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zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

Architektur als soziale Praxis

Das »Vorarlberger Architekturwunder« soziologisch erklärt

31. Oktober 2013 - Anita Aigner
Die Bekundung, Architektur als soziale Praxis zu verstehen, mag bei professionellen SoziologInnen gelangweiltes Gähnen hervorrufen (geschenkt, was soll sie denn sonst sein), im Feld der Architektur liegt dies anders. Hier kann man mit einer solchen Ankündigung bzw. Aussage noch Stellung beziehen. Abgesehen davon, dass natürlich auch das naive Alltagsdenken ein Schnippchen schlagen kann (welcher Architekt möchte seine Praxis nicht als eine ‚menschliche’ und ‚menschenwürdige’ sehen), lässt die Rede von Architektur als sozialer Praxis vor allem eine Erwartung entstehen. Die Erwartung, dass nicht das (ästhetische) Objekt im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht, sondern der ‚gesellschaftliche Rahmen’ – also die gesellschaftlichen Bedingungen des Entstehens, des Gebrauchs und der Rezeption von Architektur, die sozialen Akteure, die in die Prozesse des Planens und Bauens eingebunden sind, und die Diskurse, in denen Gebautes verhandelt und Architektur (als symbolisches Gut) gesellschaftlich hergestellt wird. Dass sich gesellschaftliche Verhältnisse in Architektur nicht nur abbilden, sondern sich Architektur auch gesellschaftlich auswirkt ist ein Stehsatz, mit dem heute in der ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Stadtforschung und auch in der neueren Architektursoziologie das Verständnis von Architektur als sozialer Praxis untermauert wird.

Günther Prechter, der sich mit seiner akteurszentrierten Studie über das gegenwärtige Bauwesen in Vorarlberg diesem Forschungskontext und seiner analytischen Grundausrichtung einschreibt, gelingt mit dem prägnanten Titel seiner Arbeit eine Verdichtung. Er rammt einen Pflock ein: Hier befinden wir uns nicht im feldinternen Legitimierungsdiskurs! Hier wird in anderer Weise über Architektur gesprochen! Hier wird nicht das Ding selbst, sondern ‚das Soziale’ zum Gegenstand gemacht! Dass er sich ein genaueres Eingehen auf den so zentral positionierten Begriff der Praxis erspart, hat wohl auch damit zu tun, dass im besagten Forschungskontext zwar viel von Praxis und Praktiken die Rede ist, aber ihre Theoretisierung – wie sie in der Soziologischen Theorie und Wissen(schaft)ssoziologie aktuell im Diskurs um den ‚Practice Turn’ zu verfolgen ist1 – bislang kaum Eingang gefunden hat. Eine theoretische Vorstellung von Praxis und Handeln, ja auch eine Theorie der (Forschungs)Praxis (als Praxis) wären zur Fundierung empirischer Forschung zwar wünschenswert, sind aber auch nicht wirklich notwendig. Denn so wie der Vogel zum Fliegen keine theoretische Aufklärung über das Funktionieren seiner Flügel braucht, kann auch der empirische Forscher, ohne sich mit theoretischem Metawissen (wissenssoziologische Grundlagen miteingeschlossen) zu belasten, seinem Handwerk der Forschung nachgehen.

Natürlich hinkt dieser Vergleich und es hieße die Arbeit von Prechter zu verkennen, wollte man ihm mit Verweis auf einen vage bleibenden Praxisbegriff naives Forschertum unterstellen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann im Gepäck weiß Prechter, dass es sich bei Architektur um eine „gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit“ handelt, die sich in ihrer Entstehung, ihren Wirkungsweisen und in ihrer Konfrontation mit konfligierenden Wirklichkeiten systematisch beschreiben lässt. Vertraut mit der Kultursoziologie Pierre Bourdieus, hat er eine Vorstellung von Architektur als Mittel gesellschaftlicher Distinktion und als wertverwaltende, nicht ohne den Staat zu denkende Institution entwickelt. Bourdieus (Individuum und Gesellschaft zusammenbringendes) Habituskonzept ist es auch, das ihn nicht nur die berufsspezifischen Dispositionen als stillschweigende kollektive Wissensdimension erkennen lässt, sondern ihn auch nach „habituellem Architekturwissen“ von Laien, nach Architektur als Alltagswissensbestand fragen lässt. Und schließlich ist ihm mit Ralf Bohnsacks Dokumentarischer Methode der Interpretation ein Werkzeug an die Hand gegeben, das ihm bei der Auswertung seiner Daten – Interviews mit PlanerInnen, BauherrInnen, gewerblichen BauträgerInnen, HandwerkerInnen und BehördenvertreterInnen – auch die eigene Forschungspraxis reflektieren lässt.

Weil Prechter darauf abzielt, die soziale Wirklichkeit des ‚Vorarlberger Architekturwunders’ zu rekonstruieren, er also die von Institutionalisierung und widerstreitender Wahrnehmung begleitete Durchsetzung von zeitgenössischer Architektur in einer traditionell von Bauhandwerk bestimmten Region verstehen will, muss er in einem ersten Schritt die Verwendung des Wortes Architektur klären. Unter Zurückweisung eines universellen (das gesamte Bauen einschließenden) Architekturbegriffs betrachtet er „nur solche Bauwerke als Architektur, denen ein Entwurf professioneller Architekten zugrunde liegt“. Damit übernimmt er die für das Feld bzw. System2 Architektur grundlegende Unterscheidung in Architektur und Nicht-Architektur (bzw. dem Rest außerhalb). Das ist kein Rückfall, kein Naturalisieren und unbewusstes Fortschreiben der Hauptkategorie professioneller Selbstwahrnehmung, sondern eine methodologische Notwendigkeit. Denn um die verschiedenen Teilbereiche des Bauens – konkret das gewerbliche Bauhandwerk und die (ArchitektInnen-)Architektur – als konkurrierende Baukulturen, in ihrer Relation, ihren Differenzen und Interferenzen erfassen zu können, müssen sie im theoretischen Modell auch auseinandergehalten werden.

Wenn Prechter die Frage „Was ist Architektur?“ als forschungsleitend vorstellt, mag man kurz zusammenzucken und die Falle des Essentialismus zuschnappen hören. Das wäre aber ein Missverständnis, denn Prechter stellt diese Frage seinen Gesprächspartnern mit dem Ziel, herauszufinden, wer welche Haltung zu gesellschaftlich als Architektur klassifizierten Bauten einnimmt bzw. wie, von wem und mit welchem Interesse Architektur (als ‚legitime’, mit künstlerischem Mehrwert attributierte Form des Bauens) konstruiert wird.

Bevor die ethnografische Arbeit im Hauptteil ausgebreitet wird, unternimmt der Autor in zwei vorangehenden, mit „Architektur?“ und „Vorarlberg“ überschriebenen Kapiteln zunächst den etwas mäandernden (eigentlich schon in der Einleitung begonnenen) Versuch, Architektur (als Profession, Institution und gleichermaßen sozial hierarchisiertes wie hierarchisierendes Kulturprodukt/„Hochkultur“) in ihrer historischen Gewordenheit bzw. gesellschaftlichen Gemachtheit darzustellen. An einem zeitgenössischen Fallbeispiel von „Architektur als Kunst“ (Supermarkt) wird auch die Frage der Zugänglichkeit von Architektur, die schichtspezifische Dimension ihres Erkennens und Anerkennens als Kunstform behandelt.

Es folgt eine kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Einführung in drei – was das Eindringen von Architektur betrifft – sehr unterschiedlich geprägte Gebiete Vorarlbergs (Montafon, Bregenzerwald, Rheintal). Im Anschluss werden die „Vorarlberger Baukünstler“ und das „Vorarlberger Architekturwunder“ als Produkt einer von feldinternen InterpretInnen geleisteten Kanonisierungs- und Historisierungsarbeit rekonstruiert (also der autonome Fachdiskurs zum Gegenstand der Forschung gemacht).

Der Hauptteil gliedert sich in vier, mit den Titeln „Holz“, „Haus“, „Dorf“ und „Handwerk“ überschriebene Kapitel. Die Überschriften mögen frugal anmuten, der Inhalt ist es nicht. Im Kapitel „Holz“ gewinnen der Leser und die Leserin einen Eindruck, welche verantwortungsvolle Rolle PlanerInnen bei der Baustoffwahl zuwächst, wie sie mit Verwendung lokaler Produkte bewusst die Marktgesetze eines globalisierten Rohstoffmarktes außer Kraft setzen und einen Beitrag zur Ökonomie des kleinräumigen Wirtschaftens leisten können (oder bei üblichem Materialbezug aus dem Holzgroßhandel eben nicht). Auch wird man mit im Wandel begriffenen kulturellen Deutungsmustern, mit Wertungen und Umwertungen des Baustoffes Holz konfrontiert. Prechter widmet sich speziell jenem gesellschaftlichen Umwertungsprozess, der infolge des demonstrativen Einsatzes von Holz im architektonischen Kontext und seiner Verwissenschaftlichung (Holzbauforschung) aus dem armen, ehemals für mindere Bauaufgaben zum Einsatz gebrachten Baustoff eine kostbare, weil auch für die Region identitätsstiftende Ressource gemacht hat. Wo die Beziehung von Architektur und Handwerk auf der Ebene von Baupraxis und Baustelle untersucht wird, werden nicht nur Differenzen hervorgehoben – etwa das (ästhetische) Bildwissen der ArchitektInnen, das dem materialgestützten Verarbeitungswissen des Zimmermanns gegenübersteht –, sondern auch Transformationen, die sich (vor allem für das Bauhandwerk) aus der Kollaboration der konkurrierenden ExpertInnengruppen und der technischen Modernisierung ergeben.

Im Zentrum des Kapitels „Haus“ steht der Prozess der gesellschaftlichen Durchsetzung des ArchitektInnen-Hauses im ländlichen Raum, sein Weg vom singulären Fremdkörper mit sozialer Sprengkraft zum dörflichen, allgemein-anerkannten „Normalfall“. Interessant ist hier der Fall eines im Bau befindlichen Holzhauses, für den die lokale Baubehörde aus ästhetischen Gründen den Abbruchbescheid ausstellt, die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs aber den Staatspreis vergibt. Während die Bauherren bei der Sonntagsmesse nicht mehr gegrüßt werden, treffen laufend Reisebusse mit ArchitekturtouristInnen zur Besichtigung des Bauwerks ein. Der von außen aufgezeigte Wert wirkt auf das lokale Milieu der Dorfgemeinde zurück, stellt den lokalen Bauausschuss infrage, der schließlich abgeschafft und durch einen Gestaltungsbeirat ersetzt wird. Prechter knüpft an dieses Fallbeispiel nicht nur den Befund, dass „Architektur in Vorarlberg zur normativen und legislativen Institution geworden“ ist, er streicht auch heraus, dass der Wandel in der Bewertung der Ästhetik eng mit Verwaltungsstrukturen verflochten ist, in denen der Staat (neben Grad und Art der baulichen Nutzung) auch die ästhetische Gestalt der Bebauung regelt.

Dieser essentielle Aspekt der Beziehung zwischen Staat und Architektur wird im Kapitel „Dorf“ eingehend untersucht. So zeigt die Analyse der Vorarlberger Baugenehmigungs- und Raumplanungspraxis wie die Befürwortung zeitgenössischer Architektur seit den 1980er Jahren von den oberen in die unteren Instanzen der Baubehörde durchgesickert ist und mit der Etablierung der Gestaltungsbeiräte (in ca. 1/3 der Vorarlberger Kommunen) ein Governance-Modell Platz gegriffen hat, das der ArchitektInnenschaft das Privileg einräumt, in Baugenehmigungsverfahren direkt Einfluss auszuüben.

Auch wenn Prechter nicht darin zuzustimmen ist, dass „Ästhetisierung gegenseitige Abwendung und gesellschaftliche Vereinzelung bewirkt“, und seine These von der Architektur als „Ersatzreligion“ etwas platt anmutet (Architektur ist freilich, genau wie die Religion oder das Politische, sinnstiftend, dabei aber weniger ideologisch belastet und deutlich kompatibler mit der kapitalistischen Ökonomie), stellt seine vielschichtige Studie einen Beitrag zur Analyse der spätmodernen Gesellschaft als einer ästhetisierten dar. Die wesentlichen Bedingungen der Ästhetisierung des baulichen Bestandes der Dörfer identifiziert der Autor im Anwachsen der akademisch gebildeten Schicht auf dem Land als Trägerschicht, in der Einrichtung von Gestaltungsbeiräten und der wirtschaftspolitischen Indienstnahme von Architektur als Leitkultur zwecks Standortmarketing. Allerdings vergisst Prechter, dass auch die massenhafte ‚Produktion’ von AbgängerInnen an den Reproduktionsinstitutionen zusammen mit der zunehmenden Mediatisierung von Architektur (z.B. in populären Fernsehsendungen) und der Ausdehnung des Preis- und Würdigungssystems die Möglichkeit der Durchsetzung von Architektur im ländlichen Raum wesentlich bedingt. Wobei das feststellbare Mehr an Architektur nicht einfach nur Produkt von Demokratisierung ist, sondern zugleich auch Produkt eines ‚Kulturimperativs’, der sich mit den besitzindividualistischen Motiven der modernen Marktgesellschaft und dem hochgradig kulturalisierten Politikmodell eines Europa der Regionen aufs Harmonischste vereint.

Alles in allem stellt Prechters empirische Studie einen beachtenswerten Beitrag zur neueren Architektursoziologie dar. Nicht zuletzt deshalb, weil sie der gegenwärtig dominanten Stadtforschung eine Auseinandersetzung mit dem Dorf entgegenhält. Als freiberuflich in Vorarlberg lebender Architekt hat es der Autor geschafft, die für sozialwissenschaftliche Forschung notwendige Distanz aufrecht zu halten und die intime Kenntnis architektonischer Praxis (die dem professionellen Soziologen in der Regel verwehrt bleibt) für die Forschung zu nutzen. Vor seinem biografischen Hintergrund ist die Arbeit ein Akt der Selbstvergewisserung. Er hat sich nicht nur die Eigenheiten des eigenen Stammes, die Funktionsweise der Institution, die er selber bewohnt, sondern vor allem das eigene Tun, die architektonische Praxis im ländlich-dörflichen Umfeld etwas durchsichtiger gemacht. Sein Buch ist deshalb nicht nur ArchitektInnen, sondern auch all jenen zu empfehlen, die sich für Architektur auf dem Lande interessieren und stark machen. Kein Architekt, keine Architekturvermittlerin wird nach ernsthafter Lektüre je wieder naiv an die Arbeit gehen. Es sei jedoch auch angemerkt, dass es dafür ein gewisses Durchhaltevermögen braucht. Die überarbeitete, im Böhlau-Verlag nun gedruckt vorliegende Dissertation leidet mit ihren fast 500 Seiten ein wenig unter Akkumulitis. Man möchte dem Autor den Rat geben, vor das Kruzifix im Herrgottswinkel eines Bregenzerwälder Bauernhauses zu treten. Das war einmal ein Holzscheit, und man kann sehen, was es heißt: abtragen, wegnehmen, das Wesentliche herausbringen.


Anmerkungen:
[01] Wer die strenge Luft der ‚echten’ Theorie wittern und sich einen Eindruck über den Praxisbegriff (d.h. seinen Streit darüber) verschaffen will, konsultiere die Schriften zu dem u.a. von T. Schatzki, K. Knorr-Cetina und A. Reckwitz ausgerufenen ‚Practice Turn’; zum Überblick und als kritischer Kommentar dazu vgl. Gregor Bongaerts: „Soziale Praxis und Verhalten – Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory“, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 36/4, 2007, S. 246-260; siehe auch online: http://www.zfs-online.org/index.php/zfs/article/viewFile/1245/782 [12.8.2013]
[02] Eigentlich macht es keinen Unterschied, ob von Feld oder System gesprochen wird – das ist theoretische Geschmackssache. Dennoch ist festzuhalten, dass ein „System“ als durch eine grundlegende Operation der Unterscheidung erzeugt verstanden wird, während der Bourdieusche Feldbegriff (forschungspraktisch) vor allem auf das Ausnehmen von konkurrierenden Positionen angelegt ist. Vgl. A. Nassehi, G. Nollmann: Bourdieu und Luhmann: Ein Theorievergleich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004.


Günther Prechter
Architektur als soziale Praxis
Akteure zeitgenössischer Baukulturen:
Das Beispiel Vorarlberg
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2013
480 Seiten, 40,10 Euro

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