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TEC21 2017|11
Beton, exponiert
TEC21 2017|11
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Gefalteter Monolith

Der Erweiterungsbau des Landesmuseums Zürich ist gewagt und im ingenieurspezifischen Sinn alles andere als sperrig. Schnetzer Puskas Ingenieure liessen sich auf die architektonische Intention ein und schufen ein räumliches Tragwerk für den expressiven Baukörper. Möglich machte dies der Werkstoff Beton.

Die Umbauarbeiten am Landesmuseum Zürich auf der Halbinsel zwischen Limmat und Sihl hinter dem Hauptbahnhof haben einen Meilenstein erreicht: Nach 15 Jahren Ausschreibung, Wettbewerb[1], Planung, Vor- und Bauprojekt sowie Ausführung ist der fünfgeschossige Erweiterungsbau von Christ & Gantenbein Architekten seit Juli 2016 eröffnet. Die in Grund- und Aufriss mehrfach geknickte Erweiterung dockt an den Bestand von 1898 an und schliesst den U-förmigen Haupttrakt des Altbaus von Gustav Gull. Sie behebt den Platzmangel des Museums – Ausstellungsflächen, eine Bibliothek und ein Auditorium für öffentliche Veranstaltungen finden darin Platz – und ermöglicht erstmals einen Rundlauf durch alle Ausstellungsräume.

Fugenloses Fassadenkonzept

Während den Altbau eine historistische, feingliedrige Fassade auszeichnet, prägen grossflächige, wuchtig anmutende und schlichte Sichtbetonfassaden den Neubau. Diese sind weitgehend geschlossen, denn die Ausstellungsräume gegenwärtiger Museen benötigen kaum natürliches Licht. Einzig Bandfenster in der nordöstlichen Gebäudeecke und 69 Rundfenster, die einzeln und gruppiert in allen Ansichten angeordnet sind, durchbrechen die Fassade. Die Bandfenster zeigen, wo die Bibliothek platziert ist. Als Einschnitte in den geschlossenen Kubus sind sie vorab als Aussparungen in die Schalung eingelegt worden. Die Rundfenster lassen erahnen, wo sich der Neubau im Innern erschliesst. Sie wurden nachträglich als Kernbohrungen in die Fassade gebohrt und lassen punktuell die Sicht von innen nach aussen – weniger von aussen nach innen – zu.

Die Fassaden sind monolithisch und damit fugenlos erstellt. Um eine solche Wandfläche mit einer abgewickelten Länge von 103 m (Seite Landesmuseum) bzw. 162 m (Seite Park) erstellen zu können, ist ein ausgeklügeltes konstruktives Prinzip erforderlich. Normalerweise nehmen in regelmässigen Abständen angeordnete Dilatationsfugen die Verformungen der Wände auf. Die Bewegungen werden auf diese Weise klein gehalten. Allerdings bedingen direkt bewitterte Fugen einen hohen Unterhaltsaufwand und sind ein ästhetischer ­Störfaktor. Deswegen ist die selbsttragende, 21 cm dicke Aussenhaut der zweischaligen Aussenwand durch die 33 cm dicke Isolationsschicht hindurch an die tragende 25–40 cm starke Innenwand rückverankert.

Die Verformungen, die aus relativ hohen Temperaturschwankungen von –10 bis 30 °C entstehen, werden mit geschaffe­nen Bewegungsfreiräumen aufgefangen. Die Aussenhaut verschiebt sich horizontal auf Gleitlagern. Nur lokal sind Fixpunkte platziert (vgl. Abb.). Die gegen innen oder gegen aussen springenden Fassadenecken sind nicht verankert. Hier «pumpt» die Aussenhaut, da sie sich beidseitig der Ecken infolge Temperaturschwankungen, Schwinden und Kriechen ausdehnt und zusammenzieht. Um diese Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, ist die Isolationsschicht an den Gebäudeecken 6 cm dünner ausgeführt. Im Freiraum zwischen Betonwand und Dämmung bewegt sich die Fassade.

Spezieller Beton – eigene Verantwortung

Aus dem Fassadenkonzept erschliesst sich die Betonrezeptur, denn die entstehenden Zwängungen und Verformungen bedingen bestimmte Betoneigenschaften, wie beispielsweise einen Wasser/Zement-Wert von < 0.45 bzw. ein Schwindmass von < 0.4 0/00. Daneben musste mit der Betonrezeptur auch eine konkrete Farbe erreicht werden, denn so sehr sich die historische Bruchsteinfassade und die neue Fassade strukturell voneinander unterscheiden, verbindet vor allem ihre Farbgebung und eine gewisse Rauheit in der Oberfläche die beiden Gebäudeteile miteinander. Der Tuffstein des historischen Bruchsteinmauerwerks findet sich deshalb in der neuen Fassade wieder. Er wurde dem Beton zusammen mit Kalk beigemischt, um ihm die Farbe der historischen Bausubstanz zu geben.

Allerdings war die Beimengung nicht ohne Weiteres möglich. Aufgrund der vulkanischen Gaseinschlüsse ist Tuff häufig porös und saugt Wasser. «Es ist daher schwierig», so Heinrich Schnetzer von Schnetzer Puskas Ingenieure aus Basel, «mit einem solchen Zuschlag Beton herzustellen, denn er hat für die Betonher­stellung ungeeignete Eigenschaften.» Tuff entzieht dem Beton vor und während dem Abbinden Wasser. Dadurch ist die Betonmischung schlecht verarbeitbar, und der Wasser/Zement-Wert und damit das Schwindmass werden unkontrollierbar. Ausserdem schleifen sich die weichen Gesteinskörner beim Mischen ab und verändern ihre Korngrösse – ein gut abgestuftes Korngerüst für ein kompaktes Volumen wird unmöglich.

Für eine monolithische Fassadenkonstruktion wie die am Erweiterungsbau des Landesmuseums sind diese Aspek­te aber ­zentral. Erst ein eineinhalb Jahre andauernder Entwick­lungs­prozess inklusive Prüfungen und Fassadenmuster auf der Baustelle ergab die richtige Rezep­tur (Tuff­stein-Beton C 25/30 nach Zusammen­setzung). Der Clou war vor allem, den Tuff vorab zu nässen und ihn wassergesättigt in die Betonmischung einzubringen. Für diesen Beton nach Zusammensetzung trugen die Ingenieure die volle Verantwortung, denn die Ausschreibung konnte nicht wie gewohnt mit Expositionsklassen, sondern musste wie früher nach Rezeptur erfolgen. Dank seiner jahrelangen Erfahrung in der Baupraxis und in der Beton-Werkstoffforschung an der ETH Zürich konnte Heinrich Schnetzer diese Verantwortung übernehmen.

Die Betonrezeptur musste noch vor der Ausschreibung – bevor der ausführende Baumeister bestimmt war – mit einem Betonlieferanten definiert werden. Dass dieser den Auftrag nicht erhalten könnte, war ein reales Risiko, das in diesem Fall tatsächlich eintraf. Mit dem neuen Lieferanten wurde der Wasser/Zement-­Wert bei jeder Lieferung überprüft. Für die richtige Konsistenz zum Einbringen und Vibrieren sorgten wie üblich und je nach Bedarf Verzögerer, Stabilisatoren, Luftporenbildner und Verflüssiger.

Grundwasser, Schotter und Moräne

Besondere Anforderungen an den Beton waren im Untergeschoss erforderlich, da es sich grösstenteils im Grundwasser befindet (die Gründungssohle liegt etwa 2.5 m im Grundwasser) und als weisse Wanne ausgeführt wurde. Geplant und umgesetzt wurde nur ein Untergeschoss, da die Baukosten so vor allem bezüglich Baugrubensicherung und Auftriebssicherheit während der Bauphase reduziert werden konnten. Der Baugrubenabschluss bildete eine rückverankerte Spundwand mit einer Länge von etwa 16 bis 20 m. Sie durchstösst im oberflächennahen Bereich den sehr durchlässigen Schotter und darunter, in einer Tiefe von etwa 12 bis 16 m, die mässig durchlässigen Seeablagerungen, die wiederum auf den Moränen der letzten Eiszeit liegen. Die Spundwand wurde in die Seeablagerung und teilweise in die Moräne eingebunden.

Das funktionale statische System erkennen

Der architektonische Ausdruck und das Tragwerk der Erweiterung bedingen sich grundsätzlich gegen­seitig: Der räumliche Körper setzt somit auch ein ­räumliches Tragwerk voraus. Schnetzer Puskas Ingenieure stiessen erst während des Vorprojekts zum ­Planungsteam hinzu. Sie verstanden es, für den mäand­rierenden Bau das zweckmässige und angemessene statische System festzulegen. Gerade in einem solchen Fall ist die Analyse, das heisst das gedankliche – nicht digitale – Zerlegen des Tragwerks in seine wesentlichen Komponenten unter Berücksichtigung des gegenseitigen Zusammenwirkens, unentbehrlich.

Heinrich Schnetzer betont denn auch: «Das richtige statische System für einen Bau zu finden setzt voraus, dass der Ingenieur ganzheitlich Bescheid weiss über das räumliche Zu­sammenwirken von einzelnen Tragelementen und über den tragwerkspezifischen Kraftfluss. Nur mithilfe ­dieses analytischen Vorgangs lassen sich die wesent­lichen bauwerksspezifischen Eigenschaften der Tragwerkselemente erarbeiten und für die Konzeption des Tragwerks optimal verwenden.» Nach der Analyse kann das Bauwerk im Sinn einer Synthese als Ganzes betrachtet und auch mit den digitalen Hilfsmitteln ­berechnet werden.

Die Leistungsfähigkeit einer einfachen, aber das Wesentliche erfassenden Tragwerksanalyse lässt sich am Beispiel der Verbindung vom bestehenden Hof in den Park aufschlussreich zeigen. Der brückenartig ausgebildete Neubaukörper mit der torförmigen Öffnung ermöglicht diese Verbindung und ist ein zentrales Element des architektonischen Entwurfs. Seine Tragwirkung zu definieren und seine Tragelemente zu dimensionieren waren wesentliche Ingenieuraufgaben.

Die Wirkungsweise der 46 m weit spannenden Brückenkonstruktion lässt sich auf zwei substanzielle Elemente abstrahieren: eine gefaltete Platte als stützen­der Sockel – der eigentliche «Torbogen» – und die Wandscheiben (vgl. Abb.). Die beiden 45 und 27 Grad geneigten Druckplatten des «Torbogens» sind an ihren Füssen über die Decke des Untergeschosses miteinander verbunden. Diese Untergeschossdecke als Bodenplatte in der Verbindung zum Park ist vorgespannt und funktioniert statisch als Zugband. Die Decke ist somit Raum­abschluss und Tragelement zugleich.

Die Druckplatten bilden zusammen mit dem Zugband ein Dreieck, das ein Kräftegleichgewicht herstellt und die Fassadenscheiben stützt. Gleichzeitig steifen die hohen Scheiben die Druckplatten aus, sodass diese relativ dünn ausgebildet werden können. Die Firstlinie bzw. der Stützpunkt der beiden Druckplatten reduziert die Spannweiten der Fassadenscheiben um etwa die Hälfte und damit die Schnittkräfte auf ein Viertel. Dadurch können auch die Wandscheiben relativ schlank ausgebildet und trotz scheibenartiger Träger teilweise aufgelöst bzw. perforiert werden.

Anschluss ohne Kraftübertragung

Nicht ganz offensichtlich ist auch die Tragwirkung des Erweiterungsbaus an seinen Enden bzw. seinen Anschlussstellen an die bestehende historische Substanz. An dieser Stelle treffen markant unterschiedliche Gebäudeteile aufeinander – hier die einheitliche und grossflächige neue Wand, dort die feingliedrige historische Altbaufassade.

Beidseitig dockt die Erweiterung zwar wie eine Landungsbrücke am West- und Ostflügel des bestehenden Baus an. Doch weil die bestehende Bausubstanz und ihre Fundation nicht für zusätzliche Lasten ausgelegt sind und um aufwendige Verstärkungsmassnahmen im Altbau zu verhindern, überträgt der Neubau keine Lasten: Der flach mit partiellen Vertiefungen fundierte Massivbau, der durch die Betonscheiben der Aussen-, Treppen- und Liftwände horizontal ausgesteift ist, steht grundsätzlich nur auf zwei Füssen und kragt gegen den Altbau beidseitig aus – am einen Ende mit einer Auskragung, die einen zweiten Durchgang kreiert, am anderen Ende – weil so kurz – nur im statischen System sichtbar.

Aus ingenieurkon­struktiver Sicht schmiegt sich der Neubau also behutsam an den Bestand. Und ebenso bedacht werden die Kräfte aus der Auskragung in die dahinterliegenden Tragelemente weitergeleitet: Die Gebäudeform des Neubaus mäandriert. Einzelne Gebäudevolumen reihen sich abgewinkelt aneinander. Auch die auskragenden Enden sind über die Fassadenscheiben abgewinkelt am folgenden Gebäudeteil eingespannt. Der Knick verursacht im Zug- und im Druckbereich der vertikalen Scheiben Ablenkkräfte. Es ist nicht sinnvoll, diese Kräfte über Biegung abzutragen. Effizienter ist die Rückverankerung des Knicks bzw. die Kraftumlenkung mittels horizontaler Scheiben. Dazu dient im Zugbereich die Dachscheibe und im Druckbereich eine Deckenscheibe. Die horizontalen Kräfte bzw. das Kräftepaar in den Scheiben ist zugleich die Torsionseinspannung des abgeknickten und auskragenden Gebäudeteils. Es wird über Wandscheiben oder Kerne gekoppelt und schliesst so den Kräftefluss zu einem Gleichgewicht.

Intention verwirklichen

Mit diesem gekonnten Umgang der Kräfte zeigt sich die Effizienz des Tragwerks, das zugleich Teil der Architektur ist. Die Ingenieure bedienen sich der architek­tonisch ohnehin vorhandenen Elemente und dimen­sionieren sie statisch effizient. Ob Flaggschiff oder Felsenriff, reizvoll oder brachial – das Landesmuseum ist aus ingenieurspezifischer Sicht eine besondere, behutsame und vor allem auch kreative Ingenieurarbeit. Aus ihr entwickelte sich eine Beton-Tragkonstruktion, die zusammen mit der Betonrezeptur die architektonische Intention verwirklicht.


Anmerkung:
[01] TEC21 33-34/2002, S. 44–45.

Weiterführende Literatur (Auswahl):
«Einweihung des Schweiz. Landesmuseums. Rede des Herrn Stadtpräsidenten Pestalozzi», in: Schweizerische Bauzeitung, 2. Juli 1898, S. 1–2.
«Der Entwurf von Architekt Gustav Gull für ein Schwei­zerisches Landesmuseum in Zürich», in: Schweizerische Bauzeitung, 6. Dezember 1890, S. 142–144.
Sanierung Altbau: TEC21-Dossier «Sanierung Landesmuseum», Dezember 2008.
Roman Hollenstein, «Ein graues Felsenriff. Kritische Anmerkungen zur Erweiterung des Landes­museums», in: Neue Zürcher Zeitung, 24. 9. 2016.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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