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TEC21 2013|43
Genf plant die Zukunft
TEC21 2013|43
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Genfs Richtplan 2030: Ende der Zonenplanung

Genfs Kantonsparlament hat den neuen kantonalen Richtplan genehmigt. Er ist von historischer Bedeutung, denn er verlässt das überholte Prinzip, die Stadt in Wohn-, Industrie- und Dienstleistungszonen aufzuteilen. ­Künftig soll der Raum im Kanton Genf entweder Stadt oder Land sein: entweder dicht bebaut und funktional gemischt oder unbebaut und naturnah. Die bestehende Bebauung wird radikal verdichtet. Die grosse Frage aber ist: Wer soll das alles bauen?

18. Oktober 2013 - Ruedi Weidmann
Im Kanton Genf waren Verkehrs- und Stadtentwicklung und der Wohnungsbau in den letzten Jahrzehnten politisch weitgehend blockiert. Alle Projekte scheiterten an der Urne. Daraus resultierten Versäumnisse: Die 1.5-Millionen-Metropole hat bis heute keine S-Bahn, dafür einen katastrophal hohen Anteil der Autos am Gesamtverkehr, tägliche Staus, Luft- und Lärmwerte im Alarmbereich. Die Agglomeration ist rasch gewachsen, jedoch nur in Frankreich, da in Genf kaum Wohnungen gebaut wurden. Ein Grund dafür liegt in der kantonalen Politik, die stark auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Das ist aus Sicht einer nachhaltigen Entwicklung zwar positiv, doch bremsen etliche Gesetze Investitionen in den Wohnungsbau. Das Resultat: grosse Wohnungsnot in Genf, Abwanderung über die Grenze und noch mehr Pendlerverkehr (TEC21 36/2011).

Raumplanung über die Landesgrenzen

Nach einem langen Vernehmlassungsverfahren und etlichen Modifikationen hat nun aber das Kantonsparlament am 20. September den neuen kantonalen Richtplan 2030 angenommen. Er basiert auf den Hauptthemen Stadtentwicklung, Verkehr und Landschaftsraum. Neu und ausserordentlich an diesem Plan ist zunächst, dass er das Genfer Agglomerationsprogramm konkretisiert, das neben dem Kanton Genf auch den Waadtländer Bezirk Nyon und Teile der französischen Departemente Ain und Haute-Savoie umfasst. Somit beschreibt der Richtplan die künftige Entwicklung Genfs auf überkantonaler, ja internationaler Ebene.

50 000 Wohnungen in 17 Jahren

Im Bereich Stadtentwicklung sieht der Richtplan den Bau von 50 000 neuen Wohnungen bis 2030 vor. Zur Erinnerung: Das boomende Zürich realisierte im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts «10 000 Wohnungen in 10 Jahren». Bemerkenswert ist auch, wo und wie dieses Wachstum stattfinden soll: Das dichte, multifunktionale Stadtzentrum Genfs dient als Vorlage für die Stärkung von Subzentren und die Nachverdichtung bestehender Quartiere entlang von Achsen des öffentlichen Verkehrs. Ziel ist eine Stadt der kurzen Wege, in der man sich zu Fuss, mit dem Velo und in öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen Wohnung, Arbeitsplatz, Einkaufsläden und Erholungsorten bewegen kann. Im Richtplan sind dafür zehn prioritäre Entwicklungszonen bestimmt worden, die «Grand Projets» (vgl. Kasten).

Stadt oder Land

Ziel ist auch eine Stadt, die bis an ihre Ränder so dicht und lebendig bleibt wie in ihrem Zentrum, aber von naturnahen und landwirtschaftlichen Grünzügen umgeben und durchdrungen ist. Denn zwischen den dichten Stadtteilen liegt ein Netz von öffentlichen Grünräumen, die bis in die Kernstadt führen. Der ländliche Raum wird nicht mehr als Reserve für die Siedlungsentwicklung betrachtet, sondern als Raum für die stadtnahe Lebensmittelproduktion und für Projekte zur Vernetzung der natürlichen Lebensräume (vgl. S. 32). öffentlicher nahVerkehr Im Bereich Verkehr sieht der Richtplan endlich ein ausreichendes Regionalverkehrsnetz vor. Kernstück ist die S-Bahnlinie CEVA, die seit 2011 im Bau ist (Tec21 36/2011). Rund um ihre von Jean Nouvel entworfenen Stationen soll die Bebauung nachverdichtet werden. Der Richtplan stärkt auch die Renaissance des Genfer Trams, das vor 60 Jahren fast ganz abgeschafft wurde. Das heute wieder existierende Netz soll mit Linien nach Bernex und über die Landesgrenzen nach St. Julien, Ferney-Voltaire und Annemasse ergänzt werden.

Anfang vom Ende der Zonenplanung

Die Verdichtung geschieht zum einen auf einigen neu eingezonten Flächen, vor allem aber in bestehenden Industrie- und Einfamilienhausgebieten, von denen viele für mehr Ausnützung und gemischte Nutzung geöffnet werden. Ein Beispiel ist das auch im internationalen Vergleich herausragende Projekt zur Umwandlung des Industriegebiets Praille-Acacias-Vernets (PAV) in ein Zentrumsgebiet (Tec21 36/2011). Auch wenn der Zonenplan erhalten bleibt, läutet der neue Genfer Richtplan damit das Ende der klassischen Zonenplanung ein. Er überwindet das überholte Konzept der Aufteilung in Wohn-, Industrie- und Dienstleistungszonen. Die nachhaltige Stadt bietet alles im Quartier und produziert keinen Zwangspendelverkehr. Das ist ein historischer Schritt hin zu nachhaltigen Siedlungsmustern.

Wenig politischer Widerstand

Auf dieser planerischen und konzeptionellen Ebene überholt der Kanton Genf alles, was bisher in der Deutschschweiz in Sachen nachhaltiger Raumplanung gelaufen ist, um Längen. Der politische Widerstand war diesmal, zum Erstaunen aller Beteiligten, nicht unüberwindbar. Gegen das Aufzonen der Einfamilienhausgebiete gab es einigen Protest, doch scheinen das Genfer Stimmvolk und die wichtigsten Parteien und Verbände eingesehen zu haben, dass es einfach nicht weitergehen konnte wie bisher. Auch der Gewerkschaftsbund und der ebenso mächtige Mieterverband unterstützen den Aufbruch, nachdem sie teilweise höhere Anteile für den gemeinnützigen Wohnungsbau aushandeln konnten.

Und wer BAUT das alles?

Das grösste Hindernis liegt für einmal nicht in der Politik, sondern in der Macht der Gewohnheit. Die Frage ist nämlich, wer das alles bauen soll. Private und institutionelle Anleger werden in Genf durch Gesetze gebremst, die für soziale Gerechtigkeit im Wohnungsmarkt sorgen sollen, diesen jedoch kompliziert und unlukrativ gemacht haben. Non-Profit-Investoren wie Genossenschaften, Stiftungen oder die Gemeinden sind in den vergangenen Jahren auch nicht durch Initiative aufgefallen. Hier gäbe es Anregungen ennet dem Röstigraben – der für junge Genferinnen und Genfer übrigens kaum mehr von Bedeutung ist. Die jahrzehntelange Blockade in der Stadtentwicklung hat eine Planermentalität gefördert, die alles berücksichtigen will und sich nicht traut, Fehler zu machen. Deshalb wurden in Genf in den letzten Jahren in umfassenden Überlegungen und beeindruckenden Diskussionen zahllose kluge Studien, überzeugende Konzepte, wunderbare Pläne und schöne Publikationen erarbeitet – jedoch kaum Bauten realisiert, an denen die Ideen endlich sichtbar würden und überprüft werden könnten. Das Savoir-faire, der Mut zum Versuch scheint verloren gegangen zu sein. Beschleicht einen in der Deutschschweiz in neuen Quartieren nicht selten das Gefühl, etwas mehr konzeptionelle Überlegungen wären der Nachhaltigkeit und der Lebensqualität zuträglich gewesen, so packt einen in Genfs epischer Debatte pure Ungeduld: Baut doch endlich! Dann kann man die ersten Bauten evaluieren und die Konzepte und Verfahren aufgrund erster konkreter Erfahrungen justieren (vgl. S. 24). Nur in realen Projekten können Architekturschaffende adäquate Formen für die neuen Ansprüche finden – etwa im Wohnungbau, wo die Genfer Büros mangels Gelegenheit offensichtlich aus der Übung gekommen sind (vgl. S. 28).

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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