Zeitschrift

TEC21 2013|36
Inspiration Grandhotel
TEC21 2013|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Grandhotel – Dichte und Lebensqualität

Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

30. August 2013 - Ruedi Weidmann, Andreas Hofer
Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen, finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Arbeiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die vielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Die Schweiz wächst, und dieses Wachstum findet heute auch wieder in den Städten statt. Es entstehen Grosssiedlungen, eigentliche Stadterweiterungen, die in ihrer Dimension mit den Projekten der 1960er- und 1970er-Jahre vergleichbar sind. Waren diese Höhe- und Endpunkt der funktionalistischen Konzepte aus den 1920er-Jahren, so ist man sich heute einig in der Kritik am monofunktionalen Siedlungsbau, an den im Abstandsgrün stehenden, infrastrukturell unterversorgten Wohnblocks, die oft schlecht an die öffentlichen Verkehrsnetze angebunden sind. Heute geht es um Verdichtung, urbane Qualitäten und Vielfalt.

Was ist eine nachhaltige Siedlung?

An guten Lagen versuchen Investoren Zentralität neu zu schaffen, indem sie Stadtteile mit einer eigenen Nachfrage und hoher Attraktivität für die weitere Nachbarschaft entwickeln. Diese urbanen Implantate bedienen sich häufig bei Bildern aus dem 19. Jahrhundert, und ihre Vermarktung spielt mit Assoziationen der dichten europäischen Stadt. Beispiele sind die an S-Bahnstationen im Grossraum Zürich liegenden Quartiere im Limmatfeld in Dietikon, das im Rahmen eines Gestaltungsplans von Hans Kollhoff mit dem Slogan «Unsere kleine Stadt» wirbt, und das Richti-Areal in Wallisellen, dem Vittorio Magnago Lampugnani ein gründerzeitliches Gepräge mit Blockrandbebauung, Innenhöfen, Plätzen und Arkaden verliehen hat. Als Vorbilder für eine weitere nachhaltige Entwicklung sind diese Grossüberbauungen aber nicht geeignet. Denn eine Massstabsebene kleiner und an weniger prominenten Standorten fehlen dieser Strategie Masse und Überzeugungskraft. Die Einkaufs- und Freizeitlandschaften an den Autobahnkreuzen saugen die Kaufkraft aus Quartieren und Ortschaften, und die Produktion ist – bestenfalls – in Gewerbegebiete ausgelagert. Für eine urbane Vielfalt in den neuen Bebauungen fehlen deshalb die Nutzungen; es entstehen Siedlungen mit Wohnungen bis ins Erdgeschoss, deren private Vorzonen an Freiräume grenzen, die keine wirklichen Plätze sind. Der Versuch, mit guter Architektur und hochwertiger Materialisierung Identität zu schaffen, bleibt an der Oberfläche. Die mittlerweile hohen Dichten in diesen behaupteten «Zentrumsgebieten» und «Stadtentwicklungsschwerpunkten» führen nicht zu urbaner Lebendigkeit, sondern einzig zu Beengtheit.

Anreicherung durch soziale Funktionen

Wenn die Siedlung als Ort für nachhaltige Lebensstile mit hoher Lebensqualität tauglich werden soll, muss sie neu erfunden und angereichert werden. Material dafür bieten der demografische Wandel und die komplexeren Lebensentwürfe. Kollektive Organisation der Kinderbetreuung, neue Formen von Heim- und Teilzeitarbeit, Unterstützung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Wellness, Sport und Erholung, Geselligkeit und Mitbestimmung, Mitarbeit bei der lokalen Nahrungsproduktion und -versorgung: All diese Bedürfnisse brauchen Räume und können Erdgeschosse zu verschiedenen Tageszeiten beleben. Die damit verbundene Kultur der Nähe und gegenseitigen Hilfe kann die Gemeinschaft gegenüber einer immer prekäreren Lohn- und Geldwirtschaft robuster machen. Vielleicht gelänge mit dieser Relokalisierung sozialer Funktionen im Wohnkontext auch eine Trendwende bei der Mobilität.

Keine historischen Vorbilder

Für diese neuen planerischen Aufgaben taugen als Referenz weder Rückgriffe auf dörfliche Strukturen noch der Fundus der Wohnutopien frühsozialistischer Gemeinschaften. So eindrücklich etwa die soeben als nationales Monument renovierte Familistère in Guise[1] einen verantwortungsvollen Kapitalismus als Alternative im 19. Jahrhundert dokumentiert – solche historischen Beispiele leiten das Wohnen von ökonomischen Zwangsgemeinschaften ab. Ihnen fehlt die luftige Freiwilligkeit einer reichen, postindustriellen Gesellschaft. Eine Reihe von genossenschaftlichen Projekten im Grossraum Zürich erprobt zurzeit das Potenzial dieser sozialen Funktionen für den Siedlungsbau. Diese Pionierprojekte sind äusserst ambitioniert und stellen sich breit den gesellschaftlichen Herausforderungen, sie können aber leicht als Einzelfälle und «gated communities» für Gutmenschen kritisiert werden. Deshalb haben wir in der Baugeschichte nach Beispielen für die Kraft von dichten, integrierten, hybriden Gebäuden gesucht. Fündig geworden sind wir bei bei der Luxushotellerie, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts in den Schweizer Alpen entwickelte.

Das Grandhotel als Inspiration

Gerade in ihrer Künstlichkeit, ihrem Exotismus sind die Grandhotels umfassende Organismen. Hier leistete sich zum ersten Mal eine erfolgreiche bürgerliche Gesellschaft einen voll ausgestatteten Raum jenseits der alltäglichen Arbeits- und Familienzwänge und ausserhalb der Stadt. Das Grandhotel ist kompakt gebaut, dicht belegt, vereint Wohnen und Arbeiten unter einem Dach, ist sozial durchmischt (Gäste und Angestellte) und darauf getrimmt, durch hoch verdichtete Dienstleistungen Lebensqualität zu produzieren – Charaktereigenschaften, die in ihrer Kombination in dichten, nachhaltigen Siedlungen und Quartieren hochwillkommen sind (TEC21 9/2013, S. 18). Viele der in diesem Kontext entwickelten Qualitäten, Infrastrukturen und Dienstleistungen, nicht zuletzt das damit verbundene Wissen über die «Herstellung» von Lebensqualität, scheinen uns aufschlussreich und anregend für die aktuelle Debatte um Stadt- und Raumentwicklung, Nachhaltigkeit und Suffizienz. Wohl wissend, dass das ökonomische Modell eines Hotels nicht dem einer Wohnsiedlung entspricht, wollten wir herausfinden, ob und in welcher Hinsicht das Grandhotel als Inspirationsquelle für die Siedlungsplanung dienen kann. Deshalb haben wir die Leitung des Hotels Waldhaus in Sils angefragt, ob sie bereit wäre, mit uns zusammen ihr Haus daraufhin zu durchleuchten und diese Frage zu erörtern. Das Resultat dieser Recherche umfasst auf den folgenden Seiten eine Beschreibung der Räume und der Dienstleistungen dieses Fünfsternehauses im Oberengadin und das Protokoll eines Rundgangs und eines langen Gesprächs mit dem Hoteldirektor.


Anmerkung:
[01] www.familistere.com

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: