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db deutsche bauzeitung 07-08|2013
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db deutsche bauzeitung 07-08|2013

Moderne Verwandtschaft

Erweiterung und Teilsanierung der Heinrich-Schütz-Schule in Kassel

Die Heinrich-Schütz-Schule von Heinrich Tessenow aus den späten 20er Jahren gilt als prägendes Beispiel der »Frühen Moderne«. Ihre Sanierung war lange überfällig, der Anbau eines Klassentrakts dringend nötig. Den Spagat zwischen historischer Verpflichtung und eigenständigem Ausdruck meistern die Architekten durch einen zurückhaltenden aber dennoch selbstbewussten Umgang mit dem baulichen Erbe.

1. Juli 2013 - Hartmut Möller
Die wachsende Anzahl von Schülerinnen des 1909 gegründeten ersten Mädchengymnasiums im Regierungsbezirk Kassel erforderte 1927 einen Neubau, dessen Wettbewerb der Reformarchitekt Heinrich Tessenow gewann. Zur Fertigstellung 1930 wurde die Schule »Malwida-von-Meysenbug-Schule«, nach der progressiven Kämpferin für Pressefreiheit und Emanzipation, benannt. Weil jedoch deren verkörpertes Frauenbild nicht in die Ideologie der Nationalsozialisten passte, benannten diese sie 1940 um; bis heute trägt sie aufgrund ihres musikalischen Schwerpunkts den Namen des frühbarocken Komponisten Heinrich Schütz. Im Krieg wenig beschädigt, beschlagnahmten die amerikanischen Besatzer das Gebäude, die Turnhalle wurde kurzerhand zur Garagenwerkstatt und die Aula zum Kino »Liberty« umfunktioniert. Seit Wiedereinzug der ursprünglichen Institution 1947 folgten etliche interne organisatorische Veränderungen – gegenwärtig beheimatet die kooperative Gesamtschule gut 1000 Schüler der fünften bis zehnten Klassenstufe.

Fußläufig vom Bahnhof Wilhelmshöhe entfernt liegt das Bundessozialgericht (ehemaliges Generalkommando, 1938) in unmittelbarer Nachbarschaft zur Heinrich-Schütz-Schule. Die Entwurfsansätze beider aus annähernd gleicher Zeit stammenden Bauten könnten kaum unterschiedlicher sein. Während auf der einen Seite wuchtig gerahmte Fenster in tiefen Laibungen den Eindruck von Masse verstärken, scheinen ihre gegenüber flachbündig gesetzten Pendants in feinen Faschen die Fassade als gläserne Wand auflösen zu wollen. Um das viergeschossige, in Nord-Süd-Richtung axialsymmetrische Schulhaus mit Innenhof gruppieren sich an den Ecken drei, mit ähnlichen Ansichten aber unterschiedlichen Volumen, gestaltete Flügel: Aula, Hausmeisterwohnung und Turnhalle. Flach geneigte Dächer und rigide Lochfassaden der quaderförmigen Baukörper verweisen dabei auf Tessenows Drang hin zum »Neuen Bauen«.

Weitergedacht

2009 erhielten die ortsansässigen Architekten Schultze + Schulze für die Renovierung der Aula und Einfügung einer Mensa in Tessenows Schule aus Mitteln des Konjunkturprogramms von Bund und Land den Direktauftrag. Darüber hinaus sollte ein 1975 rücksichtslos angefügter Waschbetonbau abgebrochen und statt seiner der Neubau eines Fachklassentrakts mit 13 Unterrichts- und Sammlungsräumen entstehen. Dessen Lage auf dem Grundstück – als Weiterführung des östlichen Turnhallenannexes – bewahrt die freie Sicht auf das als Endpunkt einer angrenzenden Grünanlage gedachte Schulgebäude. Zudem schafft seine Position eine Straßenanbindung der zuvor ringsum durch Grün auf Abstand gehaltenen Anlage und lenkt damit die Personenströme Richtung Haupteingang. Wie selbstverständlich fügt sich der als »Malwida-von-Meysenbug-Flügel« bezeichnete Trakt in die Dramaturgie des Tessenow’schen Grundrisses ein. Seine klaren Linien unterstreichen das puristische Erscheinungsbild des Gesamtensembles. Für ganz unterschiedliche Ansichten der Ergänzung sorgt ihre Hanglage: Hofseitig betrachtet duckt sie sich überwiegend eingeschossig nah am Boden, nach Süden zeigt sie ihre drei Etagen in voller Höhe. Bei aller Demut gegenüber dem wenig zugänglichen »Weißen Schloss« gibt sich der Flachbau offen, freundlich, und daher durchaus eigenständig.

Modern(e) fortgeführt

Zur Herstellung einer Verwandtschaft mit modernen Mitteln begegnen die Architekten der denkmalgeschützten Ikone im wahrsten Wortsinn auf Augenhöhe. In Verlängerung der Turnhalle nehmen sie deren Traufhöhe, Breite und Farbigkeit auf. Eine obligatorische Glasfuge trennt den Erweiterungsbau vom Bestand und belichtet das dahinterliegende Treppenhaus. Der zweite Aufgang als Fluchtweg befindet sich am anderen Kopfende, wo der lang gestreckte Riegel dreigeschossig an die Freiherr-vom-Stein-Straße andockt. Ein kleiner in Wandscheiben ausgeführter Balkon lockert die Straßenfassade auf und gibt ihr – zusammen mit den lang gezogenen Fensterbändern – den Anstrich der »Neuen Sachlichkeit«. Die Südansicht hingegen erinnert in ihrer Struktur an die »Zweite Moderne«, an Bauten von Sep Ruf oder Egon Eiermann. Stationäre Sonnensegel gliedern die fast vollständig verglaste Front. Das spannbare und mit Kunststoff überzogene Textilgewebe lässt dabei aufgrund seiner Mikroperforierung natürliches Licht aber keine Wärme ins Innere.

Auf der Hofseite führt ein Laubengang in direkter Verlängerung zum Haupteingang des historischen Hauptgebäudes und verknüpft so bereits im Außenbereich Alt und Neu. Nicht nur bei schlechtem Wetter ist dies ein beliebter Ort von Schülern, Skateboardern und Inlineskatern. Die reduzierte Materialwahl der Ergänzung aus Putz, Glas und Stahl versprüht zeitlose Noblesse. Dank weit außen liegender Pfosten-Riegel-Konstruktion im Wandaufbau kaschieren die Aluminiumfenster mit ihren raumhohen, außenbündig gesetzten Scheiben, bauphysikalisch sinnvoll, die Außenkanten des eingesetzten WDVS'. Um die Langlebigkeit des druckanfälligen Fassadenaufbaus zu gewährleisten, wurde er auf Eingangsebene großflächig mit einer 11,5 cm breiten Vorsatzmauerschale verstärkt. Erst bei genauerem Hinsehen zeichnet sich diese als minimaler Versatz ab.

Behutsam wiederbelebt

Vom Pausenhof aus gelangt man am Haupteingang über eine respekteinflößend breite Treppe ins Foyer des mächtigen Klassenblocks. Während rechter Hand der alte Klassentrakt anschließt, führt der Weg geradeaus in die frisch sanierte Aula. Im UG direkt unterhalb der Vorhalle befindet sich die neue Mensa. Ihre nach Süden vorgelagerte Terrasse öffnet sich zum Park an der Wilhelmshöher Allee, wo einst der unsensible Betonklotz den Blick auf die Südfassade verstellte. Tiefe Fensternischen, die den Schülern als Sitzgelegenheiten dienen, erlauben nun eine freie Aussicht ins Grüne.

Mit Eintritt in die grundlegend sanierte Aula durch die den Originalproportionen nachempfundene Türanlage begibt sich der Besucher auf eine Zeitreise. Bühnengestaltung (nach heutigem Orchesteranspruch etwas vergrößert), Vorhänge, Messinglampen sowie Farbanstriche an Holzverkleidung der Stützen und Decke orientieren sich an Fotobelegen des ursprünglichen Zustands; die wie Marmor wirkende Kalkschlämme an den Wänden leitet sich aus Vor-Ort-Befunden ab. Brandflecken im abgeschliffenen Parkett zeugen von einem Bombentreffer aus dem Zweiten Weltkrieg. Zwei Originalstuhlreihen auf der Empore vermitteln den von Tessenow gewollt spartanischen Eindruck – der heutige Zuhörer hat es dagegen gern etwas bequemer, sodass der Rest des Gestühls rot gepolstert ist. Die in schwarz gehaltene Technik entspricht dem aktuellen Stand und lässt sich je nach Anlass leicht entfernen. Als Glücksfall für die Erneuerung der Fenster in der Aula stellte sich der Abriss des ungelenken Appendix aus den 70ern heraus: ehemals vermauerte Öffnungen im Haupthaus gaben Originalrahmen preis, nach deren Vorbild die aktuellen Profile in schlanker Optik gefertigt werden konnten. So zeichnet der durch großflächige, hohe Fenster zweiseitig belichtete Saal auf wunderbare Weise ein Bild der Stimmung nach, die hier schon früher geherrscht haben mag.

Gezielt betont

Sowohl die reduzierte Formsprache als auch der punktuelle Einsatz von Farbe der sensibel wiederhergestellten Aula setzt sich innerhalb des neuen Fachklassentrakts wohltuend fort, ohne sie jedoch nachzuahmen. So betonen wenige Farbtupfer die Klassenzugänge und Treppen. Der Bodenbelag aus geflammtem Basalt und die schwarzen Türflügel kontrastieren in den weiß gehaltenen Erschließungsbereichen mit den je nach Etage rot bzw. hellblau gestrichenen Türlaibungen. Gleiches gilt für die hellblauen Stahlbleche der Treppenbrüstungen, die den skulpturalen Eindruck der freigestellten Stiege unterstützen. Im Gebäude orientieren sich alle Klassenräume nach Süden in die Grünanlagen; die opulenten Glasscheiben sind zum Arbeiten am PC zusätzlich über Rollos abblendbar. Lediglich die Sammlungsräume im UG liegen in der hangseitig bedingten Dunkelzone. Zur Belichtung des fensterlosen untersten Flurs bedienen sich die Planer eines effektiven Kniffs. Durch eine Reihe von selbsttragenden, stahlbewehrten Elementen aus Glasbausteinen leiten sie das über Lichtkuppeln gewonnene Tageslicht nach unten. Zwar erfüllt der Anbau mit seiner beheizbaren Be- und Entlüftungsanlage die Kriterien eines Passivhauses, um jedoch eine gewisse akustische Wahrnehmung des Parks zu gewährleisten, wurden als Kompromiss Öffnungsflügel in die Fassade integriert, die dazu noch als Zugang zu den Putzbalkonen dienen.

Abgesehen von einigen Spechthöhlen in ihrer Außenhaut weist die Schulerweiterung nach zwei Jahren noch keine Schäden auf. Selbst Graffitis sind nicht zu finden, obgleich sich die weißen Fassaden als Ziel von Attacken dieser Art bestens anböten. Dies lässt sowohl auf eine hohe Nutzerakzeptanz als auch auf die besondere Aufmerksamkeit der Schulleitung schließen. Eine größere Auszeichnung des Kleinods, das bereits u. a. die »Simon-Louis-du-Ry-Plakette« des BDA Hessen erhalten hat, kann es wohl kaum geben.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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