Zeitschrift

TEC21 2013|33-34
Komposition und Raum
TEC21 2013|33-34
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Wir gaben der Musik eine physikalische Form»

Der Architekt Philippe Rahm interessiert sich weniger für die formalen Aspekte der Architektur als für ihre physiologischen. Er definiert die Qualität von Räumen nicht über ihre Volumetrie und Materialisierung, sondern indem er sie auflädt – elektromagnetisch, chemisch und akustisch. Mit seinen Projekten und Ausstellungen beflügelt er den Architekturdiskurs. Nun wird ein Projekt im grossen Massstab realisiert, das er zusammen mit der französischen Landschaftsarchitekin Catherine Mosbach entworfen hat: ein 68 Hektar grosser Park in Taiwan.

6. August 2013 - Rahel Hartmann Schweizer
Ausgangspunkt von Rahms Annäherung an die Architektur waren seit je ihre unsichtbaren Aspekte. Die physiologische Komponente stand beim Projekt des «Melatonin Room» (2000) im Vordergrund (vgl. TEC21, 43/2004, S. 7–11), meteorologische bei dem 2002 für den Künstler Fabrice Hybert entworfenen Haus «Jardin d’Hybert», akustische bei dem 2009 projektierten temporären Konzertsaal «Portico Acoustique». In dem nun in Realisierung stehenden Projekt für den Taichung-Gateway-Park in Taiwan verbinden sich die drei Aspekte. Er wurde nach physiologischen, klimatischen und akustischen Kriterien konzipiert.

TEC21: In Ihren Vorträgen verweisen Sie auf den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dessen Diktum, dass die Architektur an die Materialität gebunden ist, heben Sie aus den Angeln, indem Sie Räume entmaterialisieren und Klänge verkörperlichen.

Philippe Rahm: In seiner Kunsttheorie entwarf Hegel eine Hierarchie der Künste: Er betrachtete die Musik als die reinste und schönste aller Kunstformen – im Gegensatz zur Architektur, die er für die niedrigste der Künste hielt. Das Kriterium dieser hierarchischen Klassifizierung leitete er von der Beziehung der jeweiligen Kunst zu ihrer Materialität ab – angesiedelt zwischen Abhängigkeit und Freiheit. Für Hegel galt, dass je mehr eine Kunstform ihre Materialität hinter sich lässt, desto weniger ist sie durch die Phänomene der natürlichen Welt eingeschränkt, beziehungsweise desto mehr erhebt sie sich über und umso näher kommt sie dem reinen, gewichtslosen, transparenten Geist, und umso transzendenter und schöner ist sie. Architektur ist ihrer Materialität verhaftet – ihrer Dichte, Schwere, Undurchdringlichkeit. Das gilt für die Bildhauerei zwar auch, aber bei ihr ist die schöne Form entscheidend. Noch stärker – und zwar auf die Farbe – reduziert ist der materielle Aspekt bei der Malerei. Poesie und Musik sind dieser Materialität gänzlich entledigt. Musik ist nichts anderes als Wellen und Dichtung nichts anderes als Worte. Heute wissen wir, dass Klang und Stimme weder abstrakt noch entmaterialisiert sind, auch wenn sie ätherisch und unsichtbar sind. Sie sind nicht transzendenter als ein Stein oder die Erde, und sie besitzen eine physikalische, chemische und biologische Dimension. Die physikalische Dimension des Klangs ist eine handfeste Luftbewegung entlang einer spezifischen Wellenlänge. Er ist ein Druckpunkt in der Luft in einem definierten Raum. Er ist eine körperliche Temperatur von rund 37° C, die die Lungen in die Luft abgeben als Resultat der Atmung. Die chemische Dimension der Stimme besteht aus einem gasförmigen Inhalt, messbar über den Anteil an Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoffdioxid und einigen anderen, in Spuren vorhandenen Gasen sowie Wasser in Form von Dampf, mit dem die Atmosphäre mit jedem einzelnen Atemzug angereichert wird. Musik und Dichtung haben ausserdem eine biologische Dimension, bestehend aus Pollen, Mikroorganismen, Samen, die in der Luft schweben, Bakterien und Viren.

TEC21: Etwas grösser sind die Organismen – Käfer und Nachtfalter – in dem Traum, den der Komponist György Sándor Ligeti (1923–2006) als Inspirationsquelle für seine Werke nannte.1 Weltweit bekannt wurde er, als Kompositionen von ihm als Filmmusik in «2001 – A Space Odyssee» von Stanley Kubrick verwendet worden waren – unter anderem als Ouvertüre eine knapp dreiminütige Sequenz aus «Atmosphères» von 1961.2 In ihm haben Sie den kongenialen Komponisten zu Ihrer Vorstellung von Raum und Musik gefunden, nicht wahr?

Rahm: Ja, die Komposition «Atmosphères» für Orchester war für uns von besonderem Interesse. Ligeti hat die Musik als ein In-Schwingung-Versetzen und Deformieren der Luft und als eine Art Vibration des Raums verstanden, was physikalisch ja zutrifft. In gewisser Weise hat das eine Beziehung zur Architektur, weil man mit dem Bauen auch die Luft skulpturiert: Man macht hier ein bisschen wärmer, dort ein bisschen kälter. Man skulpturiert das Klima.

TEC21: Ligeti legt diese Analogie umso näher, als er sein Stück als Klangwolken beschrieb …

Rahm: … die sich in der Partitur als Cluster, als Trauben von Noten, abbildeten. Eine solche Gestalt wollten auch wir der Musik geben, wobei wir mit der Physik an sich arbeiten und die Deformation der Luft erfassen wollten. Konkretisiert hat sich dies im Projekt «Pulmonary Space», das wir im Sommer 2009 auf Einladung des Barbican Museum in London in der von Francesco Manacorda kuratierten Ausstellung «Radical Nature» realisierten: Wir gingen davon aus, dass Musik nichts Abstraktes, Entmaterialisiertes ist, sondern dass sie sich in physikalischer Realität – Schwingungen, Wellen, Luftbewegungen – manifestiert. Musik ist also eine Physik der Luft – und es spielen bei ihr auch physiologische Qualitäten mit, wenn man an die Organismen denkt, welche die Atmosphäre bevölkern. Wir liessen also Ligetis 1968 komponiertes Kammermusikstück «Zehn Stücke für Bläserquintett» aufführen. Dazu steckten wir alle Instrumente in luftdichte Verpackungen und liessen diese in einen grossen Kunststoffsack münden. Während des Spiels bliesen die Musiker mit ihrem Atem durch die Instrumente den Sack auf, der im Laufe des Stücks eine gewisse Form und Grösse annahm. Wir konservierten die Musik also in diesem aufgeblasenen Sack gewissermassen. Durch dieses Konservieren fällt die Musik auf das materielle Niveau, sie wird re-materialisiert – durch das Volumen der gespeicherten Luft, durch die darin enthaltenen Viren und Bakterien, ihre Feuchtigkeit etc. Wir gaben der Musik eine physikalische Form, entrissen sie der Vergänglichkeit …

TEC21: … verliehen ihr eine räumliche Qualität – so wie sie umgekehrt der Architektur durch Eingriffe in die Physiologie eine zeitliche Dimension gaben: die Musik als Raumkunst, die Architektur als Zeitkunst. In beiden Fällen gingen Sie von der Naturwissenschaft aus, um die Architektur zu entkörperlichen beziehungsweise die Musik zu verleiblichen.

Rahm: Löchert man aber am Schluss den Sack, entweicht die konservierte Musik wieder.

TEC21: Ob der Sack seine Form verändert hätte, wenn ein anderes Stück intoniert worden wäre? Spielt es eine Rolle, ob tonlos in einen Sack gepustet oder Klänge durch die Schläuche gepresst werden? Das heisst: Verkörpert der Sack zumindest mittelbar ein Klangbild?

Rahm: Vielleicht, das haben wir noch nicht überlegt.

TEC21: Im selben Jahr haben Sie sich mit der Verkörperung akustischer Voraussetzungen befasst, im Projekt «Portico Acoustique», einem temporären Konzertsaal im südfranzösischen Brive-la-Gaillarde, der während der Renovation des Théâtre municipal als Ersatzspielstätte hätte dienen sollen. Aus finanziellen Gründen wurde er nicht realisiert.

Rahm: Hier war die Idee, die Qualität des Innenraums nach aussen zu projizieren, das heisst, um den Inhalt lesbar zu machen, haben wir ihn nach aussen gestülpt – und zwar nicht auf der visuellen, sondern auf der auditiven Ebene. Das heisst, die Akustik sollte vor dem Eingang des Gebäudes ebenso gut sein wie im Innern. Formal übertrugen wir das Prinzip, das die Akustiker für den Innenraum empfahlen – parallele Wände zu vermeiden –, auf die Gestaltung der Gebäudehülle. Vor dem Eingang des Theaters verlaufen zwei Strassen, deren Lärm an den Fassaden reflektiert wird und zu unangenehmen, sich aufschaukelnden Echos führt. Wir haben die Positionen und Formen aller Gebäude in der Umgebung des Theaters analysiert und die Richtungen der stärksten Reflexionen des Strassenlärms in Richtung des Theaters bestimmt. Wir haben also die Akustik des Aussenraums gleich behandelt wie die Akustik des Innenraums und schliesslich auf drei Ebenen interveniert: Reflexion, Isolation und Absorption. Um die Reflexionen des Strassenlärms zu reduzieren, haben wir die Fassaden so deformiert, dass die tiefen Frequenzen reflektiert und gestreut werden. Damit der Strassenlärm nicht ins Innere und die Musik im Saal nicht nach draussen dringt, haben wir gegen die hohen und mittleren Frequenzen eine Isolation aus Steinwolle vorgesehen. Mit diesen Massnahmen versuchen wir, einen Dämpfungsgrad von 60 db zu erreichen. Aussen planten wir dieselbe schallschluckende Leinwand aus poröser Mineralwolle wie im Innern. Um eine möglichst grosse Absorptionsfläche zu erzielen sowie die Distanz zwischen Leinwand und Isolation zu variieren, sollte sie eine komplexe Oberflächenstruktur bekommen – eine, die der Wellenlänge des Schalls entspricht, der absorbiert werden soll. Diese hätte sich auch an der Fassade abgebildet und gleichermassen funktional dämpfend gewirkt wie formal die Identität des Baus signalisiert.

TEC21: In Ihrem jüngsten Projekt, dem Taichung-Gateway-Park in Taiwan1, übertragen Sie die physiologischen Konzepte Ihrer Installationen wie des «Hormonoriums» auf den grossen Massstab.

Rahm: Das könnte man so sagen. Beim Taichung-Gateway-Park, den wir zusammen mit Catherine Mosbach und Ricky Liu planen, sind wir von der Funktion des Parks ausgegangen, wie sie der französische Stadtplaner Georges-Eugène Baron Haussmann verstand, der im 19. Jahrhundert die grossen Alleen und Parks in Paris anlegte: unter utilitaristischem Blickwinkel. Ein Baum war eine Maschine, um Schatten zu erzeugen – und nicht ein Symbol der Natur, wie es romantische Vorstellungen transportierten. Auch der Central Park in New York hat primär eine utilitaristische Funktion: die Reinigung und Erneuerung der Luft. Das ist eine rein physiologische, hygienistische Betrachtungsweise der «Natur», die man seit den 1960er-Jahren aus den Augen verloren hat. Man fasste die städtischen Parks nicht mehr – fast wie ein Antibiotikum – als Medizin auf, um die Städte und ihre Bewohner zu «heilen». Wir verstehen einen Park in den Breitengraden von Taiwan primär als Klimaanlage und betrachten alle Elemente eines Parks des 19. Jahrhunderts – Kiosk, Springbrunnen, Eremitage, Grotte etc. – unter dem Gesichtspunkt der Klimatisierung und haben sie als «climatic devices» adaptiert. Die Hauptparameter des taiwanesischen Klimas sind hohe Temperaturen, hohe Luftfeuchtigkeit, hohe Luftverschmutzung und hoher Lärmpegel. Wir haben drei Karten des Parks mit den relevanten vier Parametern erstellt: je eine gegen die Hitze, gegen die hohe Luftfeuchtigkeit und gegen die Luft- und Lärmverschmutzung. Als «climatic devices» fungieren zunächst die Bäume: Sie leisten den Hauptanteil von drei Vierteln der Klimaregulierung. Sie spenden Schatten, kühlen die Luft durch Verdunstung, absorbieren Wasserdampf aus der Luft, filtern Schadstoffe aus der Luft und dämpfen den Lärm aus der Umgebung. Die technischen Installationen – grosse Ventilatoren, Lufttrockner und Springbrunnen – tragen zu einem Viertel zur Klimaregulierung des Parks bei, wobei die Energie für den Betrieb der Apparate im Park selbst u. a. mit Photovoltaik gewonnen wird. Dann haben wir uns die natürliche Temperaturverteilung zunutze gemacht. Es gibt kühlere Luftströmungen von ausserhalb des Parks, die wir zuführen und für die gezielte Kühlung ausgewählter Bereiche mit «climatic devices», z. B. Windtürmen, unterstützen. Die Luftfeuchtigkeit im Bereich der Seen sollen Entfeuchtungsaggregate oder wasserabsorbierende Materialien reduzieren. Zur Eindämmung der Luftverschmutzung agieren etwa photokatalytische Systeme, aber auch Pflanzen, die bestimmte Schadstoffe absorbieren.

Gegen die Verschmutzung durch Lärm planen wir neben konventionellen Mitteln, wie Akustikwänden und -platten, den Einsatz von Schallgeneratoren, die die störenden Frequenzen durch Interferenz mit Gegenfrequenzen auslöschen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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