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TEC21 2013|36
Inspiration Grandhotel
TEC21 2013|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Hotel Waldhaus Sils: Räume, Service und Stil

Im Gegensatz zu vielen anderen Grandhotels wurde das Waldhaus Sils nie durch grobe Umbauten verändert. Noch immer führt die Gründerfamilie das 1908 eröffnete Haus. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Prinzip der Pflege – von Gästen und Personal, von Architektur und Mobiliar, von Dienstleistungen und Räumen, von Tradition und sanfter Erneuerung.

30. August 2013 - Ruedi Weidmann
Josef und Amalie Giger-Nigg hatten in Bad Ragaz, St. Moritz und im Ausland erfolgreich grosse Hotels geleitet, als sie sich entschlossen, ein eigenes Haus zu eröffnen. Der Aufschwung des Oberengadins zur Feriendestination für die Reichen Europas war seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Gang und beschleunigte sich mit der Erschliessung durch Strasse und Bahn. Das Paar wählte den Ort sorgfältig: Sein Waldhaus steht über dem Dorf Sils-Maria auf einem Felssporn, der am Ausgang des Fextals in die Ebene zwischen Silser- und Silvaplanersee vorstösst und Aussicht nach allen Richtungen bietet.

Ein Stück Stadt im Bergwald

Der mächtige Bau entstand 1906–1908 nach Plänen des jungen, aber bereits erfolgreichen Architekten Karl Koller. Das kompakte Volumen wächst mit mehreren Untergeschossen aus dem steilen Fels. Auf dem Eingangsniveau, Saaletage genannt, reihen sich die Empfangs- und Gasträume in schönen Enfiladen aneinander; mehrere Sichtachsen eröffnen Blicke quer durch die Säle in die baumbestandene Landschaft hinaus und lassen Sonnenlicht bis tief in die Räume dringen. Ein grosses Treppenhaus steigt aus der Eingangshalle in die vier Obergeschosse, auf denen an breiten Gängen 140 Zimmer liegen. Die Implantation eines mondänen Wohnkomplexes in ein alpines Bergdorf samt allen Annehmlichkeiten, die sonst nur die Stadt bot, verlangte eine umfangreiche Infrastruktur: Ein kleines Kraftwerk mit Dieselmotoren erzeugte eigenen Strom, eine Grossküche mit diversen Lagerräumen versorgte die Gäste, ebenso Bäckerei und Wäscherei. Dazu gab es eine Kapelle, ein Hausorchester, einen Coiffeursalon, eine Floristin usw. Die vielen Angestellten wohnten unter dem Dach und in den Halbgeschossen unter und über der Saaletage.

Den Gästen standen zahlreiche Gemeinschaftsräume zur Verfügung, allen voran die grosse Hotelhalle, dazu zwei Speisesäle, ein Restaurant, eine Bar, eine Bibliothek und weitere Aufenthaltsräume, eine Gartenterrasse im Wald und ein eigenes Schiff samt Kapitän, mit dem die Gäste Ausflüge auf dem Silsersee unternehmen konnten. In der Hochsaison lebten in diesem Stück Stadt mitten im Bergwald über 400 Gäste und Angestellte – damals doppelt so viele Menschen wie in Sils-Maria und im nahen Sils-Baselgia zusammen.

Das Hotel erlebte nach seiner Eröffnung einige erfolgreiche Jahre, durchlitt dann mit dem Zusammenbruch des Tourismus im Ersten Weltkrieg seine erste schwere Krise und folgte in den folgenden Jahrzehnten dem Auf und Ab des Luxustourismus im Engadin und den wirtschaftlichen Konjunkturen und sozialen Moden des 20. Jahrhunderts. Es blieb immer in Familienbesitz. Seit 2010 wird es von Claudio und Patrick Dietrich in fünfter und ihrem Onkel Urs Kienberger in vierter Generation geführt. In der Hochsaison hat es 290 Gäste, etwa 70 davon sind Kinder, und über 150 Angestellte.

Die starke Bindung an die Betreiber- und Besitzerfamilie prägt Charakter, Ökonomie und Entwicklungsstrategie. Das Waldhaus versteht sich als temporäre Heimat, Gasthaus und dauerhaftes Projekt. Überschüsse in guten Jahren werden in die Werterhaltung, die Anpassung an neue Bedürfnisse und die zurückhaltende Erweiterung der Infrastruktur investiert.

Tradition, Erneuerung und räumliche Vielfalt

In den letzten Jahren hat das Architekturbüro Miller & Maranta den Eingang und einen Teil der Aufenthaltsräume neu organisiert und gestaltet (TEC21 13/2009, S. 22). Dabei wurden dem Dolomit unter dem Haus drei Konferenzzimmer abgerungen. Das Haus ist äusserst kompakt gebaut und soll auch kompakt bleiben. Beim jüngsten Eingriff 2012 schufen die Architekten durch Demontage, Drehung um 90 Grad und Wiedereinbau des kleinen À-la-carte-Restaurants Platz für ein ovales Fumoir mit Cheminée. Grosser Respekt vor dem Bestand und viel Gespür für ein Weiterbauen im Geist des Hauses leitet diese Umbauten. 2005 wurde es als historisches Hotel des Jahres ausgezeichnet.

Der Architekt Armando Ruinelli aus Soglio erneuert fast jährlich einige Zimmer. Der hohe Installationsgrad eines Hotels führt zu einer «vertikalen Baustrategie»: Über alle Geschosse hinweg werden jeweils einige nebeneinander liegende Zimmer erneuert. Somit wechseln sich die Epochen horizontal ab; neu gestaltete Zimmer liegen neben solchen aus den 1920er-Jahren mit historischem Mobiliar. Alle haben mittlerweile ein eigenes Bad. Dafür mussten einige kleine Zimmer zusammengelegt werden. Dank Ausbauten im Dach und der Auslagerung von Personalzimmern in Neubauten mit 29 Wohnungen blieb aber das Raumangebot für Gäste und Personal erhalten. Im Hotelgebäude sind 48 Personalzimmer verblieben. Die Betreiber wirtschaften mit unterschiedlichsten Raumgrössen, Bettformaten und Ausstattungen und nehmen es auf sich, dem Gast, der «das gleiche Zimmer wie letztes Jahr» wünscht, Varianten zu erklären, falls sein Lieblingszimmer schon belegt ist. Der Anspruch, jeden Gast persönlich zu begrüssen und zu betreuen, begrenzt die Grösse des Betriebs auf sein heutiges Mass. Die Besitzerfamilie empfindet den behutsamen Umgang mit dem denkmalgeschützten Bestand nicht als lästige Pflicht, sondern als permanente Pflege und Ergänzung einer reichen Geschichte, durch die der Charakter des Hotels erhalten bleibt.

Wohnen und Arbeiten

Diese respektvolle, aber nie erstarrte Haltung zeigt sich auch in der Gestaltung des Hotelalltags. Der Stil des Hauses ist traditionsbewusst, nicht nur was die bauliche Substanz, sondern auch was die angebotenen Dienstleistungen betrifft. Das feine, öffentlich zugängliche Kulturprogramm mit Schwerpunkten in Musik, Literatur und Theater ist das Markenzeichen des Waldhauses und zieht ein internationales kulturinteressiertes Publikum an.

Ein grosser Teil davon sind Stammgäste. Unter ihnen wie unter den Angestellten gibt es etliche, die schon in zweiter und dritter Generation hier Ferien machen oder arbeiten.

Die Stimmung im Haus ist entspannt, der Umgang unter den Gästen und mit dem Personal ausgesprochen herzlich. Man kommt ungezwungen ins Gespräch, es ist ein Ort, wo man Bekanntschaften macht.

Das Waldhaus Sils bietet die üblichen Dienstleistungen eines Fünfsternehotels: eine gepflegte Küche mit grossem Weinkeller, warmes Essen und Zimmerservice rund um die Uhr, tagsüber Bedienung in allen Gasträumen, Limousinenservice zum Bahnhof St. Moritz und zum Flugplatz Samedan usw. Die ursprünglichen Gemeinschaftsräume existieren im Waldhaus alle noch, während sie in Grandhotels, die heute im Besitz von Investitionsgesellschaften sind, Labelshops Platz gemacht haben. Vergleichsweise bescheiden ist das Wellnessangebot. Das von Otto Glaus und Robert Obrist 1970 in den felsigen Lärchenwald eingepasste Hallenbad hat heute bereits Denkmalwert und wird auch in diesem Sinne gepflegt. Dafür spielt im Waldhaus nach wie vor täglich das Hausorchester – nachmittags klassisch in der Halle oder im Garten, abends Jazz in der Bar.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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