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TEC21 2014|26-27
Kalkbreite: Ein Stück Stadt in Zürich
TEC21 2014|26-27
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Lebensraum­generator

Der genossenschaftliche Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich demonstriert, welches Potenzial für das nachhaltige Bauen im Mix aus Wohnen, Arbeiten und Gemeinschaft liegt. Seine Lebensqualität teilt er mit dem Quartier.

27. Juni 2014 - Ruedi Weidmann
Das Areal war eine schwarze Perle: 6350 m² städtischer Boden im dichten Zürcher Quartier Aussersihl, auf dem nur nachts ein paar blaue Züritrams schliefen. Kein Wunder, weckte dies bei Zürichs notorischem Mangel an günstigen Wohnungen schon vor Jahrzehnten den Wunsch nach einer Wohnüberbauung. Doch die Rahmenbedingungen waren komplex. Das Dreieck liegt in der Gabelung von Badener- und Kalkbreitestrasse, zwei lauten Strassen mit Tram- und Buslinien, und nach Süden hin am Seebahngraben, in dem die SBB-Linie Zürich–Thalwil verläuft. Dies dämpfte den Enthusiasmus der Stadtbehörden. Es zeigte sich auch, dass die Verkehrsbetriebe (VBZ) auf den Abstellplatz im Stadtzentrum angewiesen waren. Eine Wohnsiedlung musste also mit einer Trameinstellhalle kombiniert werden. Eine Motion im Gemeindeparlament verlangte 2003 von der Stadtregierung, Grundlagen für kommunale, allenfalls genossenschaftliche Wohn- und Gewerbebauten zu erarbeiten.

Urbanes Graswurzelprojekt Doch wer sollte das Projekt realisieren? In Zürich begann man zu merken, dass eine Wohnsiedlung Läden und Restaurants braucht, wenn ein Stück Stadt und nicht ein monofunktionaler Pendlerpol entstehen soll. Damit wurde das Vorhaben definitiv so komplex, dass es jede traditionelle Genossenschaft überfordert hätte. Doch da kam Hilfe aus dem Quartier. Bewohnerinnen und Bewohner gründeten im Frühling 2006 den Verein Kalkbreite mit dem Ziel, das Areal zu übernehmen. Laien und Profis aus verschiedenen Berufen entwickelten in öffentlichen Debatten eine starke Vision für eine zeitgemässe Überbauung. Mit dabei waren Leute aus den Genossenschaften Dreieck und Karthago, die Erfahrungen mit innovativen Wohnformen und aus einem erfolgreichen Stadtreparaturprojekt mitbrachten (TEC21 6/2006, S. 11–14). Die Gruppe wollte einen Baustein für eine sozial und ökologisch nachhaltige Stadt entwickeln und dem Baugeschehen insgesamt Impulse verleihen. Sie beschränkte sich nicht auf technische Lösungen, sondern suchte möglichst konsequent nach dem Potenzial, das in gemeinsam genutzten Räumen, neuen Wohnformen und der innovativen Kombination von Nutzungen steckt. Nicht allein die neue Siedlung sollte davon profitieren, sondern das Quartier als Ganzes.

So konkretisierte sich die Vision von einem integralen Lebensraum, einem Stück Stadt mit hoher Lebensqualität, das nicht von vornherein auf eine komplementäre Ergänzung durch andere Quartiere und weit entfernte Landschaften angewiesen ist. Dieses Programm führte weg von der überholten Idee der «Wohnbaugenossenschaft» hin zur Wohn- und Gewerbegenossenschaft. Weil eine Genossenschaft keinen finanziellen Gewinn abwerfen muss, kann sie eine grosse funktionale und soziale Komplexität organisieren und verwalten. Der Verein forderte keck die Abgabe im Baurecht an eine Genossenschaft, da die Aufgabe für die Stadtverwaltung zu anspruchsvoll sei.

Die Stadt liess sich das gefallen und schrieb das Gelände im Herbst 2006 im Baurecht aus, behielt sich aber vor, selbst zu bauen, falls der Baurechtnehmer an der Aufgabe scheitern sollte. Der Verein Kalkbreite gab sich die Form einer Genossenschaft und erhielt ein Jahr später das Areal zugesprochen. Es war eine mutige Entscheidung der Stadtregierung, das Gelände einer Genossenschaft anzuvertrauen, die noch kein Projekt realisiert hatte.

Gemeinsam zum Wettbewerbsprogramm

Das ehemalige Wirtshaus «Rosengarten» an der prominentesten Ecke wurde Geschäftssitz der Genossenschaft. Zu ihrer breiten Vernetzung lancierte sie ein Veranstaltungsprogramm, das im Quartier rasch be-liebt wurde und bis heute andauert. Die «Intendanz Rosengarten» organisiert seither allerhand Veranstaltungen, die das Leben in der Stadt thematisieren und es zugleich bereichern.

Die Vorgaben und das Raumprogramm für den 2009 durchgeführten offenen Projektwettbewerb erarbeitete die Genossenschaft in Workshops mit interessierten Genossenschaftsmitgliedern und in Abstimmung mit den VBZ sowie dem städtischen Amt für Hochbauten. Die Anforderungen an die Architekturschaffenden waren höher als üblich. Um alle zu erfüllen, waren Erfindungen nötig. Es galt, Wohnungsgrössen für Haushalte von einer bis zu fünfzig Personen zu planen und höchste energetische und ökologische Ziele zu erreichen. Die Lärmbelastung war auf allen Seiten hoch, die Stützenstellung der Tramabstellhalle musste berücksichtigt werden, auf ihrem Deckel sollte ein öffentlicher Raum entstehen. Und nicht zuletzt war ein passendes Gesicht für die umtriebige junge Genossenschaft gesucht. Das Zürcher Architekturbüro Müller Sigrist gewann die Konkurrenz im Team mit Dr. Lüchinger Meyer Bauingenieure, Zürich (TEC21 25/2009, S. 8–9). Die Landschaftsarchitektur stammt von der Freiraumarchitekten GmbH aus Luzern. Unterdessen begannen die VBZ als zweite Bauherrin mit der Vorarbeit für die Tramhalle, die als erste Etappe mit Baubeginn 2009 zu realisieren war.

Kosten, Finanzierung und Termine

Die Projektierung des Baus samt Trameinstellhalle kostete 6 Mio. Franken. 2 Mio. schoss die Stadt aus dem von ihr nur teilweise beanspruchten Projektierungskredit vor, 2 Mio. brachte die Genossenschaft über private Darlehen und Anteilscheine auf, die zu einem guten Teil von anderen Genossenschaften gezeichnet wurden, 2 Mio. steuerte eine Bank bei. Der Voranschlag sah Anlagekosten von 63.7 Mio. Franken vor (BKP 1–9). Die Landkosten entsprechen den von der Stadt geleisteten Vorinvestitionen und werden mit dem Baurechtszins abgegolten. Die Finanzierung konnte definitiv gesichert werden, nachdem der Gemeinderat 2011 dem Baukredit für die Tramhalle zugestimmt hatte und das Baurecht im Grundbuch eingetragen war.

Die Genossenschaftsmitglieder konnten sich auch an der Weiterentwicklung des Bauprojekts periodisch beteiligen. Dadurch flossen weitere Vorschläge und Ideen ein, und die Pläne wurden dem kritischen Blick potenzieller Nutzerinnen und Nutzer ausgesetzt. So identifizierten sie sich stärker mit dem Ort und engagierten sich mehr für das Vorhaben. Als erstes Teilprojekt erneuerten die VBZ Ende 2010 die Gleisanlage. Die Bauarbeiten am Gebäude begannen im Januar 2012.

Wohnen – Arbeiten 240 : 150 Der Neubau ist eine Art Hofrandbebauung; der Hof liegt auf dem Dach der Tramhalle. Der Baukörper mit seiner einprägsamen polygonalen Form nimmt ebenso selbstbewusst wie selbstverständlich seinen Platz im Stadtraum ein. Auf der Nordseite ist er achtstöckig, er überbrückt die Ein- und Ausfahrten für die Trams und sinkt auf der Südseite bis fast auf die Höhe des Hofs ab. So scheint die Sonne in den 2500 m² grossen Hof. Er ist von der Strasse her über eine breite, durch das Haus hindurchführende Treppe erschlossen und dient als öffentlicher Erholungsraum. Ab dem zweiten OG auf Ebene des Hofs und in den darüberliegenden bis zu vier Geschossen sind die 97 Wohneinheiten in 55 Wohnungen für 240 Personen untergebracht, in den unteren beiden Stockwerken entlang der Badener- und Kalkbreitestrasse die 25 Gewerbebetriebe und Büros mit rund 150 Arbeitsplätzen.

Günstige Mieten, ein breites Angebot an WG-, Familien-, Paar- und Singlewohnungen, eine sorgfältige Vermietung und die Zusammenarbeit mit der Stiftung Domicil, die günstige Wohnungen an Leute mit kleinem Budget vermittelt, fördern eine breite soziale und altersmässige Durchmischung. Kleinwohnungen sind zu Clustern mit grossem Gemeinschaftsraum und Küche gruppiert, ein Grosshaushalt mit etwa 20 Wohnungen und 50 Personen unterhält eine Grossküche samt Speisesaal und Köchin. Über das Gebäude verteilt gibt es ausserdem «Jokerräume»: Einzelzimmer, die zu einer Wohnung hinzugemietet werden können.

Kleine und mittelgrosse Läden, dazu Gastrobetriebe beleben das Erdgeschoss entlang der Strassen und an der Treppe zum Hof. Sie machen die Ecke zu einem neuen Zentrum im Quartier. Die Neugass Kino-AG eröffnet das Kino Houdini mit fünf kleinen Sälen und einer Bar, gleich daneben liegen ein Gemüseladen und das grosse Café Bebek, dazu die Pension Kalkbreite mit elf Gästezimmern, zwei weitere Bars, ein Blumenladen und diverse Boutiquen. Eine Kinderkrippe, eine Hausarztpraxis und das Geburtshaus Delphys runden das Angebot ab. Im ersten und im zweiten Obergeschoss haben sich nebst kleineren Dienstleistern die Alternative Bank und Greenpeace Schweiz eingemietet.

Rue intérieure als verbindendes Element

Die im Wettbewerbsprogramm formulierte Aufgabe, die diversen Wohnformen und das vielseitige Raumprogramm miteinander zu verknüpfen, lösten Müller Sigrist mit einer inneren Erschliessungskaskade, die sich als Rue intérieure durch das gesamte Haus zieht. Sie beginnt in der Eingangshalle am Hof, verbindet auf verschiedenen Geschossen Kleinwohnungscluster mit Gemeinschaftsräumen und führt auf die gemeinschaftlichen Terrassen. Diese sind über Freitreppen miteinander verbunden, sodass ein Rundlauf durch und über die ganze Siedlung und rund um den Hof entsteht.

33 Quadratmeter sind genug, wenn ...

Die Genossenschaft Kalkbreite versteht Nachhaltigkeit als zwingenden Bestandteil aller Phasen von der Planung über den Bau bis zum Betrieb. Für alle drei Phasen hat sie einen Katalog mit Zielen in den Bereichen Ökonomie, Ökologie und Soziales erarbeitet, die zusammen mit den Planungsprofis und den Mieterinnen und Mietern umgesetzt werden. Im Unterschied zu den meisten Bauten mit Energielabel wird das Resultat hier auch tatsächlich gemessen, und das externe Monitoring empfiehlt bei Bedarf korrigierende Massnahmen.

Beim Flächenverbrauch pro Kopf zu sparen ist wohl der effektivste Beitrag, den der Bausektor an eine nachhaltige Entwicklung leisten kann. An der Kalkbreite nutzt eine Person inklusive der 300 m² nicht zumietbarer Gemeinschaftsräume durchschnittlich 33 m² Wohnfläche (Schweiz: ca. 50 m², Zürich: ca. 40 m²). Dank den vielen Gemeinschaftsräumen ist dies ohne Verzicht auf Lebensqualität möglich. Gästezimmer, Büroarbeitsplätze, Schulungs- und Sitzungsräume, die Eingangshalle mit Caféteria, ein Waschsalon und eine Pension entlasten die Wohnungen von nur sporadisch anfallenden Nutzungen. Ausserdem ist der Anteil von Wohnungen hoch, die von mehreren Personen bewohnt werden.

Der Standard Minergie-P-Eco galt als minimaler Zielwert. Die Vorgaben werden vor allem durch den gut gedämmten Gebäudekörper und die geringe Eigenverschattung erreicht. Die wenige Wärme, die zugeführt werden muss, holt eine Wärmepumpe aus dem Grundwasser. Vier nachgeschaltete Wärmepumpen erzeugen das warme Brauchwasser; dabei hilft auch die Abwärme der gewerblichen Kühlanlage und vom Gemeinschaftstiefkühler. Eine Photovoltaikanlage liefert einen grossen Teil des von der Wärmepumpe und den Lüftungsanlagen verbrauchten Stroms. Das gesamte Gebäude verfügt über Komfortlüftung mit Wärmerückgewinnung. Das Regenwasser wird für die Bewässerung der Dachterrassen gesammelt, der Rest versickert unter dem Gebäude. LED-Leuchten, Bestgeräte, Wasserspararmaturen und ein zentraler «Strom aus»-Schalter minimieren den Wasser- und Stromverbrauch in allen Räumen. Die Genossenschaft hat die baulichen Voraussetzungen für die 2000-Watt-Gesellschaft geschaffen, motiviert die Mieterinnen und Mieter aber auch zu einem schonenden Umgang mit Ressourcen. Die Kalkbreite ist eine autofreie Siedlung. Wer hier wohnen möchte, muss auf ein eigenes Auto verzichten, wer hier arbeitet, kommt ohne. Mit dem Tram im Haus und an dieser zentralen Lage lag das nah. Statt einer Tiefgarage gibt es ebenerdige Garagen für über 300 Velos.

Grünes Wohnzimmer fürs Quartier

Die Aussenflächen auf den Dächern, im Hof und auf den Trottoirs sind zentral für die integrativen Ziele des Projekts. Geht es nach dem Wunsch der Genossenschaft, soll die Terrasse über der Tramhalle im Sommer zum Wohnzimmer des an Freiflächen armen Quartiers werden. Die halböffentlichen Dachterrassen dienen den Bewohnerinnen und Bewohnern, die sie mitgestalten und pflegen. Schon in der Planungsphase legte die Genossenschaft einen temporären Garten an, der zum Labor des gemeinschaftlichen Gärtnerns wurde. Eine Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder wünschte sich in einer Umfrage, auch künftig gemeinsam gärtnern zu können. Eine Terrasse wird darum zum Urban-Gardening-Areal mit Hochbeeten.

Service-Wohnen trotz günstigen Mieten

Die wichtigste Voraussetzung für eine soziale Durchmischung und eine sozial nachhaltige Integration ins Quartier sind günstige Mieten. Eine 100-m2-Wohnung kostet rund 2000 Fr./Monat netto, der Grundpreis für Büros und Ateliers inklusive technischen Grundausbaus liegt zwischen 250 und 300 Fr./m2 im Jahr. Für einen Neubau in der Zürcher Kernstadt ist das ausserordentlich günstig. Wer an der Kalkbreite einziehen will, muss Anteilscheine zum Preis von 260 Fr./m2 kaufen. Das macht pro Person zwischen 6000 und 11 000 Franken. Dank einem Solidaritätsfonds kann dieser Beitrag aufgeschoben oder verkleinert werden.

Trotz tiefen Mieten – wer an der Kalkbreite wohnt oder arbeitet, kann Serviceleistungen in Anspruch nehmen, wie sie bisher nur weit teurere Residenzen anbieten: In der am Innenhof gelegenen, grosszügigen Eingangshalle für die Bewohnerinnen und Bewohner befindet sich die Réception. Der Desk ist ganztags besetzt; die «Deskjockeys» kümmern sich um Betrieb und Unterhalt des Gebäudes, betreuen das Reservationssystem für Gästezimmer und Arbeitsplätze und bieten daneben Hilfen im Alltag an.

Die Mitbestimmung dauert an. Acht Arbeitsgruppen haben Regeln für den Betrieb und Nutzungskonzepte für die Gemeinschaftsräume erarbeitet. Dabei entstanden der «Gemeinrat», die monatliche Mieter- und Mieterinnenversammlung, sowie das «Gemeinwerk» zur Koordination der freiwilligen Aktivitäten.

Aus dem Mix an günstigen Wohnungen, Gemeinschaftsräumen, kulturellen Angeboten, sozialen Einrichtungen, Läden und Restaurants resultieren ein höchst urbaner Ort und eine hohe Lebensqualität, von der nicht nur wenige Mitglieder, sondern das Quartier und die Stadt Zürich profitieren. Diese erhält damit einen grossen Gemeinnutzen für den günstigen Baurechtszins, den sie der Genossenschaft gewährt.

Ohne GU flexibel bis zur Bauabnahme

Die Genossenschaft arbeitet ebenso visionär wie professionell. Für die Mitwirkung schuf sie in allen Phasen geeignete, effiziente Strukturen. Beeindruckend ist, dass sie das Projekt zusammen mit dem Architekturbüro Müller Sigrist ohne Generalunternehmen durchzog und selber eine zweiköpfige professionelle Projektleitung stellte. Dadurch wahrte sie sich viel Flexibilität während der Ausführung und konnte noch spät neue Materialien wählen, wie das massive Eichenholz in den Küchen, oder auf Wünsche der Mieter eingehen und Wohnungen zusammenlegen. Der Endausbau ist dem Zeitplan zurzeit einen Monat voraus, die Kosten werden vermutlich rund 1 Mio. Franken unter dem Budget bleiben. Die Wohnungen, Läden und Büros werden seit April etappenweise bezogen; am 22. und 23. August steigt das Eröffnungsfest.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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