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Innenleben des Städtischen

Insideout – ein Tanztheaterstück von Sasha Waltz & Guests

8. September 2006 - Stephan Becker, Anh-Linh Ngo
Das Tanztheaterstück „insideout“ von Sasha Waltz kann als eine Parabel für das Leben in der Moderne gelesen werden. Dieses Leben, das Georg Simmel prototypisch in der Großstadt verwirklicht sieht, wirft permanent Fragen nach dem Verhältnis von historischem Erbe, Herkunft und Identität, gesellschaftlichen und individuellen Werten sowie deren Gegensätzlichkeiten und Widersprüche auf, die ganz spezifische Lebensstile und Identitäten prägen. Insofern lässt sich „insideout“ auch als Erzählung über die Stadt auffassen: das persönliche Leben als Triebfeder des Gemeinsamen, das in unzähligen Abmachungen immer wieder neu entstehen muss.

Dementsprechend waren der Ausgangspunkt des Stücks die autobiografischen Erfahrungen der einzelnen Mitglieder der Compagnie. In persönlichen Interviews konnten sich die Darsteller mit ihrer Herkunft und ihren Hintergründen in die künstlerische Entstehung des Stücks einbringen. Die Geschehnisse auf der Bühne folgen auf sehr persönliche Weise dieser Mikrohistorie und widersetzen sich in ihrer Vielfältigkeit der Vereinnahmung durch eine kohärente Erzählung. Folgerichtig entwickelt sich das Stück choreografisch zeitgleich in allen Räumen des Bühnenraums und der Fokus wird nur minimal geführt. Lediglich in der Ferne scheint es eine Dramaturgie zu geben, deren Auswirkungen wie Schockwellen in den Handlungen der Akteure sichtbar werden. Doch gerade durch diesen Abstand zum eigentlichen Ursprung treffen sich die Elemente und verdichten sich die Geschehnisse: Alles scheint nicht nur aufgrund willkürlicher Nähe, sondern durch subtile Bedeutungen verknüpft zu sein. So werden in den persönlichen Hintergründen der Schauspieler auch grundsätzliche Ideen vom Zusammenleben sichtbar und gerade im dichten Geflecht gegenseitiger Bezüge liegt das städtische Moment von insideout.

Das Fragmentarische und die Vielschichtigkeit des Lebens spiegeln sich in dem atmosphärisch dichten Bühnenkonzept von Sasha Waltz und Thomas Schenk. Die Intensität des Stücks entsteht somit auch aus dem Bühnenraum selbst, der analog zu den vielfältigen Erfahrungen der Darsteller eine Vielzahl von Räumen mit ganz unterschiedlichen atmosphärischen Qualitäten bietet. Gleich einem Flaneur durchwandert der Zuschauer die Raumbühne, die wie eine Stadt mit engen Gassen, Treppen, intimen Räumen und offenen Plätzen angelegt ist. So gibt es die Weite des Blicks, durch den die architektonischen Fragmente zu modernen Gebäuden zu werden scheinen, die dank großer Fenster Einblicke in ihre Innenräume gewähren. Zugleich verengt sich der Raum an anderer Stelle und wird fast dörflich in der Ansammlung kleinerer, verschlossener Objekte. Der Besucher ist eingeladen, sich das Geschehen selbst zu erschließen und sich frei zwischen der Architektur und den Darstellern zu bewegen.

Die unterschiedlichen räumlichen Konfigurationen wirken sich unterschiedlich auf die Rolle aus, die der Zuschauer dabei einnimmt: Der unbeteiligte Flaneur in den Gassen wird in den meist nur wenige Menschen fassenden Architekturen durch offene Schlitze und Fenster zum unerbittlichen Voyeur. In solchen Momenten wird er im Wortsinne der Eindringlichkeit seiner eigenen Rolle bewusst und die Grenze zwischen Anteilnahme, blasierter Gleichgültigkeit und schmerzhafter Intimität wird fließend: auch das ein zentrales urbanes Motiv. Trotzdem, die fast archetypischen Raumkonfigurationen bleiben niemals abstrakt, sondern bekommen in den biografischen Aspekten des Stücks und den Bewegungen der Darsteller eine große Unmittelbarkeit.

Die Nähe des Bühnenbildes zu tatsächlich gelebten städtischen Räumen ermöglicht den Besuchern immer wieder neue Zugänge, zwingt zugleich aber auch dazu, sich in Relationen zu diesen Konfigurationen zu setzen. Denn anders als sonst im Theater verschwindet der Besucher nicht in der Neutralität der Masse des Zuschauerraums, sondern bleibt Individuum, ohne dass das Stück zu einem peinlichen Mitmachtheater wird. Schnell entstehen so eigene räumliche Vorlieben und die Besucher beginnen in dem Wunsch, das Geschehen zu begreifen, ihre eigenen Choreografien zu entwickeln. Sie folgen mit der Architektur den Wechseln von innen nach außen, von privat und öffentlich, von Intimität und Offenheit. Im Zusammenspiel der intimen Komplexität der Stadtfragmente und den individuellen und persönlichen Bewegungen sowohl der Darsteller wie auch der Zuschauer entfaltet sich die große Wirksamkeit des Stücks, die darin besteht, für einen Moment die Dynamik unter der Oberfläche der üblichen Konventionen des städtischen Zusammenlebens spürbar zu machen.
[ Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Deutschen Beitrags zur 10.
Architekturbiennale in Venedig. Alle Rechte vorbehalten. ]

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Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngoberlin[at]archplus.net

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