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db deutsche bauzeitung 10|2017
Stuttgart
db deutsche bauzeitung 10|2017

Stuttgart, deine Bauingenieure

Stuttgart: Wiege der Ingenieurbaukunst

Auf den Spuren der Ingenieurbaukunst besuchte unsere ­
Autorin Ursula Baus sieben Stuttgarter Bauingenieurbüros ­älterer und jüngerer Generation und sammelte bei ihnen Ideen für ein lebenswertes Stuttgart von morgen ein. Unbefangene ­Vorschläge frei von politischen Regularien und planeri­schen Zwängen.

2. Oktober 2017 - Ursula Baus
Stuttgart ist unbestritten ein geschichtsträchtiger Ort der Ingenieurbaukunst. Emil Mörsch, Fritz Leonhardt und Wolfhart Andrä, Frei Otto, Jörg Schlaich und Rudolf Bergermann, ­Peter und Lochner, Werner Sobek, Jan Knippers und Thorsten Helbig, Stephan Engelsmann, Thomas Auer und Matthias Schuler von Transsolar und die jüngere Equipe wie beispielsweise Michael Herrmann und Alexander Michalski vom Büro str.ucture – hier wirkt eine Dichte des who-is-who der Zunft, die es andernorts nicht gibt.

Wenn es irgendwo in der Welt kompliziert mit dem wird, was Bauingenieure zur Baukunst beizutragen haben, ruft man gern in Stuttgart an. Und wer in Stuttgart als Architekt baut, hat die Qual der Wahl, wenn es um exzellentes Zusammenarbeiten mit Ingenieuren geht.

Auch wenn der Fernsehturm von Fritz Leonhardt und Erwin Heinle zum Wahrzeichen gereift ist, der Killesbergturm und alle Brücken von Schlaich Bergermann von einzigartiger Ingenieurbaukunst zeugen und die hippen ­Automuseen für Mercedes und Porsche ohne diese nicht entstanden wären und auch, wenn es mit dem kleinen Haus B10 (Werber Sobek) in der Weißenhofsiedlung wieder eine energetisch relevante Pionierleistung anzuschauen gibt, so sieht man der Stadt die Segnungen konstruktiven Erfindergeistes an vielen Stellen kaum an und spürt keine Aufbruchsstimmung.

Schon Jörg Schlaich war vor Jahrzehnten – und das macht das Einzigartige aus, ohne je damit beauftragt worden zu sein – Pionier solarer Energiegewinnung. Auch sein einstiger Mitarbeiter Werner Sobek verschrieb sich diesem Anliegen. Aber damit, dass Ingenieurbaukultur zur Identität Stuttgarts ­beiträgt, identifiziert sich die Stadt nicht. Tübingen als Stadt Hölderlins, Pforzheim als Schmuckstadt und Stuttgart eine Stadt der Ingenieurbaukultur? Vielleicht möchte die Stadt diesen Ruf gar nicht, weil er sie zu mehr verpflichten könnte.

Ingenieure, Gesellschaft und Politik

Andererseits ist den Bauingenieuren – das zeigte sich in Gesprächen, die ich in sieben Ingenieurbüros geführt habe – durchaus bewusst, dass dem Berufsstand insgesamt Kreativität und Bereitschaft fehlen, sich in Diskussionen zur Stadtentwicklung einzumischen oder auch ungefragt Vorschläge zu erarbeiten, die öffentlich diskutiert werden sollten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Werner Sobek mischt sich auf vielen Ebenen in politische, gesellschaftsrelevante Diskurse ein, gründet Vereine und Stiftungen.

Durch sein berufspolitisches Engagement tauscht sich auch Stephan Engelsmann mit Kollegen anderer Disziplinen aus; er plädiert seit Langem dafür, dass ein kommunikativer Ort, eine Art Schaufenster für Architektur, Stadtentwicklung, Ingenieurbaukunst und Design gegründet wird. Zudem arbeitet er an der Neuauflage von Jörg Schlaichs »Ingenieurbauführer Baden-Württemberg«, der in dem Zuge um ein Drittel an Projekten und neue Rubriken erweitert wird.

Unisono wurden in den Gesprächen Reformen auch der Ingenieurausbildung gefordert, weil Ingenieurbaugeschichte, das Bewusstsein für eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung in der Lehre keine nennenswerte Rolle spielt – Ausnahmen sollten die Regel werden.

Handlungsbedarf und IBA

Denn in der Stadtentwicklung mit unerlässlicher Unterstützung der Bauingenieure steht eine immense Zeitenwende an. Nach einer im August 2017 veröffentlichten Umfrage des Statistischen Amts der Stadt Stuttgart nennen die Bürger als größte Probleme: 75 % zu viel Straßenverkehr, 73 % zu hohe Mieten, 67 % zu viele Baustellen, 59 % schlechte Luftqualität, 37 % zu hohe Lärmbelästigung. Hier zeigt sich die Dringlichkeit, mit der Stuttgart von und mit Bauingenieuren verändert werden müsste. Vergleiche mit Berlin seien erlaubt: 43 % der Befragten favorisieren, v. a. in den ÖPNV zu investieren. 29 % fordern mehr Geld für den Fahrradverkehr und 17 % für den Autoverkehr. (Quelle: Berlin Monitor, Civey)

Zugleich wird immer wieder anerkannt, dass sich Stuttgart in den letzten zwei Jahrzehnten auch zum Positiven verändert habe – ­atmosphärisch, weil viel mehr Menschen den öffentlichen Raum beleben. Noch sei auch der Charme der Topografie zu erkennen, der unter ökonomischem Druck extrem bedroht ist. Bemerkenswert dann aber doch: Wohl möchten viele junge Ingenieure in den Stuttgarter Büros arbeiten, aber nicht in Stuttgart, sondern lieber in Niederlassungen andernorts.

Alle Ingenieure sind sich der Probleme Stuttgarts bewusst und haben viel beizutragen, um die Stadt im Sinne der Lebensqualität, des Notwendigen und Modellhaften mit Einfallsreichtum und Risikobereitschaft zu entwickeln. Wo, wenn nicht in Stuttgart, wo Pioniere des Bauingenieurwesens und des Autobaus, außerdem vielfältig agierende Zulieferer zuhause sind, sollte eine Art Modellstadt für eine neue Mobilität und Stadtqualität in Angriff genommen werden? Jan Knippers und Achim Menges – Professoren an der Architekturfakultät der Uni –, erforschen und experimentieren nicht nur neue Material- und Konstruktionsweisen, sondern regen Interventionen an, mit denen Gewerbebetriebe auch in der Stadt gehalten werden könnten.

Manche Hoffnung auch der Ingenieure ruht auf der IBA, innerhalb derer sich u. a. die Ingenieurkammer engagiert. Dass sie dazu führt, Stuttgart zur international beachteten Modellstadt in umweltverträglicher Mobilität und neuem Zusammenwirken von Wohnen und Arbeiten reifen zu lassen, erwartet nach dem Fehlstart dieser IBA – noch – niemand.

Initiativen

Bis auf Leonhardt, Andrä und Partner waren alle Büros dabei, spontan und dadurch anregende, realisierbare Ideen für Stuttgarts Zukunft beizusteuern, ohne als weltfremde Utopisten abgekanzelt werden zu können. Bereits 2001 hatte Werner Sobek mit einem Vorschlag für die Überbauung der B14 – die »Kulturmeile« Stuttgarts zwischen Opernhaus und Museen – eine lange ­Diskussion aufgegriffen. Übrig blieb von seinen Ideen immerhin ein kleines Deckelchen über die B14, sodass Fußgänger und Fahrradfahrer einen überirdischen, angenehmen Weg durch den Verkehrsdschungel am Charlottenplatz finden können. Kleinmut und Regelungswut der Politik, so wird oft beklagt, degradieren den Erfindungsreichtum der Ingenieure nicht nur in der Landeshauptstadt beschämend. Bemerkenswert ist deswegen ein unbefangener Vorschlag des jungen Büros str.ucture, das sich auch in internationalem Rahmen forschend der Leichtbausparte widmet, für wandelbare Schirme auf der B 14.

Wandelbare Möblierung der B 14

Wandelbare Schirme könnten funkti­onal und mit zeichenhafter Wirkung den Aufenthaltscharakter an der Kulturmeile erheblich stärken. Die Schirme sollen als Landmarke auf der B 14 zwischen der Oper auf der einen und der Staatsgalerie auf der anderen Seite verortet werden. Wenn diese geöffnet sind, ordnet sich der Autoverkehr den Passanten unter (shared space). Der Straßenraum soll so Platz für »smarte Interventionen« bereitstellen, die Kultur in den öffentlichen Raum verlagern und die Zäsur, die durch den ­inneren Cityring entsteht, an dieser Stelle temporär aufheben.
http://www.str-ucture.com

Grünbrücke

Ergebnis der Studie ist ein Konzept für die weltweit erste leichte Grünbrücke in dieser Größenordnung. Damit könnte künftig die Autobahn A 8 bei Stuttgart überspannt werden. Der Clou: Eine bestehende 5 m breite Massivbrücke wird durch die Addition von zwei Seilnetzen auf eine Gesamtbreite von 45 m erweitert. Hierdurch lässt sich im Vergleich zur herkömmlichen überschüttenden Tunnelbauweise eine Massenersparnis von über 90 % erzielen. Diese Lösung schont den Geld­beutel der Bauherren und die Umwelt. Für Fußgänger, Radfahrer und Tiere eröffnen sich durch das neue grüne Tor der Stadt im wahrsten Sinne neue Wege.

Die für das leichte Flächentragwerk notwendige doppelte Krümmung der Oberfläche wird mithilfe von Druckbögen und Randseilen erzeugt. Eine über dem Seilnetz liegende Membrane bildet den Untergrund für den extensiven Vegetationsaufbau. Für eine ­homogene Untersicht von der Autobahn wird zwischen dem Randseil und der Bestandsbrücke eine zusätz­liche Membrane aufgespannt.
http://www.str-ucture.com

Mobilität und Stadtklima

Nahezu alle Stuttgarter Bauingenieure räumen einer Aufwertung des öffentlichen Raums und besserer Luft in Stuttgart nur Chancen ein, wenn Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor aus der Stadt ausgeschlossen und der Individual­verkehr ohnehin drastisch reduziert wird.

Mit Verboten – auch darin herrscht ­Einigkeit – gehe es nicht. Thomas Auer von Transsolar fordert klipp und klar: Nur wenn der ÖPNV enorm an Quantität und Qualität und damit Akzeptanz gewinnt, kann sich in Stuttgart etwas ändern. Gewiss implizieren diese ­Szenarien politische Entscheidungen, aber mit Konzepten, was zur Be­reicherung der Lebensqualität in Stuttgart geschehen kann, warten auch ­Bauingenieure auf.

Thomas Auer sieht dabei in Stuttgarts dezentralen Strukturen exzellente ­Entwicklungschancen – beispielsweise am Neckar-Hafen, wo modellhaft die Transformation der alten Industriestrukturen zu gut verträglichem Miteinander von Wohnen und Arbeiten gelingen könnte. Für die dicht bebauten, ­innerstädtischen Quartiere fordert er – der Klimaexperte – dringend viel mehr vernetzte Flächen für Pflanzen und Bäume, die für das schwierige Stadtklima unerlässlich seien.

»Die« Stuttgarter Ingenieurbautradition lässt sich kaum auf den Punkt ­bringen, weil sie sich dankenswerterweise mit oder besser noch: vor der Zeit vielfältig entwickelt. Es fehlt jedoch ein öffentliches Bewusstsein für die Bedeutung des Ingenieurbauwesens für die Transformation der Stadt – eine Aufgabe für die Politik und die Ingenieure selbst. Zu überlegen, wie die autogerechte Stadt zu transformieren ist, duldet allerdings keinen Aufschub mehr.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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