofmusiker der ungarischen Fürsten Esterházy am Familien- sitz in Eisenstadt, im Winterpalast in Wien und auf Schloss Eszterháza.
[08] Die Sinfonie No. 38 hat den Zunamen Echosinfonie; das kammermusikalische Divertimento in Es-Dur («Echo»; Hob II : 39) von 1761 «für zweimal 2 Violinen und Bass, in verschiedenen Zimmern aufgestellt».
[09] Jürgen Meyer, Raumakustik und Orchesterklang in den Konzertsälen Joseph Haydns, in: Acustica 14, 1978, S. 145 – 162.
[10] Akusmatik (griech. Akousma «auditive Wahrnehmung ») bezeichnet Klangerereignisse, deren Quelle nicht sichtbar ist. Der Begriff geht auf die Überlieferung zurück, wonach Pythagoras neue Schüler hinter einen Vorhang verbannte. Im Gegensatz zu den «Abitués» fehlte ihnen das Visuelle von erklärenden Gesten. Sie mussten sich den Stoff allein durch intensives Hören erschliessen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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