Zeitschrift

TEC21 2012|21
Die Rennbahn retten
TEC21 2012|21
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Geschichte und Zukunft der Rennbahn Oerlikon

Um einen Sommerabend auf der offenen Rennbahn Oerlikon zu geniessen, muss man nicht Radsportfan sein. Das imposante Betonoval ist ein einmaliger architektonischer Raum und bietet ein ästhetisches Erlebnis. Diesen Sommer feiert die Rennbahn ihr 100-jähriges Bestehen. Namhafte Fachleute sehen in dem Bau ein Denkmal der Ingenieurbaukunst, der Sozial-, der Sport- und der Stadtgeschichte. Er hätte ein grosses soziales und symbolisches Potenzial. Doch er ist bedroht. Die Stadt Zürich als Besitzerin betrachtet das Areal bisher vor allem als Baulandreserve.

18. Mai 2012 - Ruedi Weidmann
Die 1912 erbaute offene Rennbahn Oerlikon ist nach der Skeletonbahn (1885) und der Bobbahn (1904) in St. Moritz die älteste Sportanlage der Schweiz. Sie war eine der ersten Radrennbahnen aus Stahlbeton und gehört zu den frühen Beispielen unverkleideter Betonbauten. Die von aussen heute unscheinbare Anlage besteht aus einer 333.33 m langen und 9 m breiten Bahn aus Beton mit Steilwandkurven von bis zu 93% Neigung sowie Fahrerkabinen und Zuschauertribünen aus verschiedenen Bauphasen. Diese boten einst 11500 Zuschauern Platz, heute noch etwa 3000.[1] Bei trockenem Wetter trainieren von Mai bis September täglich Profis, Amateure und der Nachwuchs auf der Bahn, und jeden Dienstagabend finden Rennen statt. Bei den Fahrerinnen und Fahrern sind sie beliebt, auch amtierende Weltmeister und ausländische Profis nehmen teil.

Herzblut, Bier und Beton

Seit die Interessengemeinschaft Offene Rennbahn (Igor), ein Verein von Radsportfreunden, die Rennbahn unentgeltlich mit viel Herzblut betreibt, ist der Publikumsaufmarsch an den Dienstagabendrennen wieder grösser geworden – auch wenn er nicht an die Blütezeit der Bahnrennen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Sechstagerennen in der Nachkriegszeit anknüpfen kann. Ein Abendrennen in Oerlikon (vgl. Kasten S. 18) ist ein eher meditatives Sportereignis: Angenehm füllt das Sirren der vorbeiziehenden Rennvelos die Gesprächspausen, die entstehen, wenn die Besucher auf den sonnenwarmen Betonstufen in ihre Bratwurst beissen oder ihren Schnauz ins Bier tauchen. Das Publikum ist eine Mischung aus Vorstadtgewerblern, szenigen Kulturschaffenden, alten Arbeitern, jungen Familien und Sporttreibenden, die friedlich einen Sommerabend geniessen. Im Betonoval, einem eigentümlichen, weiten, aber geschlossenen architektonischen Raum, löst das Flutlicht langsam die Abendsonne ab, während die Fahrer auf ihren Ehrenrunden zur immer gleichen Marschmusik aus den scherbelnden Lautsprechern ihr Siegerbouquet schwenken, das vom immer gleichen Blumenladen gespendet wird – kurz: Es ist ein Stück Heimat.

Letzte offene Rennbahn der Schweiz

Die Rennbahn Oerlikon hat aber auch grosse sportliche Bedeutung. Sie war und ist eine Talentschmiede. Elf Weltmeister hat sie hervorgebracht, darunter Hugo Koblet, Ferdy Kübler, Urs Freuler, Bruno Risi und den im benachbarten Seebach aufgewachsenen amtierenden Weltmeister Franco Marvulli. Acht Weltmeisterschaften fanden hier statt – mehr kann nur Paris verzeichnen. Doch dessen legendäres Vélodrome d’Hiver wurde, wie viele andere Radrennbahnen, abgebrochen. Hierzulande sind in den letzten Jahren zwei legendäre Bahnen verschwunden: 2001 die Holzbahn im Zürcher Hallenstadion und 2011 das offene Vélodrome in Lausanne (vgl. Kasten S. 14). Damit existieren in der Schweiz neben der offenen Rennbahn Oerlikon noch zwei Hallenbahnen: das von September bis Mai geöffnete «Vél d’hiv» im Sportzentrum Queue d’Arve in Genf mit einer 166.66 m langen Holzbahn und die 200-m-Holzbahn des Centre Mondial[2] in Aigle VS. Die Rennbahn Oerlikon ist die einzige, auf der regelmässig Rennen stattfinden, und die einzige, die meisterschaftstauglich ist und die sich für Steherrennen eignet. Bei dieser traditionellen, spektakulären Disziplin fahren die Fahrer im Windschatten schwerer Motorräder mit Tempi von bis zu 100km/h. Die Bahnen sind für den Radsport wichtig. Sie dienen dem Training und dem Aufbau des Nachwuchses auf Bahn und Strasse. Deshalb figuriert die Rennbahn Oerlikon im Bundesinventar der Sportanlagen von nationaler Bedeutung. Anfang 2013 soll in Grenchen das Vélodrome Suisse eröffnet werden. Das neue Radsport-Leistungszentrum mit einer gedeckten 250-m-Holzbahn wird aber laut dem Radsportverband Swiss Cycling die Rennbahn Oerlikon nicht ersetzen können. Auch mit Grenchen werde es noch zu wenig Radbahnen geben, vor allem in der Ost- und Zentralschweiz.

Erfolge, Krisen und bedrohte Existenz

Die Rennbahn Oerlikon entstand als Ersatz für die 1892 erstellte Radrennbahn in der Zürcher Hardau. Lokale Promotoren gründeten die Sportplatzgesellschaft Oerlikon und fanden nordöstlich des Zürcher Industrievororts einen Bauplatz, wo in fünf Monaten der pionierhafte Stahlbetonbau errichtet wurde (vgl. S. 19 und S. 23). Am 25. August 1912 fand das Eröffnungsrennen statt. Die neue Rennbahn stand vorerst ganz allein im Riedland. Ihre Projektierung löste das Quartierplanverfahren aus, und sie wurde zum Kernbau des Sport- und Messequartiers, das sich in der Folge entlang der Wallisellenstrasse entwickelte. Neben den Maschinen- und Waffenfabriken war sie es, die in den folgenden Jahrzehnten den Namen Oerlikon auf der ganzen Welt bekannt machte. Nach einer Durststrecke im Ersten Weltkrieg liessen in den 1920er-Jahren jedes Wochenende 10000 bis 15000 Zuschauer die Kassen klingeln, die Besitzerin konnte eine Dividende von 10% auszahlen.

Später schwankte der kommerzielle Erfolg. Wechselnde Besitzer versuchten ihr Glück, darunter Grundstückshändler, die am Bauland interessiert waren. Im Zweiten Weltkrieg drohte zum ersten Mal der Abbruch der Bahn. 1951 kaufte sie die Stadt Zürich – als strategische Baulandreserve. Seither folgen sich die Ideen für eine Überbauung, für eine Erweiterung der Züspa-Messehallen oder 1971 im Zusammenhang mit Plänen für olympische Winterspiele und den Bau einer U-Bahn. 1970 schrieb die Stadt einen Ideenwettbewerb für ein Kongresszentrum auf dem Areal aus. «Dieses ist zwar heute noch durch die offene Rennbahn an empfindlichster Stelle blockiert, doch kann der Abbruch dieser Anlage als sicher angenommen werden», hiess es in der Auslobung.[3] Es gab auch Ideen für ein Parkhaus und ein Hallenbad, in jüngster Zeit für ein Eishockeystadion. Konkret wurde es nie. Das städtische Stimmvolk hat mehrfach Projekte abgelehnt und so dem Fortbestand der Bahn den Vorzug gegeben.

Die Stadtregierung hingegen tat sich schwer damit. Nur wenige Stadtratsmitglieder bekundeten Sympathie für diesen Ort – Sozialdemokraten waren merkwürdigerweise nie darunter, obwohl doch Radfahren ein Arbeitersport, die Rennbahn ein Arbeitertreffpunkt und das 1934 eingemeindete Zürich Nord damals ein linkes Wählerreservoir war. Die Hallenstadion AG sorgte nun für den Betrieb der Bahn. Die der Witterung ausgesetzte Betonkonstruktion wurde mehrfach instand gesetzt. Am potenziellen Abbruchobjekt wurde aber jeweils nur das Nötigste gemacht, der historische Wert des Baus wurde dabei nicht berücksichtigt.

Ab 1971 betrieb eine Gruppe von freiwilligen Enthusiasten um den ehemaligen Radprofi Hans Maag die Rennbahn. Ihr Erfolg brachte die Stadt dazu, die Fahrbahn zu erneuern (vgl. S. 19). 1986 nahm die Stadt die Rennbahn in ihr Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte von kommunaler Bedeutung auf, als «hervorragendes Beispiel eines frühen Betonbaus» und «wichtigen Zeugen zürcherischer Sportarchitektur», der «zum internationalen Ruf Oerlikons beitrug»[4]. Doch 1990 entliess sie sie wieder daraus mit der Begründung, wichtige Bauteile seien irreparabel und abbruchreif, und ohne diese sei der Bau nicht mehr schutzwürdig.[5] Die Stadt liess darauf (als einzigen Teil) die Südkurventribüne entfernen. Laut Martina Vogel, Sprecherin des Hochbaudepartements, ist die Haltung der Stadt noch immer dieselbe: Das Engagement der Igor ist willkommen – ihr Vertrag soll bis 2014 verlängert werden –, aber die Stadt will keine grösseren Investitionen in die Bahn mehr tätigen.[6] Bei der letzten Zonenplanrevision wurde das 20000 m² grosse Areal der fünfgeschossigen Wohnzone W5 (kein Wohnanteil) zugeteilt. Deshalb wird sein Wert heute auf rund 50 Mio. Fr. geschätzt.[7] Das Sportamt bezahlt der Eigentümerin der offenen Rennbahn, der städtischen Immobilien-Bewirtschaftung (Immo), eine Jahresmiete von 140000 Fr. Die Igor als Untermieterin zahlt dem Sportamt eine Miete von 30000 Fr. pro Saison. Bei der Immo fallen zudem jährliche Unterhaltskosten von 50000 bis 100000 Fr. an. Dieser selbst gemachte Verwertungsdruck könnte mit einer Rückzonung in die Freihaltezone Typ C, in der die übrigen Zürcher Sportanlagen liegen, rückgängig gemacht werden. Damit wäre die Zukunft der Rennbahn als Sportanlage gesichert, ihr Betrieb und Unterhalt wieder planbar.

Kultpotenzial

Die Rennbahn Oerlikon liegt zwar dank der Igor nicht im Dornröschenschlaf, aber ihr Potenzial wird heute nicht annähernd genutzt. Das Bauwerk hat, denkmalgerecht restauriert, Kultpotenzial. Die Anlage würde sich für eine intensivere breitensportliche Nutzung eignen. In Zürich fehlen Einrichtungen für Radsportarten, die nicht auf der Strasse betrieben werden können – neben den Bahndisziplinen sind das Parcours für Velotrial, Pumptracks für Mountainbikes, Radballfelder usw. – sowie Inlinebahnen für Skatingdisziplinen. Sie könnten hier gut Platz finden.

Als Ort mit einer starken Identität im Zentrum eines dynamischen Stadtteils bietet sich die Rennbahn Oerlikon aber auch für Nutzungen im Bereich Soziokultur an. Schon jetzt ist ihre soziale Bedeutung als Treffpunkt gross. Die Funktion als Sport- und Quartierzentrum liesse sich aber intensivieren – warum nicht im thematischen Zusammenhang mit dem Velofahren? Die Stadt Zürich wird früher oder später eine breite Kampagne zur Förderung des Veloverkehrs lancieren müssen, denn dessen Anteil am Stadtzürcher Gesamtverkehr ist im Vergleich zu anderen Schweizer Städten viel zu tief. Die frisch renovierte Rennbahn würde einen praktisch wie symbolisch hervorragenden Ort für Kurse und Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene abgeben. Die kulinarische Dienstleistung des heutigen «Rennbahnstüblis» mit seiner Gartenwirtschaft könnte so ebenfalls auf die ganze Woche ausgedehnt werden.

Bauliche Verdichtung möglich

Auch wenn das historische Bauwerk erhalten bleibt, ist eine dichtere Bebauung des Areals möglich. 1912 beschrieb der Oerliker Gemeindeingenieur Johann M. Scheifele in dieser Zeitschrift die Planung und den Bau der Rennbahn. Er hatte dafür den Quartierplan entworfen und den Verlauf der Strassen bestimmt, die erst viel später gebaut wurden. Weitsichtig hat er dabei «die Disposition so gewählt, dass beim seinerzeitigen Ausbau des Bebauungsplanes, die Sportplatzanlage längs der Verkehrsstrassen durch Häusergruppen zugebaut werden kann, sodass die nicht zu vermeidende, unschöne Form der Rennbahnkonstruktion verdeckt wird[8].»Dieses Angebot ist bis heute nicht genutzt worden. Eine Nutzungsstudie und allenfalls ein Ideenwettbewerb könnten einen Nutzungsmix suchen und eine geeignete bauliche Verdichtung vorschlagen, die den Radsport nicht einschränken, der Quartier- und Stadtbevölkerung dienen und sich mit einem denkmalgerechten Erhalt des Baus vertragen. Die Stadt Zürich, die bereits zu viele Zeugen ihrer industriellen Vergangenheit geopfert hat, käme so zu einem weitherum einmaligen, mit Geschichte aufgeladenen Ort. Ingenieur Scheifele schloss seinen Artikel 1912 mit einem Wunsch, der offensichtlich 100 Jahre lang gewirkt hat und hiermit an gleicher Stelle erneuert sei: «Möge ein guter Stern über dem Betrieb der Sportplatzanlage walten, damit auch diejenigen, die grosse finanzielle und geistige Opfer nicht gescheut haben, die wohlverdiente Anerkennung finden.»[9]


Anmerkungen:
[01] Die Angaben zur Geschichte des Bahnsports stammen, wo nicht anders angegeben, aus: Rennbahn Oerlikon, Zürich 2012
[02] TEC21 40/2003, S. 6–12
[03] «Überbauung Wallisellenstrasse in Zürich-Oerlikon» in: Schweiz. Bauzeitung 33/1970, S. 751
[04] Stadtratsprotokoll 24.1.1990, Geschäft Nr. 29
[05] ebd.
[06] Vgl. auch Sportstättenstrategie der Stadt Zürich, Strategiebericht zum Sportstättenbau der Jahre 2010 bis 2014, Stadtratsbeschluss vom 30.9.3009
[07] Angaben zu den Finanzen von Patrick Pons, Sprecher des Schul- und Sportdepartements
[08] M. Scheifele: «Die Radrennbahn von Zürich-Oerlikon» in: Schweiz. Bauzeitung 1912, 2. Bd., S. 305.
[09] ebd., S. 336

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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