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db deutsche bauzeitung 09|2017
Rückzugsorte
db deutsche bauzeitung 09|2017

Konzentration auf die Kunst

Zentrum für Gegenwartskunst »Nairs« in Scuol (CH)

1. September 2017 - Hubertus Adam
Die Mineralquellen von Scuol-Tarasp im Unterengadin sind seit Jahrhunderten bekannt, schon Paracelsus erwähnte sie im Jahr 1533. Ihre eigentliche Nutzung begann Mitte des 19. Jahrhunderts – zu einer Zeit also, da die Schweiz nicht mehr ausschließlich von touristischen Pionieren, sondern von einer sich stetig vergrößernden Zahl von Besuchern aus dem bürgerlichen Milieu bereist wurde. Der St. Galler Architekt Felix Wilhelm Kubly errichtete auf dem Gelände des früheren Gut Nairs tief im Tal am Ufer des Inns das dreiflügelige Kurhaus (1861-65), eine Dekade später entstand am jenseitigen Ufer die mit einer überkuppelten Rotunde versehene Trinkhalle. 1912-13 folgte nahe der Innbrücke und damit zwischen Kurhaus und Trinkhalle das neue Badehaus mit den Wannenbädern, ein Werk der in St. Moritz ansässigen Architekten Koch und Seiler. Im Badehaus, das zur Flussseite hin dreigeschossig, auf der Landseite zweigeschossig in Erscheinung tritt, befanden sich auf dem Niveau des Hauptgeschosses beidseits des zentralen Vestibüls die Abteilungen mit den Wannenbädern für Männer und Frauen; Ruhe­räume mit konvex zum Park ausschwingenden Fassaden bildeten den seitlichen Abschluss.

Das OG diente spezialisierten Anwendungen wie Hydrotherapie, elektrischen Applikationen sowie Inhalationen. Koch und Seiler verwirklichten einen funktionalen und streng symmetrischen Bau mit giebelbekrönter Mittelpartie und landseitig vorgelagerter Pfeilergalerie im EG, der dem zeittypischen Neoklassizismus folgt.

Neues Leben

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann der langsame Niedergang. Zunächst blieben die zahlungskräftigen Gäste aus, dann wandelte sich das Tourismusverhalten. Der sportliche Aktivurlauber schließlich erging sich nicht mehr in den Tiefen des Inntals. Für das Badehaus brach eine neue Zeit an, als der Züricher Kunstförderer Henry Levy mit seiner Stiftung Binz39 die Liegenschaft erwarb und 1988 damit begann, sie im Sommer Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung zu stellen: Für konzentriertes Arbeiten ist Nairs, das an den öffentlichen Verkehr nicht angeschlossen und vom Endbahnhof ­Scuol-Tarasp in einer guten halben Stunde zu Fuß zu erreichen ist, ein idealer Platz. Ein festeres Fundament erhielt das Kulturzentrum im Jahr 2005: Levy, Christof Rösch – seit 1999 künstlerischer Leiter und Kurator der Institution – und die »Pro Engiadina Bassa« gründeten die Stiftung »Fundaziun Nairs«. Seither fungiert Nairs als »Zentrum für Gegenwartskunst« und dient nicht wie zuvor ausschließlich als temporärer Wohn- und Schaffensort für Künst­lerinnen und Künstler aus der ganzen Welt. Zwei unterschiedliche Funktionen verbinden sich: die des Künstlerhauses, eines Orts der Konzentration mit einem eher intimen Charakter, und die eines öffentlichen Kulturzentrums, das allen Besuchern offensteht und über das Tal hinaus ausstrahlt.

Auch wenn Nairs eine Erfolgsgeschichte darstellt und mit seinen Initiativen das abgelegene Tal belebt, so erwiesen sich doch zwei Faktoren als hinderlich: Zum einen die Tatsache, dass das historische Badehaus keine Heizung besaß und sich daher nur während des Sommers bespielen ließ. Zum anderen das der historischen Nutzung des Gebäudes geschuldete Fehlen von adäquaten Ausstellungs- und Veranstaltungsräumlichkeiten.

Jetzt ist das historische Badehaus, ein Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung, in Abstimmung mit der kantonalen und nationalen Denkmalpflege ­saniert und für einen ganzjährigen Betrieb umgebaut worden. Christof Rösch und Urs Padrun, die Architekten des Umbaus, haben ihr Konzept, das auf ­vordergründiges Spektakel verzichtet, ganz aus dem Bestand heraus entwickelt. Padrun gehört seit Langem dem Stiftungsrat an, Rösch der Geschäftsführung; beide kennen das Haus in allen Details, wissen um die Anforde­rungen der heutigen Nutzung und waren für eine behutsame Sanierung daher die ideale Besetzung. Denkmalpflegerischer Substanzerhalt war eines der Ziele des ­Projekts, sodass die Interventionen am Äußeren kaum in Erscheinung treten. Lediglich der Mittelrisalit musste vollständig neu aufgemauert werden, um dem Haus sein ursprüngliches Gesicht wiederzugeben.

Platz schaffen

Angelpunkt des Umbaus ist das UG des Badehauses, das ursprünglich technischen Zwecken diente: der Westflügel und der Mittelteil als Wäscherei, der Ostflügel als Schlosserwerkstatt und Kesselhaus.

Das UG ist bergseitig über die gesamte Gebäudelänge durch einen etwa 3 m breiten Kaltraum unterhalb des Pfeilervorbaus vom Hang getrennt. Dank der Luftzirkulation hat dieser Zwischenbereich das Gebäude vor Feuchtigkeit bewahrt und damit maßgeblich zu dessen Erhalt beigetragen. Im Zuge der ­Sanierung wurde die einsturzgefährdete Mauer über eine Länge von 48 m entfeuchtet und teilweise durch Betonstützen gesichert, Drainagen unterhalb ­einer Kiesschüttung leiten das Wasser ab.

Vom Foyer im EG führt eine neu geschaffene halbkreisförmige Treppe hinunter in das untere Foyer, das sich über drei Türen, welche die vorher hier vorhandenen Fenster ersetzen, zu einer kleinen Terrasse zum Fluss hin öffnet. Die stählernen Unterzüge der Kappendecke und die Stützen zeigen die historische Tragwerksstruktur. Der Westflügel wurde auf dieser Ebene vollständig entkernt und zu einem multifunktionalen Veranstaltungsraum umgebaut. Drei bestehende Pfeiler gliedern den Saal in einen schmaleren Bereich, der sich zum Fluss hin orientiert, und einen breiteren zum Hang. Je nach Bedarf kann der Saal im Ganzen bespielt werden oder in diverse Kojen und Raumbereiche unterteilt werden; schwarze Vorhänge erlauben je nach Wunsch die Verdunklung. Wie im ganzen Haus bleibt der historische Baubestand sichtbar, die Ergänzungen treten zurückhaltend, aber klar und prägnant in Erscheinung. Im Ostflügel des UG sind Atelierräume entstanden, die auch als Ausstellungsflächen genutzt werden können, die rückwärtigen Bereiche dienen als Lagerflächen. Nutzungen, die nicht in den bestehenden Räumen untergebracht werden konnten, sind in Form einer Schicht hölzerner Einbauten in den bisherigen Kaltluft-Bereich zwischen Nordwand und Hang ausgelagert: Lagerräume, Garderoben, Toiletten und eine kleine Küche.

Im Zuge der energetischen Sanierung wurde das UG mit einer Fußboden­heizung versehen, während in den Geschossen darüber, in denen die historischen Böden zu bewahren waren, Radiatoren zum Einsatz kommen. Eine Wärmedämmung unterhalb des Estrichs, Isolierverglasungen in den erhaltenen Fensterprofilen und die Innendämmung der Außenwände zur Bewahrung der historischen Fassaden waren weitere Bausteine des auf einer Pellets-Heizung basierenden Energiekonzepts.

Privat und öffentlich

Bildet das UG zusammen mit den Foyer- und Treppenhausbereichen das neue Zentrum der öffentlichen Nutzung, so sind die Seitenflügel der oberen Geschosse den Künstlern vorbehalten; öffentliche Bereich und die eher privaten Arbeits- und Rückzugsorte sind nach der Sanierung klar voneinander getrennt. Ateliers und Schlafräume reihen sich entlang der Korridore; die größten Ateliers befinden sich an den beiden Stirnseiten des OG. Neu entstanden sind eine große Küche sowie vier Bäder, die an die Tradition des Hauses anknüpfen, aber zeitgemäß materialisiert sind.

Die Büros der Verwaltung befinden sich im EG des Ostflügels, während eine Küche an der Südwestecke mitsamt dem zum Speisesaal umgenutzten ehemaligen Ruhezimmer als Treffpunkt und kommunikatives Zentrum für die temporären Bewohnerinnen und Bewohner fungiert. Die Böden aus Keramikplatten wurden im ganzen Haus erhalten bzw. ergänzt, die Farbfassungen, so nachgewiesen und vorhanden, bewahrt; ansonsten bestimmt neutrales Weiß die Innenräume. Eine Fassadensanierung samt Rekonstruktion der historischen Farbigkeit bleibt aus Kostengründen der Zukunft vorbehalten.

Christof Rösch und Urs Padrun demonstrieren mit ihrem Umbau, wie sich ein historisches Gebäude unprätentiös neuen Funktionen anpassen lässt. Die Abstimmung mit der Denkmalpflege war nicht immer einfach: Die Entfernung eines Pfeilers, um die Flexibilität des Veranstaltungssaals zu erhöhen, wurde untersagt, dafür aber konnten sich die Architekten mit ihrer Forderung durchsetzen, ein Fenster in der westlichen Stirnseite in eine Tür umzuwandeln, um von der Küche aus einen Ausgang ins Freie zu schaffen. Die Architekten haben so viel an Neutralität und Multifunktionalität geschaffen wie nötig und so viel an Geschichte bewahrt wie möglich. Der informelle Charakter überzeugt, bildet ­eine ideale Arbeitsatmosphäre, und die Stipendiaten sind zufrieden.

Noch ist die Gestaltung der Umgebung nicht abgeschlossen; ein neuer Investor, angeblich aus Griechenland, baut derzeit das benachbarte Kurhaus um. Derweil haben sich Christof Rösch und einige andere Akteure vor Ort einem weiteren Vorhaben verschrieben: der Sanierung der schräg gegenüberliegenden und vom Felsabbruch bedrohten Trinkhalle.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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