Zeitschrift

TEC21 2013|37
Pier Luigi Nervi
TEC21 2013|37
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Neugier und Obsession

Die Rezeption Pier Luigi Nervis (1891–1979) erkennt in ihm einen Ingenieur-Architekten, der ganzheitlich an ein Bauprojekt heranging, experimentell arbeitete und Kongruenz von Form und Tragwerk zustande brachte. Carlo Olmo, Professor am Politecnico von Turin, identifiziert dahinter zwei ­hervorstechende Eigenschaften dieses Mannes – seine Neugier und seine Obsession – und vergleicht ihn im Gespräch[01] mit Ahab, dem Protagonisten von Herman Melvilles «Moby-Dick». Wenn von Nervi etwas zu lernen sei, dann dies: sein Metier leidenschaftlich zu betreiben, neugierig zu sein und die Interdisziplinarität in sich selber zu finden.

6. September 2013 - Rahel Hartmann Schweizer
Für Carlo Olmo, Kurator der Ausstellung «Architektur als Herausforderung», die ab 19. September an der ETH Zürich zu sehen ist (vgl. Kasten), ist das Faszinierende an Pier Luigi Nervis ­Persönlichkeit zum einen seine Komplexität: Er war nicht nur ein Ingenieur, der seiner Sen­sibilität für die Kongruenz zwischen Tragwerk und architektonischem Ausdruck verdankte, als Ingenieur-Architekt bezeichnet zu werden. Er war auch Autor, Lehrer, Sammler, Aka­demiker, Intellektueller – und Promotor seines eigenen Ruhms. Zum anderen zieht er Olmo in seinen Bann, weil sich in ihm auf der persönlichen Ebene ein Paradox manifestiert, das wie der Reflex seines Schaffens und seines Umfelds in der damaligen Zeit erscheint.

Auf der Ebene seines Werks war es Nervis Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit und mit minimierten Kosten immer komplexere Bauten zu realisieren, in denen das Tragwerk für die aussergewöhnliche architektonische Ausformulierung bestimmend war – durchaus auch mit Lösungen, die statisch nicht die Naheliegendsten waren (siehe «Vom Stahl zum Beton», S. 18). So hat man das Stadion Berta in Florenz als «statisches Paradox» bezeichnet, in dem die Stabilität durch die Balance zwischen den Trägern und dem Gegengewicht der Freitreppe erzielt wurde. Analoges gilt für die technologische Entwicklung: Das Mass der technologischen Suche war die Kontrolle und die Effizienz. Das Verfahren aber, um ­dahin zu kommen, war das mit dem Irrtum jonglierende Experiment: «prova-errore» («trial and ­error»). «Effizienz und Irrtum führen eine Koexistenz. Man ist bestrebt, eine Welt zu ­erschaffen, in der der Nutzen maximiert ist, während das mit Fehlern operierende ­Experiment das Risiko austreiben soll. Ohne dieses Paradox zu verstehen, ist es schwierig, das Phänomen Nervi zu erfassen», ist Olmo überzeugt.

Sein persönliches Schicksal habe sich schliesslich in dem Paradox erfüllt, dass er – zu ­Lebzeiten eine Persönlichkeit «von internationaler Statur» – nach seinem Tod sang- und klanglos untergegangen sei, ehe die Erinnerung an ihn im Lauf ungefähr der letzten fünf Jahre wieder erwacht sei und zu einer wahren Flut von Studien, Forschungen, Symposien etc. geführt habe. Auch dies ein Aspekt, den es zu entschlüsseln gelte, wenn man ­Nervi verstehen wolle: «Weshalb verschwindet Nervi, der eine enorme Berühmtheit erlangt hat und dessen grossartige Bauwerke bis heute faszinieren, plötzlich von der Bildfläche? Nervis Sohn Antonio stirbt, beladen mit einer vielleicht zu grossen Verantwortung, vier ­Monate später an einem Herzinfarkt. Nervis Firma wird verkauft und ist zwei Jahre danach ruiniert. Nervi und die ganze Welt, die er konstruiert hat, verschwinden – wie Ahab, der ­Waljäger, mit Moby-Dick in den Fluten des Pazifischen Ozeans untertaucht.»

Der Vergleich mit Kapitän Ahab zielt gleichermassen auf die Parallele der Ausstrahlung, des physischen Versinkens, des metaphorischen In-Vergessenheit-Geratens und des mythischen Wiederauftauchens beider – wiewohl unter umgekehrten Vorzeichen: Ahab hinterlässt ein Werk der Zerstörung. Nervis Vermächtnis dagegen ist ein imposantes Œuvre, das ebenso den Ehrgeiz geweckt habe, es zu erforschen, wie, sich an ihm zu messen. In beiden Fällen ortet Olmo die Ursache in der Obsession. «Besessenheit ist eine Eigenschaft, die hilft, Ziele zu erreichen, eine Eigenschaft aber auch, die das Umfeld unter Stress setzt. Ich denke ­daher, es war diese Obsessivität, die dazu geführt hat, dass sein Tod am Ende als ein ­Moment der Befreiung empfunden wurde.» Als Motor lokalisiert Olmo sie nicht nur in Nervis gebautem Werk, sondern ebenso in seinen Schriften, seinen Vorlesungen, seinen Sym­posien, seinen Reisen und seiner Betriebsführung – «Aktionen» auch um der Mehrung des eigenen Ruhms willen und um sich im jeweiligen Umfeld bewegen zu können. So arbeitet er «bis 1942, während der Zeit des Faschismus, für die Marine, setzt sich andererseits ­während des Zweiten Weltkriegs dafür ein, dass Juden dem Konzentrationslager entgingen. Ende der 1940er-Jahre nimmt er das Pontifikat für sich ein; wird Mitglied der Päpstlichen Akademie. In den 1950er-Jahren setzen die Vorlesungen, Reisen und Konferenzen ein, mit denen er sich als Gelehrter etabliert, und in den 1960ern verführt er die Amerikaner.»

Er fühlte sich nicht der Welt der Ingenieure zugehörig, die sich anschickte, sich zu professionalisieren und eine Vorstellung des Ingenieurwesens hatte, die sich nicht mit der «intuitiven Methode» Nervis deckte. Er ging nicht von der mathematischen Formel aus, die das Verhalten von Materialien und Strukturen präfiguriert, sondern von der Realität, die die Modelle bis zu ihrer Zerstörung strapazierte (siehe «Experiment als Instrument»). «Er lehrt denn auch an einer Architekturfakultät. Seine Ambition ist es, ein Intellektueller zu sein, der unterrichtet, Konferenzen abhält, seine Auftraggeber und grosse Auditorien fasziniert. Zum Teil geht darauf auch zurück, dass er als Ingenieur-Architekt gesehen wird.»

Diese Verbindung faszinierte zu seinen Lebzeiten. Könnte sie eine Option für die Ausbildung heute sein? Olmo rät zur Zurückhaltung. Denn es wäre zu kurz gegriffen, sein Werk nur als Ausdruck dieser Fähigkeit zu sehen. Er habe eine derart komplexe Art der Konzeption seiner Bauten gehabt, dass sich diese nur entschlüsseln liessen, wenn man weitere Faktoren berücksichtige. Seine Arbeit habe auf einer wissenschaftlichen Kultur basiert, die man als aufklärerisch, wenn nicht gar als humanistisch bezeichnen könnte. Die Genese der Formen seiner Bauten lasse sich nicht als Frucht eines «problem solving» erklären, sondern als ­Synthese verschiedener Stränge: «Wenn man wirklich erforschen will, woher diese speziellen Formen kommen, muss man sich mit seiner Sammlung von Blättern und Pflanzen, von ­aussergewöhnlichen Büchern über Mikroorganismen auseinandersetzen, die die Matrize seines Organizismus waren. Man muss seine Fotoalben – ein wahrhaft eklektizistischer ­Fundus an Wiedergaben von Bauwerken – studieren, um die Entwicklung seiner Ikonografie zu entdecken und erforschen, wie beides mit seiner dem amerikanischen Empirismus ­nahen Art des Experimentierens interagierte. Und schliesslich wären die Dialoge einzubeziehen, die er mit Physikern, Biologen, Medizinern, Advokaten und Künstlern[2] führte. Das ist nicht einfach.» Überdies habe die Spezialisierung eine kaum überschaubare Zahl von ­Fachrichtungen hervorgebracht, die sich zunehmend voneinander entfernt hätten – bei den Studenten würden Träume geweckt, die nur in Desillusionierung münden könnten.[3] «Aber ja, eine spezifische Art der Interdisziplinarität ist von ihm zu lernen – allerdings nicht eine mit unendlichen vielen Akteuren und Spezialisten, von denen keiner die Sprache des Andern spricht.» Nervi habe die Interdisziplinarität in sich selber gefunden – leidenschaftlich und neugierig. Diese Lektion sei heute von ihm zu lernen: disziplinenübergreifend wissbegierig zu sein und sein Metier mit Begeisterung zu betreiben.


Anmerkungen:
[01] Ein Kondensat des Gesprächs mit Carlo Olmo im Originalton findet sich auf [...]
[02] Vieri Quilici hat auf die Verbindung zwischen Nervi und György Kepes hingewiesen. Interview mit Vieri Quilici und Ettore Masi, in: Francesca Romana Castelli, Anna Irene Del Monaco (Hg.), Pier Luigi Nervi e l’architettura strutturale, Rom, 2011, S. 194–200, hier: 196. Die farbigen Glasfenster in der St. Mary’s Cathedral in San Francisco stammten von György Kepes.
[03] Sergio Poretti hat hervorgehoben, es sei kein Zufall, dass die experimentellen konstruktiven Systeme Nervis ebenso wie jene eines Eduardo Torroja oder Felix Candelas in Italien, Spanien und Südamerika entstanden – in Ländern, in denen die Lohnkosten zu jener Zeit vergleichsweise tief waren: Vortrag am Giornata di studio L’insegnamento di Pier Luigi Nervi alla Sapienza, 18.2.2011, Museum MAXXI, Rom.

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