Zeitschrift

TEC21 2015|15
Spiel mit dem virtuellen Raum
TEC21 2015|15
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Perspektivenwechsel

Guido Berger, Leiter der Digitalredaktion vom SRF, erläutert, wie Spieler zu Architekten werden, wie sie Regeln erkunden, neue Welten bauen und welche Spielperspektiven es gibt.

8. April 2015 - Guido Berger
Gamedesigner sind die Architekten einer Fantasiewelt. Sie bauen die Bühne, auf der wir spielen. Sie vermitteln mit ihren Bauten Geschichten und Stimmungen. Sie lenken unseren Blick und spuren unseren Pfad vor.

Im Spiel «Mirror’s Edge» ist dieser Pfad rot markiert. Das Spiel handelt in einer dystopischen Zukunft von einem totalitären Regime, das sämtliche Informationen überwacht und kontrolliert. Und von Parkour, der Sportart, die Treppen, Brüstungen, Brücken und Unterführungen als Spielplatz nutzt und damit die Erwartungen ihrer Errichter subversiv unterläuft (vgl. «Lasst die Architekten spielen!», S. 27).

Die Hauptfigur Faith rennt und springt durch eine gleissend helle, weisse Betonstadt. Auch Faith ist subversiv, auf der Flucht vor dem Regime, auf Botengängen mit gestohlener Information. Und doch nicht: Denn die Freiheit des Sports Parkour ist in «Mirror’s Edge» nur Illusion. Wenn wir auf Balken, Geländer oder Kranmasten zurennen, färben sich diese dynamisch rot ein, um uns zu signalisieren, dass wir dort weiterkommen. Wo sich nichts rot einfärbt, ist kein Weg. Wir erfüllen damit die Absicht der Designer, statt uns darüber hinwegzusetzen – die freie Entscheidung ist eigentlich nur die einer kleinen Auswahl. Dennoch versetzt uns das Spiel in einen «Flow»-Zustand: Wenn wir die Lauf- und Sprungtechnik meistern, gleiten wir durch diese Stadt, fast widerstandslos, atemberaubend schnell, euphorisch. Das ist eine zentrale Stärke von Games: Sie vermitteln uns das Gefühl von Kompetenz.

Bei Games wie «Mirror’s Edge», die wir alleine spielen, ist dies oft eine Illusion: Sie fordern uns, wir müssen einen Widerstand überwinden, aber nicht so sehr, dass wir aufgeben.

Von Monstern, Hütten und Ziegen

In Games, die wir online mit oder gegen andere spielen, ist das anders: Dort ist echte Kompetenz gefragt. Wir spielen in «Fifa» Fussball, erobern in «League of Legends» die gegnerische Basis oder liefern uns in «Call of Duty» wilde Schiessereien. Alle gegen alle oder in Teams: Es siegt, wer härter trainiert, besser zusammenarbeitet, mehr Talent hat. Diese Games folgen im Gegensatz zu Einzelspielergames selten einer Geschichte – nicht die Handlung ist die treibende Kraft, sondern der Wettkampf, das Können und der Status der Spieler.

Der Blick auf diese Spiele ist rein funktional: In strategischeren Spielen wie Fussball oder einer Fantasyschlacht blicken wir aus der Vogelperspektive auf das Spielfeld. Nicht so, wenn das Spiel actionlastig ist: Die Kamera sitzt dann im Kopf des Soldaten oder des Rennfahrers, das ist die sogenannte First-Person- oder Ego-Shooter-Perspektive. Wir verschmelzen mit der Spielfigur, die nicht mehr als ein Platzhalter für uns ist. Soll eine Hauptfigur stattdessen mehr Gewicht erhalten, wählen Spieldesigner die Third-Person-Perspektive: Die Kamera löst sich von der Spielfigur und folgt ihr mit einigem Abstand. Das ermöglicht, den Blick der Spieler gezielt zu lenken und die Kamera dramaturgisch zu führen. Der Spielerblick wird zum Beispiel von der Strasse gerissen und auf das sich in einer Superzeitlupe überschlagende Auto des Gegners gerichtet oder auf die anstürmende Lawine im Rücken – im richtigen Moment geschickt geführt, erzeugt die Kamera Emotion. Spielen ist schon lang mehr als Hüpfen und Schiessen. In den letzten Jahren haben wir in «Dragon Age: Inquisition» Drachen bekämpft, in «Threes» Dreier- potenzen kombiniert, sind Skateboard gefahren in «OlliOlli» oder um die Welt gereist in «80 Days», haben eine Ziege simuliert in «Goat Simulator» und ein verwirrendes Büro erkundet in «The Stanley Parable». Entsprechend vielfältig sind die Spielenden geworden. In der Schweiz liegt der Frauenanteil bei 44 Prozent und nimmt weiter zu.

Gamer sind nicht nur Kinder: Die Hälfte der spielenden Schweizerinnen und Schweizer sind zwischen 25 und 44 Jahre alt. Ungefähr die Hälfte der Europäer zwischen 16 und 64 spielen ab und zu, ein Viertel mindestens einmal pro Woche. Je breiter das Publikum, desto breiter die Inhalte, vielfältiger die Genres, unterschiedlicher die Spielsysteme. Die Kernziele des Mediums bleiben aber gleich: Neben der bereits erwähnten Erfahrung von Kompetenz geht es darum, eine Welt zu entdecken. Einerseits im übertragenen Sinn – ein Set von Regeln erkunden, austesten, begreifen, ausnutzen – und andererseits natürlich wörtlich: für eine Weile die reale Welt verlassen und in eine Fantasiewelt eintauchen.

Und manchmal geben uns Games auch ein Werkzeug in die Hand wie im Überraschungshit «Minecraft», einer Welt aus Kuben, die wir erkunden oder beliebig zusammenbauen können. Am Anfang ist eine kleine Hütte, in Panik aus Dreck und Gras zusammengekleistert, um geschützt vor Monstern die Nacht zu überstehen. Am Ende sind Gruppen mit Dutzenden von Spielern, die gemeinsam gewaltige Städte bauen. Das Spiel lässt uns selber zu Architekten werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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