Zeitschrift

TEC21 2012|20
Reflexion und Stimmung
TEC21 2012|20
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Singen und hören im Zwischenraum

Chorklang in einem Kirchenraum zur Entfaltung zu bringen, ist eine Herausforderung für jeden Chorleiter. Dabei spielen musikalisch-akustische und architektonische Elemente eine Rolle. Die Raumakustik wird durch das Zusammenwirken verschiedener Raumgeometrien (z.B. Apsis und Vierung) bestimmt: Es geht darum, die klanglich optimalen Zwischenräume zu finden. Worauf dabei in der Aufführungspraxis zu achten ist, beschreibt ein erfahrener Chorleiter für vier bedeutende Kirchen im Raum Zürich.

11. Mai 2012 - Peter Appenzeller
Könnte man sich als Zwerg in einer Geige, einem Cello oder einem Kontrabass, die gerade gespielt werden, spazierend da- und dorthin bewegen, unter dem Steg, um den Stimmstock herum oder aus den F-Löchern heraushören und -schauen, würde man etliche Orte des edelsten Klanges in so einem Instrument entdecken. Genauso soll sich ein Chordirigent in der Vorprobe wandernd den jeweiligen Kirchenraum «erobern» und hören, welche Möglichkeiten der Raum für die Klangentfaltung birgt (vgl. Kasten). In Bauten jüngeren Datums ist die ideale Chorposition wegen der teilweise irregulären und verwinkelten Grundrisse und der «kühl» und «trocken» klingenden Materialien oft schwer zu bestimmen. Aufschlussreich für einen Chor zur Prüfung des Klangraumes sind die auf Guido von Arezzo[1] (um 1000) zurückgehenden Tonsilben «ut (do)-re-mi-fa-sol-la-si». Der in der Ausatmung entstehende Vokal wird vom Konsonanten geführt in den Raum gesungen. Interessant ist das Klang-Erlebnis der Raumdimensionen in den ersten drei Tonsilben: «ut» wirkt in die Länge, «re» in die Breite und «mi» in die Höhe. Die Tonsilbe «fa» klingt dann umfassend und «sol-la-si» beleben den neu erfahrenen Raum. Dabei ist zu beachten, dass erst das Nachhören der jeweiligen Klangsilbe in der Resonanz die vollständige Wirkung ermöglicht.[2]

Die Suche nach dem idealen Klangraum

Bei einem Klangraum für ein A-cappella-Chorkonzert entspricht die Höhe idealerweise der Breite. Ist der Raum höher, darf mit einem längeren Nachhall gerechnet werden, was den Chorklang meistens veredelt. Was in den einzelnen Chorstimmen klanglich noch ungehobelt wirkt, kann in Räumen mit mehr Nachhall ausgeglichener, harmonischer werden. Dabei geht es darum, Chöre für solche Akustik gehörsmässig und klanglich besonders zu schulen. Im klassischen Kirchenraum befindet sich der richtige Standort für einen Chor meist zwischen Chorraum und Hauptschiff, unter dem Chorbogen (wo sich meist noch Treppenstufen befinden) am Rande der Vierung und in diese hineinragend. Ein Begleitorchester wird in der Vierung platziert. Der Chorbogen bildet eine klare akustische Grenze. Wird der Chor dahinter aufgestellt, im Chorraum (Apsis), klingt der Gesang mehr von ferne. Zu beachten sind, vornehmlich in barocken Kirchen, die bildhauerischen Gipsverzierungen (Putten, Blumenornamente usw.). Diese sind für die lebendige, versprühende Klangentfaltung im Kirchenraum wesentlich. Bei Orgeln ist es der Prospekt, der nicht nur eine optische Wirkung, sondern auch klangverteilende und -veredelnde Funktionen hat – und insbesondere die Schleierbretter, die die Leerräume zwischen Pfeifen und Gehäuse ausfüllen.

Klosterkirche Kappel am Albis

Der hohe Kirchenraum ermöglicht eine schöne Klangentfaltung und lange andauernden Nachhall (Abb. 1). Der Chor steht mit Vorteil vorne in der Mitte der Apsis und singt mit sparsamer Stimmgebung möglichst in die Weite. Der starke Nachhall wird sich verlangsamend auf die Tempi auswirken und zwischendurch längere Pausen des Nachhörens erfordern. Steht der Chor zwischen dem Chorgestühl, wird der Klang etwas abgedämpft. Eine sehr schöne Wirkung hat auch der von hinten nach vorne gesungene Chorklang. Von hinten könnte beispielsweise eine «Engel»-Stimme singen, die dem vorne singenden Chor gegenübersteht. Für die Aufführung in der Klosterkirche Kappel am Albis sind besonders Chorwerke a cappella aus Gregorianik, Renaissance und Barock, Buxtehude- und Bach-Kantaten geeignet. Die ideale Chorgrösse beträgt 4 bis 20 Personen.

Fraumünster Zürich

Das Bedeutsame an diesem 874 eingeweihten Kirchenbau sind die idealen Grundmasse. Später hinzugefügte Teile wie der breit angelegte, bis auf die halbe Höhe der Seitenschiffe reichende Lettner, der Schiff und Chorraum trennt (Abb. 2), veränderten die akustischen Verhältnisse. Dadurch wurde die ohnehin schon vorhandene Klangdifferenz von hinten (Apsis) und vorne noch verstärkt.[4] Einen Chor in diesem abgetrennten Chorraum singen zu lassen, wirkt ganz besonders. Hier ist sparsame, aufs Hören ausgerichtete Klanggebung zu empfehlen. Für die Hörenden im Kirchenschiff entsteht dadurch eine Klangwirkung, als ob Mönche unsichtbar hinter einem Hochaltar herübersingen würden, was als wunderbarer Klangeffekt empfunden wird. Der Hauptchor steht idealerweise auf der Chortreppe unter und vor dem Lettner. Ein Fernchor kann hinter dem Lettner, weit hinten stehend, eingesetzt werden. Solo-Stimmen können auch auf dem Lettner stehend vorteilhaft singen. Besonders geeignete Chorwerke für die Aufführung im Chorraum (hinter dem Lettner) sind Chorwerke a cappella aus Gregorianik, Renaissance und Barock (Palestrina, Praetorius, Schütz). Als ideale Chorgrösse gelten 4 bis 20 Personen. Für die Aufführung vor dem Lettner eignen sich barocke und klassische Oratorien und Messen mit Orchester (z.B. Händels Messiah, Haydns Schöpfung, Mozarts Requiem) mit Chören von bis 100 Personen.

Kirche zu Predigern in Zürich

In dieser Kirche, mit deren Bau 1231 begonnen wurde, stehen ausgeprägter Nachhall und einige akustische Feinheiten als Gestaltungsmittel zur Verfügung. Der Chor wird vorzugsweise vorne aufgestellt, ca. zwei bis drei Meter vor der Mauer, mit welcher der grosszügige Chorraum im Jahre 1524 vollständig abgekoppelt wurde (Abb. 3). Wäre dieser Chorraum noch vorhanden, wäre der Klang wohl etwas abgeschwächt in seiner Wirkung, innerlich jedoch gehaltvoller erlebbar, weil der hintere Chorraum in der Klanggestaltung immer eine akustische Wirkung hat. Trotzdem ist diese Kirche auch im aktuellen Zustand für ihre Klangfülle und deren unvergleichlicher Wirkung für Chor a cappella bekannt. Besonders geeignete Chorwerke für die Aufführung in der Predigerkirche sind Motetten und Madrigale der Barockzeit (z.B. Monteverdi, Schütz, Bach), Bach-Kantaten und Bach-Passionen.

Wasserkirche in Zürich

Diese auf das 13. Jahrhundert zurückzuführende Kirche ist ursprünglich im romanischen Stil ohne Abtrennung des Chorraumes (Apsis) erbaut worden, was für die Akustik des Raumes vorteilhaft ist. Das Halbrund des Chorbogens gibt die ideale Choraufstellung vor: Der Chor wird am besten mit mindestens zwei Metern Abstand zur Rückwand aufgestellt. Dadurch erhält der Klang, der von hinten ansetzt, mehr Raum. Die Kirche weist ideale Proportionen auf, was auch dem vollbesetzten Schiff immer noch eine füllige Klangwelt sichert (Abb. 4). In der Wasserkirche kommen Werke für Chor a cappella, auch modernere Chormusik (z.B. Willy Burkhard, Hugo Distler) am besten zur Geltung. Der ideale Chor umfasst 4 bis 20 Personen.

Wohltuende Akustik auch in Zukunft

In den hier beschriebenen Kirchen und in vielen anderen von Musik durchklungenen Sakralbauten erleben die Menschen Raum und Zeit anders als im alltäglichen Umfeld. Für die zeitgenössische Architektur ist es eine grosse Herausforderung, die Geheimnisse dieser bewährten Bauwerke und Formen zu studieren und für die akustische Gestaltung von neuen Räumen für lebendiges Musizieren und erfüllendes Hören im Zwischenraum zu nutzen.


Anmerkungen:
[01] Guido von Arezzo, 992 – 1050, Benediktinermönch, Musiktheoretiker und Lehrer. Führte u. a. die heute gebräuchliche Notation auf vier Linien und das diatonische Notensystem ein.
[02] Dieses Erlebnis entspricht dem vielseitigen, bildhaft klar verständlichen Zeichen der Fermate ( ), die in der Musikgeschichte mannigfaltig eingesetzt wurde (etwa in Bach-Chorälen jeweils am Ende einer Verszeile, in Mozarts Zauberflöte zwischen den immer wieder auftauchenden drei Akkorden, oder bei Beethovens Egmont-Ouvertüre als Generalpause durchs ganze Orchester). In Italien heisst dieses Zeichen «corona», was dem Stehen in einem klingenden Kuppelraum mehr entspricht. Dieses Hören im Fermaten-Zwischenraum ermöglicht eine neue, kreative Erfahrung und zugleich eine Standortbestimmung im «Jetzt» zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der gregorianische Gesang, wie er heute noch in Klöstern praktiziert wird (beispielsweise Einsiedeln), ermöglicht schöne Nachhall-Erlebnisse. Der hörende Mensch atmet gleichsam mit dem Gesangsstrom aus und im Nachhall atmet er hörend ein. Dies wirkt wohltuend und kann ein meditatives, religiöses Gefühl vermitteln, wie die aktuelle Nachfrage nach CD-Aufnahmen von Mönchsgesängen zeigt.
[03] Kaspar Appenzeller: Die Quadratur des Zirkels. Zbinden Verlag, Basel, 1979.
[04] Im Fraumünster durfte der Schreibende während zwanzig Jahren im Rahmen von Konzerten die Weihnachtsgeschichte vorlesen. Das war bei voll besetzter Kirche ohne Verstärkung gut möglich; in der leeren Kirche war wegen des Nachhalls trotz stärkerer Stimme die Verständlichkeit erschwert. So ist es erklärbar, dass heute Verstärkeranlagen in Sakralbauten eingerichtet werden, da bekanntlich die Kirchgänger fehlen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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