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TEC21 2014|24
Jugoslawische Moderne
TEC21 2014|24
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Heterogenität und Egalitarismus

Mit dem Untergang Jugoslawiens verblasste das Wissen um seine Architektur. Forschung und Theorie nehmen den Faden wieder auf und durchleuchten die einzigartigen gesellschaftlichen Grundlagen.

13. Juni 2014 - Maroje Mrduljaš
Die Architektur des ehemaligen Jugoslawien ist weitgehend unbekannt. Zwar beginnt sich die Fachwelt allmählich dafür zu interessieren, aber eine architekturhistorische Einordnung der Epoche steht noch aus; es existiert keine umfassende Würdigung oder Synthese. Selbst die offizielle «innere Sichtweise» der Nachfolgestaaten erschöpft sich in nationalen Chroniken und monumentalen Monografien einzelner Architekten. Ein Grund dafür mag sein, dass die Aufarbeitung der politischen Vergangenheit ebenfalls noch aussteht: Die Baukultur jener Zeit ist ebenso eng an die Verdienste des Sozialismus geknüpft wie an seine gebrochenen Versprechen. Die Beschäftigung mit der gemeinsamen Architektur würde auch einen unbequemen Blick zurück auf eine kollektive Utopie bedeuten, die in einem Krieg endete.

Die Populärkultur hat eine eigene Sichtweise auf Jugoslawien gefunden. Ihr Fokus ist «exotisierend», wobei häufig die zerstörten Denkmäler des antifaschistischen Kampfs und der sozialistischen Revolution gezeigt werden. Ihres Kontexts beraubt, werden die bildhaften Bauten herumgereicht wie die Artefakte einer längst verschwundenen Zivilisation. Auf der anderen Seite findet der akademische Diskurs meist abgeschottet unter Fachleuten statt. Dabei spielen die spezifischen Umstände des selbstverwalteten Sozialismus in Jugoslawien eine entscheidende Rolle – in ökonomisch-politischer wie auch in kultureller Hinsicht. Zudem bewegt sich eine Schar junger Forscher an den Rändern der Mainstreamkultur. Sie untersucht mit viel Leidenschaft das Erbe der urbanistischen Erneuerung und ihre Auswirkungen auf die heutige Zeit. Architektur und Urbanismus des ehemaligen Jugoslawien werden bisher also aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet.

Wie aber lassen sich die Zusammenhänge zwischen Baukultur und Politik unter den ökonomisch-sozialen Bedingungen des selbstverwalteten Sozialismus beschreiben?

Die Vorkriegszeit

Den Modernismus absorbierte Jugoslawien noch während der 1920er- bis 1930er-Jahre, da viele Architekten in den damaligen Epizentren der Kultur verkehrten: Paris, Wien, Berlin, Prag. Auf dem polytechnischen Modell aufbauend, betrieben Belgrad, Zagreb und Ljubljana eigene Architekturschulen. Im Lauf der 1930er-Jahre wirkte ein Zweig des CIAM unter dem Namen «Arbeitsgruppe Zagreb», geleitet von Ernest Weissmann, einem Mitarbeiter – und später erbitterten Kritiker – von Le Corbusier. Eine ganze Kolonie jugoslawischer Architekten arbeitete bei Le Corbusier; einige unter ihnen wurden zu treibenden Kräften der Nachkriegsarchitektur in Jugoslawien, etwa Edvard Ravnikar aus Ljubljana, Juraj Neidhart aus Zagreb, der seine Karriere später in Sarajewo fortführte, oder Milorad Pantovic´, der in Belgrad wirkte. Die Mehrheit der modernistischen Architekten der Vorkriegszeit war politisch links orientiert und gesellschaftlich engagiert. Viele unter ihnen – erwähnen wir nur Nikola Dubrovic´, den ersten Planer von Neu-Belgrad – nahmen am antifaschistischen Kampf während des Zweiten Weltkriegs teil und genossen dadurch das Vertrauen der neuen politischen Nomenklatur. Folglich war die Architekturszene gut auf den politischen und kulturellen Kontext vorbereitet, den der Sozialismus ihnen brachte.

Bauen im selbstverwalteten Sozialismus

Unmittelbar nach dem Krieg gehörte Jugoslawien zu den treuesten Verbündeten der UdSSR. Grosse, zentralisierte Büros leiteten die Planungen, und eine kurze Debatte um den Sozrealismus flammte auf. Doch 1948 folgte der Bruch mit Stalin, und Jugoslawien trat aus dem Ostblock aus. Bereits 1950 wurden die Grundlagen für den «selbstverwalteten Sozialismus» gelegt, ein spezifisches sozio-politisches Projekt, das Elemente direkter Demokratie und politischer Dezentralisation aufnahm. In der Kultur wurde die Freiheit des Ausdrucks propagiert, und mannigfache Formen moderner Kunst und Gestaltung entwickelten sich rasant während der 1950er-Jahre.

Dieser Prozess begleitete auch die Modernisierung des alltäglichen Lebens, worin die Erweiterung der Städte eine entscheidende Rolle spielte und die während der 1960er-Jahre ihren grossen Aufschwung erlebte. Auch wenn man nicht behaupten kann, dass es eine staatliche Doktrin hin zum Modernismus gegeben hätte, so wurde dieser doch zunehmend zum symbolischen Ausdruck für ein System, das sich authentisch gab, offen und progressiv. Dies illustrierte insbesondere der Pavillon von Vjenceslav Richter für die Expo 1958 in Brüssel. Das elegante Gebäude aus Glas und Stahl hatte keine Türen, sondern empfing seine Besucher mit einer grenzenlosen «Total design»-Umgebung.

Vielgestaltige Architektur

Bereits zu Beginn der 1950er-Jahre nahm die Zahl der zentralisierten Büros ab, und es wurden kleinere, unabhängige Ateliers gegründet. Ein Teil der Büros war mit Bauunternehmen verbunden; interdisziplinäre und von den Teilstaaten geführte urbanistische Institute nahmen ihre Arbeit auf; Hochschulprofessoren bearbeiteten konkrete Bauaufgaben an ihren Lehrstühlen. Diese Vielfalt an Arbeitsformen brachte Dynamik in die Szene. Ausser Montenegro führten alle Bundesstaaten Architekturschulen, die einen eigenständigen Zugang zur Baukultur lehrten. Die Protagonisten der Teilstaaten tauschten sich mit unterschiedlichen internationalen Strömungen der Architektur aus, während sich gleichzeitig ein Dialog mit der lokalen Bautradition und Kultur entwickelte. Slowenien pflegte Beziehungen zu skandinavischen Ländern, Kroatien mit den niederländischen Vertretern des Team X, in Sarajewo untersuchte Juraj Neidhart die Möglichkeiten, die osmanische Tradition mit modernistischen Raumkonzepten zu verschmelzen, in Belgrad war Bogdan Bogdanovic´ Teil des surrealistischen Kulturkreises. Die mazedonischen Architekten standen in unmittelbarem Kontakt zu Kenzo Tange, Alfred Roth und der polnischen Gruppe TIGER, die sich nach dem verheerenden Erdbeben von 1963 zusammen mit jugoslawischen Architekten am Wiederaufbau von Skopje beteiligten – das zu einer architektonisch kosmopoliten «globalen Stadt» wurde.

Inmitten dieser Vielgestaltigkeit kann man unmöglich von einer «jugoslawischen» Architektur sprechen. Vielmehr waren die autonomen Strömungen der Ausdruck selbstbewusster jugoslawischer Kulturkreise an der Nahtstelle zwischen Ost und West und weit mehr als die blosse Reflexion globaler Bewegungen. Davon zeugt unter anderem die Weisse Moschee von Zlatko Ugljen in Visoko (BiH), 1983 mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet, die auf wunderbare Weise modernistische Poesie mit den Metaphern des Islam verbindet.

Freiheiten in der gelenkten Wirtschaft

Nach den Wirtschafts- und Bankreformen Mitte der 1960er-Jahre entstand ein Hybrid aus Plan- und Marktwirtschaft, was sich direkt auf die Bautätigkeit auswirkte. Zum Beispiel erleichterte die staatliche Kontrolle über den Boden – der nicht dem Staat gehörte, aber dennoch als kollektives Gut betrachtet wurde – grosse Stadterweiterungen wie Neu-Belgrad und Neu-Zagreb, und sie garantierte die Gleichbehandlung in der Verteilung von Wohnungen. Das «Recht auf eine Wohnung» bildete ein wichtiges Element der sozialen Fürsorge. Die Kräfte des Markts wiederum beeinflussten die Qualität der Architektur, denn jede Baufirma entwickelte ein eigenes System für den Wohnbau, was monotone Wohnviertel verhinderte.

Für den Massentourismus, der sich ab Mitte der 1960er-Jahre zu einem bedeutenden Industriezweig entwickelte, war Architektur ein entscheidender Bestandteil des Angebots. Die Adriaküste ist übersät mit Hotels, die zu den weltweit bedeutendsten Vertretern ihrer Typologie gehören. Die jugoslawischen Architekten arbeiteten in einem Umfeld, in dem sie weitgehende gestalterische und programmatische Freiheit genossen, solange dies mit den verfügbaren Ressourcen in Einklang stand.

Die Planung im grossen Massstab hat den Wandel von einem landwirtschaftlich geprägten Staat zu einer modernen Gesellschaft ermöglicht. Sie sicherte einer Vielzahl von Bürgern die soziale Infrastruktur und ein zeitgemässes Leben auf annehmlichem Niveau. In diesem Sinn war die sozialistische Urbanisierung eine zivilisatorische Aufgabe mit dem Ziel gesellschaftlicher Gleichberechtigung. Nichtsdestotrotz verliefen Raumplanung und Städtebau selten ideal. Sie mussten ihren Weg finden zwischen utopischen Ambitionen, den pragmatischen materiellen Möglichkeiten und bürokratischen Hürden. Doch in einigen Fällen, die stark von der Fähigkeit der lokalen Eliten und dem mikropolitischen Klima abhängen, wurden feinfühlige und international relevante Resultate erzielt.

Ein glaubwürdiges Beispiel dieser Synergie zwischen Ökonomie, Stadtverwaltung und Architektur bildete die Stadterweiterung von Split, bekannt unter dem Namen «Split 3», wo die unterschiedlichen jugoslawischen Architekturszenen zusammentrafen. Den Masterplan erarbeitete ein slowenisches Team unter Braco Mušic´, Marijan Bežovan und Nives Starc, während die Ausarbeitung lokale Architekten wie Ivo Radic´, Frane Gotovac und Dinko Kovacˇic´ übernahmen. In diesem Projekt, das eine Fussgängerzone mit Megastrukturen verbindet, gelang die Synthese einer ganzen Bandbreite internationaler Tendenzen: von der Kritik am Modernismus einer Jane Jacobs bis hin zu metabolistischen Konzepten. Doch bleiben diese Einflüsse nicht reine Zitate: Split 3 integriert die Lektüre der historischen Altstadt ebenso wie die lokale Bautradition.

Post mortem

Die Bewohner des ehemaligen Jugoslawien leben auch heute noch zu einem grossen Teil in einer «sozialistischen Stadt», besuchen Schulen und Krankenhäuser, die in der Ära des Sozialismus erbaut wurden. Die Tourismusindustrie nutzt nahezu ausschliesslich Hotelkomplexe aus den frühen 1970er-Jahren, die auch für die lokale Bevölkerung ein grosses Angebot und öffentliche Räume bieten. Lang wurde der Begriff «sozialistisch» abwertend gebraucht, doch die Bürger erkennen langsam die Vorteile der Planstadt mit ihren grossen öffentlichen Plätzen und funktionalen Grundrissen – so mausert sich zum Beispiel Neu-Belgrad zu einem begehrten Wohnort.

Längst vorbei sind die Zeiten, als Jugoslawien in Zusammenarbeit mit UN-Behörden Millionen in Regionalpläne zu einer nachhaltigen Entwicklung der Adriaküste steckte. Verschwunden ist die labile, aber immerhin rationale Zusammenarbeit zwischen politischen Eliten, urbanistisch-architektonischer Fachwelt und Investoren. Die Planungsämter wurden gezielt geschwächt, oder sie zerfielen während des Transitionsprozesses. Deshalb werden die Städte heute nicht mehr von Fachleuten geplant, sondern von Developern, die mit der klientelistischen Politik zusammenspannen – was sich verheerend auf die gebaute Umwelt auswirkt. Das deregulierte, neoliberale Modell der Stadtentwicklung ist zwar kein Spezifikum Post-Jugoslawiens, aber es steht dort in scharfem Kontrast zur unmittelbaren Geschichte. Urbanisten und Architekten suchen noch nach Möglichkeiten, innerhalb dieses Rahmens operativ zu werden. Die Architektur hat als isolierte Disziplin überlebt, und in Slowenien sowie Kroatien konnten sich eigenständige Szenen etablieren, die das modernistische Erbe weiterführen. Auch in den anderen Folgestaaten gibt es Büros, die die Errungenschaften der Moderne hochhalten – allerdings mit geringen Chancen, diese auch umzusetzen.

Eine interessante Entwicklung ist das gesellschaftliche Engagement zum Schutz modernistischer Stadtstrukturen. An der Diskussion um das «Recht auf die Stadt» und im Protest gegen ungerechte Stadtplanungen in Belgrad, Zagreb und Skopje entfacht sich ein aktiver architektonischer Diskurs. Gleichzeitig werden dadurch die Mechanismen der Zivilgesellschaft und der Bürgerbeteiligung gestärkt, die in dieser Region noch in den Kinderschuhen stecken. Das urbanistische Erbe der Moderne in Jugoslawien zeigt seine langfristigen Effekte und infiziert vielleicht wie ein Virus auch folgende Generationen – mit der romantischen Vorstellung von Architektur als Allgemeingut.


[Maroje Mrduljaš, Architekt und Kritiker, Redaktor der Zeitschrift «Oris» und Leiter der Forschungsplattform «Unfinished Modernisations»
Übersetzung aus dem Kroatischen: Marko Sauer]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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