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db deutsche bauzeitung 01-02|2014
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Fast alles unter einem Dach

Überdachung am »Bahnhofplatz Süd« in Winterthur (CH)

Komplexe Sichtbezüge und eine komplizierte Leitungsführung im Untergrund erforderten eine außergewöhnliche Lösung. Das weit auskragende Dach über dem Bushof ruht auf einem einzigen Pylon, der als Ticketschalter fungiert. Städtebaulich überzeugt das Projekt, weil es die Platzfläche gliedert und wunschgemäß der Stadt einen zeichenhaften Auftritt verschafft – funktional wäre jedoch auch eine weniger aufwendige Lösung denkbar gewesen.

24. Februar 2014 - Hubertus Adam
Seit geraumer Zeit ist Winterthur von der Konkurrenz zum stets reicheren, mächtigeren und nur 25 km entfernten Zürich geprägt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dies v. a. im Bereich des Eisenbahnwesens sichtbar. Privatwirtschaftliche Kreise aus Zürich trieben den Bau einer Eisenbahnlinie in die Ostschweiz voran, und so erhielt Winterthur 1855 seinen ersten Bahnhof, der die historische Altstadt zum Missfallen der lokalen Entscheidungsträger von dem westlich anschließenden Industriequartier Neuwiesen abtrennte. Die Stadt favorisierte einen Standort im Südosten und investierte in die 1875 gegründete »Nationalbahn«, die als staatliche Bahn – und unter Umgehung von Zürich – eine Schlüsselstellung im internationalen Fernverkehr einnehmen sollte. Drei Jahre später war der Traum ausgeträumt: Die von Züricher Unternehmern finanzierte Nordostbahn erwarb das Streckennetz der Nationalbahn aus der Konkursmasse zu einem Spottpreis, die Stadt Winterthur befand sich am Rande des Bankrotts, der ungeliebte Bahnhof verblieb an Ort und Stelle.

Bis heute bereitet die seinerzeit von den Ingenieuren festgelegte Trassenführung der Stadt Probleme, welche durch den 2009 bewilligten Masterplan für die Neugestaltung des Bahnhofsbereichs zumindest teilweise abgemildert werden sollen. Neben einer besseren Verflechtung der Stadtteile diesseits und jenseits der Bahnstrecke umfasst dieser Plan auch die Neugestaltung des Bahnhofplatzes Süd. Dabei handelt es sich um die zentrale Zone des Bereichs zwischen Bahnhof und Altstadt, der sich in drei Teile gliedert und Richtung Süden trichterförmig weitet: den eigentlichen Bahnhofplatz zwischen Bahnhof und Post im Norden, den Bahnhofplatz Süd sowie den Archplatz entlang der Technikumstraße. Von einer konsistenten Abfolge von Plätzen lässt sich kaum sprechen, vielmehr handelt es sich um fast ungewollte Resultate von Planungen aus verschiedenen Zeiten, welche einen großen Freiraum im Zentrum von Winterthur haben entstehen lassen. Dieser dient als zentrale Verkehrsdrehscheibe für das Stadtbussystem und wird täglich von etwa 90 000 Personen frequentiert.


Bei dem Wettbewerb von 2008, an dem 30 Architekturbüros teilnahmen, ging es primär um Optimierung – nämlich der Aufenthaltsqualität, der Fußgängerströme, des Ein- und Umsteigens in die Busse. Daneben wünschte man sich an diesem Ort aber auch architektonische Markanz oder, um es mit den Worten des Auslobungstexts zu formulieren, eine »Visitenkarte der Stadt Winterthur«.

Starkes Signet

Als ginge es darum, ein möglichst breites Spektrum von Möglichkeiten aufzuzeigen, platzierte die Jury völlig heterogene Konzepte auf den vordersten Rängen. Während atelier ww den Freiraum nahezu vollständig überdeckte, beschränkte sich Jean-Pierre Dürig auf die Errichtung einiger abstrakt anmutender Einzelkörper; die Büros dform und urbaNplus entwickelten das Konzept an Bahnhofsperrons erinnernder, lang gezogener Dächer über den Wartebereichen. Den Zuschlag aber erhielt der Entwurf des ortsansässigen Büros Stutz Bolt Partner, der unter den Preisträgerprojekten dem Wunsch nach Zeichenhaftigkeit am meisten entgegenkam. Es handelt sich dabei um ein der Platzgeometrie folgendes trapezoides Dach, das aus einer exzentrisch positionierten raumhaltigen Stütze hervorwächst und seit der Publikation der Wettbewerbsergebnisse in Winterthur als »Pilz« bekannt ist. Der 7 m hohe Pfeiler steht auf einer Mittelinsel, welche die bahnhofsseitigen von den stadtseitigen Busspuren trennt. Er bietet – gut sichtbar – zu ebener Erde Raum für die Mobilitätszentrale (Ticketverkauf und Information) von »Stadtbus Winterthur«. Von hier aus führt eine Treppe hinab in das nicht öffentlich zugängliche UG mit kleinen Aufenthaltsbereichen für die Busfahrer. Das urbanistische Kalkül der Architekten ist überzeugend: Zur Stadt hin wahrt die Pilzkrempe Abstand, um der historischen Bebauung nicht die Schau zu stehlen, während sie auf der Westseite nahe an die nicht eben als architektonische Preziose erscheinende Fassade eines Warenhauses heranrückt und im Süden der Flucht der Bahnunterführung folgt. Die Disposition wird sich vollends erklären, wenn einst die Bushaltestellen vor der Stadtkante mit ihren temporären Überdachungen aufgehoben sein werden.

Die exzentrische Anordnung des Pfeilers liegt aber auch im Wunsch begründet, die historische Achse der Marktgasse, der Hauptfußgängerzone von Winterthur, nicht zu verstellen. Daraus resultierten Auskragungen der radial angeordneten, die Dachkonstruktion bildenden Stahlträger von bis zu 34 m. Dies führte nicht nur zu dem erheblichen Materialbedarf von 300 t Stahl, sondern erzwang auch eine unterirdische Stabilisierung mit weit ausgreifenden Fundamentfingern. Erst im Verlauf der Planung zeigte sich die Komplexität des Vorhabens, denn die Tiefbauarbeiten waren durch ein dichtes Gewirr aus Leitungsführungen für Kanalisation, Elektrizität, Gas und Wasser hindurchzuführen. Dennoch nahmen sämtliche Arbeiten nur ein Jahr in Anspruch, sodass der Pilz Ende Juni 2013 eingeweiht werden konnte.

Die Oberseite ist mit Glas eingedeckt, die Unterseite, die Dachkanten und der Pfeiler wurden mit einer homogenen Struktur aus gelochtem, silbrig-grau schimmerndem Aluminiumblech umkleidet. Die Löcher verschiedener Größe lassen eine filigrane Textur entstehen, die semantisch neutral ist und keinen Rapport erkennen lässt. Tagsüber fällt Sonnenlicht durch das Dach und nimmt ihm seine lastende Monumentalität; abends sorgen in die Dachuntersicht eingelassene Downlights für eine angenehme Beleuchtung, welche die Verkehrsdrehscheibe aber nicht über Gebühr in Szene setzt. Das Metall verstehen die Architekten als Reverenz an die Schwerindustrie, die Winterthur über lange Jahrzehnte bestimmt hat.

Mit dem Pilz haben sich Architekten und Stadt für einen sinnvollen Mittelweg entschieden: Er ist kräftig genug, um mögliche Verrümpelung durch weitere Stadtmöblierung zu ertragen, verwandelt den südlichen Bahnhofsvorplatz aber nicht in einen Innenraum, wie es mit einer großflächigeren Überdachung geschehen wäre. Gewisse funktionale Einschränkungen – bei ungünstigem Regeneinfall verspricht die Ostseite nur bedingt Schutz – waren zu tolerieren, wollte man die Dachfläche nicht noch weiter vergrößern. Eine geringere Höhe kam aufgrund der Oberleitungsbusse nicht infrage. Natürlich wäre es auch einfacher gegangen, und so muss man sich am Ende fragen, ob eine kleinteilige Lösung mit einzelnen Haltestellenüberdachungen nicht doch eine sinnvolle – und kostengünstigere – Alternative gewesen wäre. Dem Wunsch nach der »Visitenkarte« entspricht der markante Pilz indes mehr.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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