Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 12|2012
Redaktionslieblinge
db deutsche bauzeitung 12|2012

Gewohnheiten aufbrechen

Studentenwohnheim in Paris (F)

Das industriell geprägte, über lange Zeit hinweg vernachlässigte Quartier zwischen den Gleissträngen zweier Bahnhöfe wird nach und nach aufgewertet. Auf das disparate Umfeld antwortet die Architektur des neuen Wohnheims mit robusten Materialien, klaren Formen und differenzierten Räumen, die in vielerlei Hinsicht Bezüge zur Umgebung herstellen. Vom Bauherrn unterstützt, konnten die Architekten pragmatisch vorgehen und mit einfachen aber durchdachten Lösungen einen wohnlichen Ort schaffen und die Themen Fremdheit und Anpassung miteinander in Einklang bringen.

5. Dezember 2012 - Achim Geissinger
Das Quartier im 18. Pariser Arrondissement ist mehr berüchtigt als berühmt; verkehrsmäßig zwar hervorragend angebunden, leider aber als Problemviertel stigmatisiert. Die Bewohnerschaft stammt zu großen Teilen aus dem nahen und dem mittleren Osten. Viele Pakistani haben hier ihre Läden, es duftet allenthalben nach Orient, aus einem Hindutempel flackert warmes Licht. Vor der Bar an der Rue Pajol treffen sich am Nachmittag verschiedene Herren zum Tee – man unterhält sich auf Arabisch, der mit Minzblatt und viel Zucker gereichte Tee schmeckt vorzüglich. Zu den landläufigen Klischees über Paris passt das alles so wenig wie das schwarze Gebäude schräg vis-à-vis, das unweigerlich die Blicke auf sich zieht. Es macht den Eindruck, als wolle es sich eigentlich viel lieber wegducken, es versucht, sich seiner Umgebung anzupassen, kann seine Andersartigkeit aber partout nicht verbergen. Ohne derlei Gedanken gezielt verfolgt zu haben, fanden die Architekten bei der Arbeit an ihrem Entwurf einen architektonischen Ausdruck dafür, wie in diesem Viertel traditionsreiche Stadtstruktur und Fremdländisches zueinanderfinden.

Auf den zweiten Blick

Zunächst einmal erscheinen die drei Baukörper an der Straße allesamt um ein ganzes Geschoss zu niedrig. Die Nachbarhäuser zu beiden Seiten mit ihren klassisch gestalteten Fassaden sind deutlich höher. Allerdings gelten zwischenzeitlich ganz andere Abstandsregeln – die Traufkanten des Neubaus entsprechen exakt dem heutigen Baurecht. Dasselbe trifft auf die weiteren Bauteile in der Tiefe des Grundstücks zu. Mit einiger Akribie haben die Architekten das optimale Verhältnis von zulässiger Baumasse und größtmöglichem Lichteinfall in den Innenhof ausgetüftelt. Sicher hätte sich in dem Geviert noch eine Handvoll weiterer Wohneinheiten unterbringen lassen. Durch die Entscheidung, subtraktiv vorzugehen und verschiedene Leerräume in die Volumen zu schneiden, gewannen die Planer aber eine Reihe von Vorteilen, wie z. B. die Unterteilung der Straßenfront in Portionen, die der Körnung des Quartiers entsprechen. Vorneweg aber steht die Durchlässigkeit des Gebäudes, nicht nur für Luft und Sonnenlicht, sondern auch im Sinne der Verzahnung mit dem Quartier. Blicke hinüber zu den Nachbargrundstücken und vom Innenhof hinaus bis zur Straße lassen den Kontakt zur Stadt nicht abreißen. Umgekehrt kommt die Ausweitung in den begrünten Hof hinein wiederum dem Straßenraum zugute. Allerdings nur zum Teil: Das Tor lässt sich nur per Zahlencode öffnen und macht das Wohnheim somit zur »gated community«.

Ein Bauherr, wie man ihn sich wünscht

In Frankreich tritt der Architekt i. a. R. erst in den Planungsprozess ein, wenn Raumprogramm, Baumassen und Kostenrahmen festgelegt sind. Das Büro LAN hingegen konnte alle Rahmenbedingungen vom Wettbewerbsentwurf an selbst überdenken und daraus die optimale Lösung generieren. Möglich machte das der aufgeschlossene Bauherr: Die städtische Wohnungsbaugesellschaft RIVP (Régie immobilière de la ville de Paris) kümmert sich vorwiegend um den Bau von Sozialwohnungen und Studentenwohnheimen. Sie ist an den Schaltstellen mit Persönlichkeiten besetzt, die architektonischen Konzepte schätzen und bauliche Qualität fördern, wo sie nur können. Starre Vorgaben zu Raumgrößen und Raumprogramm gab es nicht. Rund 150 Wohneinheiten waren gewünscht, 143 sind es geworden. Entstanden ist eben kein Standard-Wohnregal, sondern ein übersichtlicher Lebensraum im Maßstab eines Dorfs, das sich um einen Platz herum entwickelt. Der Hof ist Abstandsfläche und gemeinschaftsbildendes Element in einem. Die mit unterschiedlich hohen Mauern eingefassten Baumbeete schirmen einerseits die ebenerdig zugänglichen Wohneinheiten ab und bieten andererseits Sitzmöglichkeiten und Treffpunkte.

Sinnfälligerweise nah am Eingang und von der Sonne abgewandt, liegen die raumhoch verglasten Gemeinschaftsräume für Computerarbeit und Feste samt einer Waschküche. Leider weiß das Studentenwerk, welches die Bauten von der RIVP übernimmt und verwaltet, mit dem Gemeinschaftsgedanken nicht viel anzufangen; es ist kaum möglich, den Schlüssel für die Räume zu bekommen, der Concierge ist selten greifbar. An der Unbeweglichkeit des Studentenwerks liegt es auch, dass jedes Zimmer eine autarke Wohnung mit eigenem Bad und winziger Küchenzeile bildet; das Zusammenfassen zu Wohngruppen ist in Paris nicht Usus, wie überhaupt das Verlassen einmal eingeschlagener Pfade undenkbar scheint. Ganz allgemein fehle es an Pflege, bemängelt der Projektleiter Sebastian Niemann, der seit Monaten auf die Behebung eines Brandschadens wartet und am liebsten selbst Hand anlegen würde.

Dass die hofseitigen Fassaden mit Lamellen aus Lärchenholz bekleidet werden konnten, ist wiederum dem aufgeschlossenen Bauherrn zu verdanken. Ihre Brandlast ist freilich nicht unproblematisch, die ausführende Firma durfte aber loslegen, weil sie einen positiven Test und eine für vier Jahre geltende Ausnahmegenehmigung vorweisen konnte. Letztere ist inzwischen ausgelaufen, sehr zum Leidwesen der Pariser Architektenkollegen, die Ähnliches gerne bauen würden. Zusammen mit dem gelben Bodenbelag und den gut angewachsenen Bäumen schafft das noch nicht allzu sehr vergraute Holz eine heimelige Atmosphäre. Der weiche Spielplatzboden aus Kautschukgranulat tut sein Übriges, indem er das Gehgefühl eines Teppichs vermittelt, Schall schluckt und Regenwasser schnell in das darunter liegende Schotterbett ableitet.

Schutz bietet die weite Fahrradabstellfläche, für die das gesamte EG des mittleren Blocks freigelassen wurde und die bei Bedarf auch für größere Feste freigeräumt werden kann. Der Spaß am konkreten, nicht nur konzeptionellen Gestalten ist hier deutlich spürbar: Da das Standard-Angebot an Fahrradständern nicht befriedigen konnte, wurde kurzerhand der Schlosser beiseitegenommen und mit ihm zusammen eine ebenso simple wie gefällige Lösung aus Stahlblechen erarbeitet. Um die niedrige Deckenhöhe zu kompensieren, versah man die Untersicht mit polierten Stahlblechen. Sie reflektieren die Farbe der Gehflächen und erzeugen daraus einen warmen Goldton, der auch die leider nötigen dafür aber sehr edel ausgeführten Raumeinfassungen aus Metallgewebe umspielt.

Den passenden Kontrapunkt zu diesen »sauberen« Materialien bilden die ausnehmend lebendig wirkenden Ziegelfassaden. Der Festlegung von Backstein als vorherrschendes Material des Bezirks folgend, suchten die Architekten analog zum dunklen Ton typischer Dacheindeckungen einen der dunkelsten Steine aus. Den Mörtel definierten sie eher als Kleber und ließen die Fugen dadurch unbetont. Ganz im Vordergrund steht die stark zerklüftete Backsteinoberfläche, sie lässt die Handarbeit erahnen und sieht von Nahem wie auch in der Fläche aus wie bereits uralt, wie eine Hausrückseite, die schon viel mitgemacht hat.

Sparen an der richtigen Stelle

Wie in jedem Studentenwohnheim geht es auch hier im Innern recht spartanisch zu. Während robuste Materialien mit starkem Eigencharakter den Außenraum prägen, sind die Flure und Zimmer in neutralem Weiß gehalten. Obwohl schon eine Weile in Gebrauch, sind die Oberflächen noch fast wie neu – offenbar schätzen die Studenten ihr Wohnumfeld. Ein Leitsystem erleichtert die Orientierung, indem es jedem Haus eine bestimmte Farbe zuweist, die sich auch in einem kleinen Detail in den Zimmern wieder findet: als schmaler Streifen hinter den transluzenten abgehängten Decken in den Zimmerfluren. Um die ärgerliche Optik billiger Leuchten zu umgehen, hat man die Leuchtstoffröhren kurzerhand hinter Doppelstegplatten versteckt, den schmalen Durchgang dadurch etwas niedriger proportioniert, um den anschließenden Wohnraum dann umso großzügiger erscheinen zu lassen. Die Kante ist als Buchregal ausgestaltet und wird als solches gerne angenommen. Küchenzeile und Bad sind auf das Allernötigste reduziert, auch in der Materialwahl (Gipskarton). Der weiße Anstrich und dunkelgraue Fliesen bilden einen neutralen Hintergrund.

Mit den Energiestandards hinkt Frankreich im europäischen Vergleich noch hinterher. Dem eigenen Anspruch folgend strebte das Büro LAN eine höhere Effizienzstufe an als die vom Bauherrn eingeforderte. Dabei kam ihm der örtliche Baustandard entgegen: Paris baut alles in Beton, massiv. Die thermische Trägheit der Wände und Decken sorgt für gleichmäßige Temperaturen im Innern, die Mineralwolledämmung besorgt den Rest. Für den Betrieb der Heizkörper in den Zimmern und die Warmwasserbereitung steht die Nahwärmeversorgung zur Verfügung, unterstützt durch Sonnenkollektoren auf dem Dach. Erfahrungsgemäß reicht die Solarenergie in den warmen Jahreszeiten sechs Monate lang. Die Räume werden zwar mechanisch entlüftet, für weitere Technik für die Behandlung von Zu- und Abluft reichte es jedoch nicht. Die Fenster lassen sich weit öffnen – einige der Zimmer haben einen Balkon oder sogar Zutritt zu einer Terrasse. Auch dem Schallschutz kommt die massive Konstruktion entgegen, wo nicht, z. B. bei Zimmertrennwänden, behalf man sich mit fünf-lagigem Trockenbau. Man geht auf Kautschukböden.

Obwohl das Gelände nicht gerade weitläufig, das Projekt nicht sonderlich groß und seine Struktur recht simpel ist, lädt die Anlage doch zum Entdecken und Aneignen ein. Das Angebot an Erschließungsräumen mit Aufenthaltsqualität und durchdachten Details – z. B. eine regengeschützte Sitzbank in einem der hinteren Höfe oder die intime Tribüne im anderen – machen den Komplex sehr reich. Davon künden bereits die lebendig gestalteten Straßenfassaden mit den unterschiedlich tiefen Laibungen der gegeneinander versetzten Fenster. Auch wenn das Areal nicht frei zugänglich ist, ist der Bau doch ein Plädoyer für Offenheit und Vielfalt, und er zeigt, dass die Gleichzeitigkeit von Tradition und Neuerung, das Einbinden des Fremden in das Bewährte möglich und erstrebenswert ist. Das multinational besetzte Büro LAN geht dabei beispielhaft voran. Die studentischen Bewohner scheinen es zu danken: Man hört von Mehrfachbelegungen der Zimmer – das kann nicht allein an der günstigen Verkehrsanbindung liegen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

Tools: