Zeitschrift

TEC21 2012|42-43
13. Architekturbiennale
TEC21 2012|42-43
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Un-common Venice

«Quante Venezia conosce?» (Wie viele Venedig kennen Sie?) Die Frage wird einem am Kiosk gestellt, den Case Studio VOGT an der 13. Architekturbiennale in Venedig bespielt. Darauf gibt es nur eine Antwort: «Una e migliaia» (Eines und tausende). Der Titel des Beitrags des Landschaftsarchitekten Günther Vogt, «Un-common Venice», ist mehr als ein Wortspiel mit dem von David Chipperfield lancierten Motto der diesjährigen Ausgabe, «Common Ground». Er fängt mit den Studierenden des Lehrstuhls Landschaftsarchitektur der ETH Zürich und dem Case Studio VOGT das «Gemeine» ein und fördert das Ungewöhnliche zutage.

12. Oktober 2012 - Rahel Hartmann Schweizer
«Inside-Outside» heisst das Büro von Petra Blaisse, die die Ausstellung im niederländischen Pavillon gestaltet hat. Kongenial würde dieser Name indes auf den Beitrag passen, den der Landschaftsarchitekt Günther Vogt am Stuhl für Landschaftsarchitektur der ETH Zürich und dem Case Studio VOGT zusammen mit Studierenden der IUAV Venedig erarbeitet hat. Die Installation besteht aus zwei Teilen: einem introvertierten, der den Auftakt der Schau im ­Arsenale bildet, und einem extrovertierten, der eine neuralgische Stelle zwischen den beiden Austragungsorten der Biennale besetzt: die «Landzunge» an der Riva dei Sette Martiri – an welcher der Strom der Biennalebesucher sich mit demjenigen der Touristen vermengt, die aus den Kreuzfahrtschiffen geschwemmt werden, und sich in die Via Garibaldi ergiesst, das feste Terrain der Einheimischen.

«Leuchtturm» ist an beiden Orten ein Kiosk – draussen das zierliche, überkuppelte Oktogon mit dem verblassenden türkisfarbenen Anstrich, der an Patina erinnert (Abb. 1), drinnen, in den Corderie des Arsenale, dessen kupferblechverkleidete Nachbildung (Abb. 2). Original und Mock-up, Patina und Pasticcio, aussen und innen: der Lesarten sind viele, vor allem aber ist es die Verknüpfung beider, ihre Komplementarität. Und so funktionieren sie auch: Die Zeitung, Postkarten und ein Glas Wasser gibt es drinnen, beim Umwandeln des Mock-up. Der Ort der Kommunikation, des Austauschs ist das Original: Hier beantwortet man Fragen, «erwirbt» einen Pass, eine Postkarte, ein Eau de Toilette, ein paar Kiesel als Souvenir.

Den Kiosk als Kommunikations- und Präsentationsplattform zu wählen lag auf der Hand. Kaum ein anderes Objekt ist derart stark im öffentlichen Raum der Stadt verankert wie der Kiosk. Und Vogt nimmt Venedig selbst zum Ausgangspunkt: Das Verständnis des öffentlichen Raums als Allmende («commons») und die Fokussierung auf die Nutzenden – von lokalen Bewohnerinnen und Bewohnern bis zu globalisierten Tagestouristinnen – öffnet einen ungewöhnlichen Blick auf die Lagunenstadt.

Common Ground in der Gated Community

Günther Vogt hat einen differenzierten Blick auf den öffentlichen Raum – und strenge Krite­rien an dessen Definition. Aus diesem Grund war es für ihn kein Thema, die Projekte Landesmuseum, Novartis Campus oder das olympische Dorf in London zu zeigen, an denen sein Büro beteiligt ist oder war. Das eine Gebiet – der Novartis Campus – entbehrt des öffent­lichen Charakters gänzlich und hat mehr mit einer Gated Community gemein. Das andere – der Landesmuseumspark – hat ihn nur eingeschränkt, da er zwischen 22 und 6 Uhr ­geschlossen ist. Das dritte – die Unterkünfte der Athleten in London – war nicht nur abgeriegelt, sondern ausserdem ständig von Videokameras überwacht.

Aus der nämlichen Argumentation heraus beschränkte Vogt die Intervention nicht auf das Biennalegelände. Denn wie auch immer man das Thema «Common Ground» anpackt, der ­Widerspruch bleibt: Das Ausstellungsgelände ist während der Schau gerade nicht öffentlich, sondern nur mit Eintrittskarte zugänglich, was wiederum einer Separierung ­zwischen Fachpublikum, Touristen und Einheimischen gleichkommt. «Wir reden über öffentlichen Raum, aber wir tun das innerhalb einer Gated Community.» Unmittelbar daran schliesst sich die ­Frage nach der Ökonomisierung des öffentlichen Raums an, der zunehmend mit temporären Installationen für eine unüberschaubare Zahl von Events überstellt wird.

Nolli-Plan als Referenz

Die Bandbreite der Interpretation des Begriffs «öffentlicher Raum» ist sichtlich enorm – sie reicht bis zu dem Punkt, an dem er sich ins Gegenteil verkehrt. Um seine Studierenden aber für dessen genuine Qualität zu sensibilisieren, lässt Vogt sie jeweils den Nolli-Plan (1748) aufzeichnen und lenkt das Augenmerk auf die Kirchen, die seinerzeit zum öffentlichen Raum gehörten. «Die armen Leute übernachteten dort» – heute sind sie nachts geschlossen.

Wenn die Einzigartigkeit des Nolli-Plans darin besteht, dass die öffentlichen Gebäude nicht als geschlossene Flächen eingetragen sind, sondern als Grundrisse, dass positiv und negativ eine Verbindung eingehen, Innenraum auch Aussenraum ist – dann machen Vogt und seine Studierenden das Analoge: Der Kiosk an der Riva dei Sette Martiri auf «offener Strasse» ist begehbar, das Pendant im Innenraum des Arsenale ist Attrappe.

Damit huldigt Case Studio VOGT dem Genius Loci: Die Strassen und Plätze Venedigs sind in einem vorbildlichen Mass Common Ground. Das Leben selbst spielt sich auf ihnen ab, Nutzungsoffenheit ist hier alltäglich. Das liegt sogar in der Etymologie. In Venedig heissen die Plätze – mit Ausnahme des Markusplatzes, der den Titel «piazza» trägt – «campo», was auf den Begriff für urbar gemachtes Land zurückgeht und den Platz dem Charakter der Allmende verwandt macht. Er ist Treffpunkt der Jugendlichen, Spielplatz der Kinder; Grossmütter ruhen sich hier aus, Väter unterstreichen gestikulierend die Bedeutung ihrer Worte. Hier ist es ein gutes Zeichen, wenn es noch einen Tabaccaio gibt, weil dann auch die Apotheke nicht weit ist und ein Gemüsehändler noch ein Auskommen findet: «Ha tutto: bar, tabaccaio, una farmacia, un supermercato – come un piccolo paese.»
Und die Kirchen? Zufluchtsstätten für die Armen sind sie nicht mehr, aber manche von ihnen dienen Kindern als Aufbewahrungsort ihrer Spielsachen. Und das Motiv blieb. Vogt lieb­äugelte nämlich ursprünglich damit, eine Litfasssäule einzusetzen – in Anlehnung an den Spielfilm «Der dritte Mann», wo eine solche den Zugang zur Unterwelt bildet, in die Kanalisation, Refugium und Schlafplatz der Obdachlosen.

Ressource Wasser

Bei der Ankunft in Venedig habe ihn die unglaubliche Anzahl der Kioske überwältigt, sagt Vogt, weshalb die Wahl auf einen solchen als Ausstellungsstand fiel.[1] Das geeignete, noch dazu verwaiste Exemplar fand sich an besagtem Ort: am Dreh- und Angelpunkt von Arsenale und Giardini, an der Kreuzung zwischen den Touristenströmen, den Kreisen der Einheimischen und den Trampelpfaden des Fachpublikums.

Bespielt werden durfte er aber nur mit der Auflage, nichts zu verkaufen. Das erwies sich letztlich als Glücksfall insofern, als es an eine ursprüngliche Funktion des Kiosks anknüpft: Im Osmanischen Reich war der als «Sebil» bezeichnete Pavillon der Ort, wo Wasser aus­geschenkt wurde. Die Wohlhabenden hatten die Pflicht, den Armen sauberes Trinkwasser zu spenden. Vogts «Pavillon» thematisiert denn auch Wasser als Ressource, das er als
«Element ohne Eigenschaften» bezeichnet, «farblos, geruchlos, formlos und – endlos?».

Um den Bezug zum Wasser hervorzuheben, gab es in einer frühen Phase denn auch die Idee, den Kiosk auf einem Boot zu platzieren (Abb. 3), das über den Canal Grande gefahren wäre – eine Referenz an Aldo Rossis 1979 für die Theaterbiennale entworfenen Teatro del Mondo, der auf einer schwimmenden Plattform vor der Punta della Dogana ankerte.

Interviews, Mental maps und Fotos

Methodisch war der Ausgangspunkt der Installation in Venedig ein an Vogts Lehrstuhl entwickeltes Tool. Dessen wichtigste Instrumente sind Interviews und Schnappschüsse. Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten haben die Studierenden der ETH, unterstützt von einheimischen Kommilitonen, Gespräche auf verschiedenen Plätzen der Stadt geführt. Auserkoren wurden der Campo del Ghetto Nuovo, der Campo Santa Margherita und die Piazza San Marco. Der Platz im ehemaligen jüdischen Getto ist der vielleicht abgeschiedenste Campo unter den grösseren Plätzen der Stadt. Auch an Tageszeiten, an denen er belebt ist, wirkt er ruhig, in sich gekehrt. Der Campo Santa Margherita war bis vor wenigen Jahren noch ein Geheimtipp für Touristen, die sich nicht als solche fühlen wollten. Und der Charakter der ­Piazza San Marco ist wohl am treffendsten eingefangen in der Antwort, die der älteste ­Kiosk­besitzer der Stadt, Francesco, zu Protokoll gab: Der wichtigste Ort für Venedig sei die Piazza San Marco. Der wichtigste Ort für ihn persönlich hingegen ist: «Tutto ciò che non è Piazza San Marco.»

Die Interviewten zeichneten eine Mental Map auf, aus der hervorgeht, wie sie den Raum ­erinnern, wie sie sich in ihm bewegen, wie sie sich orientieren. Mit einer Kamera haben sie diejenigen Sujets fotografiert, die für sie an den jeweiligen Orten von Bedeutung sind.

Und schliesslich wurden sie mit der Frage konfrontiert, ob man für Venedig Eintritt verlangen und das Wasser kostenpflichtig machen sollte.

Kompass für den Common Ground

Die Resultate der Interviews, welche die Studierenden zusammengetragen haben, wurden in «die Sprache des Kiosks übersetzt» – zuallererst in eine Zeitung. In ihr sind die Gespräche, Fotos und Mental Maps dokumentiert. Eingebettet wurden sie in eine Reihe von Hintergrundartikeln – zur Geschichte des Kiosks, zur Beziehung zwischen dem Untergrund der Stadt Venedig und ihrer Kunst,[2] zum Schutzwehrprojekt «Mose». Dazu kommen verschiedene Gadgets, die als ungewöhnliche Souvenirs fungieren: Da gibt es den Pass, der einen als «Bewohner des grössten Staates der Welt», des Common Ground, ausweist. Im Gegenzug für die Beantwortung einer Frage kann man sich auch eine Postkarte aussuchen, zum Beispiel die, auf der sich die Vedute, der Stadtplan Venedigs, erst offenbart, wenn man sie mit dem Bodensatz der Stadt imprägniert, sprich: auf eine Steinplatte legt und abreibt. Mit dem Führer «Venedig in 89 Tagen» kann man anhand der Mental Maps der Interviewten die Stadt erkunden. Den dafür notwendigen Kompass gibt es ebenfalls am Kiosk.[3] Das Wort für die Orientierungshilfe geht auf das italienische «compasso» zurück, was mit «Zirkelweg» übersetzt werden kann – mithin wohl das treffendste Bild für die kollektive Mental Map Venedigs.


Anmerkungen:
[01] Wie das Pendant dazu erscheint der Beitrag «Venice take away», der im britischen Pavillon Gastrecht geniesst. Dort werden die Resultate einer globalen Recherche von zehn Architekturteams präsentiert, die ausströmten, um den Common Ground der Architekturpraxis in Brasilien, China, Deutschland, Japan, den Niederlanden, Nigeria, Thailand und den USA zu erforschen und die Antworten in Venedig zusammenzutragen
[02] Pieper, Jan, Venezia – un tentativo di rendere abitabile l’acqua tramite l’arte, in: Republic of Common Ground, Sept. – Nov. 2012, S. 12 – 13; www.republic-of-common-ground.com; Nachdruck von: Pieper, Jan, Venedig. Ein Versuch, das Wasser durch Kunst bewohnbar zu machen, in: Anthos, Jg. 31 1992, Nr. 1, S. 26 – 31
[03] Das «Inventar der Republik Common Ground» kann man auch im Internet bestellen unter: www.republic-of-common-ground.com

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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